"20.55 h" - oder "die erste Stunde vom Rest eines Lebens" - Thread XI

59. Kapitel

In Jim´s Bar – zur gleichen Zeit

„Okay“, stellte Tim fest und schaute gespannt in die Runde. „Jetzt, wo Tony in Kürze wieder seine reine Weste hat, haben wir endlich mehr Zeit, uns um Rebekka zu kümmern, richtig? Vance Ansage gilt doch immer noch, oder Boss?“

„Davon gehe ich aus“, antwortete Gibbs. „Ansonsten werde ich ihm morgen die Hölle heiß machen.“ Er knallte eines der Fahndungsfotos von Rebekka auf den Tisch. „Ich will, dass morgen hiervon so viele Kopien wie nur möglich angefertigt werden. Wir werden ausschwärmen und die Stadt damit plakatieren. Ich werde versuchen, Vance eine Belohnung für ihre Ergreifung abzuschwatzen, vielleicht bringt das ja die Leute zum Reden! Irgendeiner muss dieses Weibsstück doch seit ihrer Ankunft hier gesehen haben. Das gibt´s doch nicht, dass sie sich von jetzt auf gleich in Luft auflöst!“ Der Teamleiter redete sich in Rage und bei den letzten Worten piekte er mit dem Zeigefinger immer wieder auf Rebekkas Nase.

„Das grenzt ja an Körperverletzung“, unterbrach Ducky seinen alten Freund mit einem nachsichtigen Lächeln im Gesicht. „Wenn du nicht aufpasst, wirst du noch der Erste sein, der es schafft einer Person auf einer Fotografie die Nase zu brechen.“

„Oh, glaub mir Ducky, nichts würde ich lieber tun. Allerdings in der Realität“, knurrte Gibbs zwischen den Zähnen und blickte sich wieder um. „Was ist denn hier heute bloß los? Das dauert doch sonst nicht so lange“, meckerte er.

In diesem Moment kam Jim mit einem voll beladenen Tablett an den Tisch und stellte es mit einem Seufzer auf dem Tisch ab. „He, Leute, es tut mir wirklich leid, aber ihr seht ja, was hier los ist. Und ich bin mal wieder alleine.“ Der Ärger über diese Tatsache war ihm deutlich anzuhören.

„Schon gut“, meinte Ziva nachsichtig, während sie dem gestressten
Geschäftsführer half, die Gläser zu verteilen. „Was ist denn mit deiner neuen Kellnerin…mit dieser…wie hieß sie noch…Maureen, richtig?

„Oh Gott, frag´ nicht! Sollte die irgendwann noch einmal die Dreistigkeit besitzen, hier aufzutauchen, dann kann sie sich gleich die Papiere in meinem Büro abholen – liegt schon alles bereit“, antwortete Jim und zog im gleichen Augenblick die Augenbrauen zusammen, als sein Blick auf das Fahndungsfoto auf dem Tisch fiel. „Wer ist das?“, fragte er elektrisiert.

„Oh, das ist die israelische Terrorwanze, die DiNozzo so übel mitgespielt hat und ihn wohl nach wie vor um die Ecke bringen will“, plapperte Jimmy Palmer unbekümmert in den Raum hinein, was ihm umgehend einen strafenden Blick von Gibbs einbrachte, der ihn zusammenzucken ließ. „Was denn? Ist doch wahr?“, grummelte er trotzdem daraufhin leise vor sich hin.

„Jim? Stimmt was nicht?“, erkundigte sich Gibbs inzwischen bei Jim, der immer noch wie paralysiert auf das Bild starrte.

„Ich weiß nicht“, antwortete Jim und nahm das Bild in die Hand. „Wahrscheinlich spinne ich ja und sehe vor lauter Wut auf Maureen jetzt schon überall ihr Gesicht. Ehrlich, ich hätte nie gedacht, dass sie mich so hängenlässt! Dabei hat sie so einen guten Eindruck auf mich gemacht. Aber mal ehrlich: Ein bisschen ähnlich sieht diese Frau ihr doch schon, oder?“

„WAS?“ Hektisch griff Jethro nach dem Bild und riss es dabei Jim förmlich aus der Hand. Alarmiert studierte er noch einmal – wahrscheinlich zum 1000sten Mal – die Gesichtszüge der Gesuchten, während er gleichzeitig versuchte, sich an die neue Kellnerin von Jim zu erinnern. Zum Teufel, wer beachtete schon eine x-beliebige Kellnerin? Im Gedächtnis waren ihm eigentlich nur ein merkwürdiger Akzent und die roten Haare geblieben. „Jim, hast du ein Bild von ihr…von Maureen meine ich. Aus ihren Bewerbungsunterlagen vielleicht?“

„Nein.“ Bedauernd schüttelte der Barbesitzer den Kopf. „Eines Tages stand sie plötzlich hier in der Bar, erzählte eine tragische Geschichte und bat um einen Job. Da Mandy – du weißt schon, meine alte Kellnerin – sich von einem auf den anderen Tag nicht mehr hat sehen lassen, habe ich sie eingestellt – erst einmal zur Probe versteht sich. Aber von den paar Wochen, die sie bei mir war, ist sie die Hälfte der Zeit nicht erschienen. Es scheint, als hätte ich kein glückliches Händchen für´s Personal“, schloss Jim schließlich bedauernd.

„Jim, bitte.“ Gibbs konnte seine Ungeduld kaum noch zügeln. Jim´s Personalprobleme interessierten ihn gerade nicht die Bohne. „Ich brauche Informationen? Hat sie ein Spind hier? Hast du ihre Sozialversicherungsnummer? Eine Adresse? Komm schon, gib´ mir Irgendetwas!“

Dem Barmann fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Haut. Insbesondere, wo er seine neue Hilfskraft nicht angemeldet, sondern erst einmal schwarz hatte arbeiten lassen. Zur Probe eben. Und nun so etwas! Natürlich hatte auch er von DiNozzo´s Trauma nach der Entführung gehört und er wusste auch ansatzweise, wie grausam dem Halbitaliener mitgespielt worden war. Aber konnte eine so zierliche Person wirklich solche Foltermethoden einsetzen? Nein, beschloss er und antwortete:

„Das ist doch sicher nur eine zufällige Ähnlichkeit. Kommt schon! Ich habe mich bestimmt geirrt. Wie gesagt: Ich bin im Moment ziemlich sauer auf die Frau, da sind eben einfach die Pferde mit mir durchgegangen.“ Fragend sah er von einem zum anderen.

Jethro blieb ihm jedoch eine Antwort schuldig. Mit durchdringendem Blick starrte er nach wie vor das Bild von Rebekka an. Er rief sich die Augen der Kellnerin ins Gedächtnis. Die Farbe war anders, aber der Ausdruck ... Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Wo war sein legendärer Instinkt geblieben? Die Frau war direkt neben ihnen gestanden, aber keiner seiner Sinne hatte Alarm geschlagen. Und doch wusste er es in diesem Augenblick - sie war es gewesen!

Langsam hob er den Kopf. „Glaubt hier irgendwer an Zufälle?“, fragte Gibbs mit rauer Stimme in die Runde seiner Mitarbeiter, die allesamt den Kopf schüttelten und jeder für sich offenbar versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Ducky wirkte entsetzt, Tim und Jimmy saßen fassungslos mit offenen Mündern am Tisch, Abby war so hibbelig, dass tatsächlich die Gefahr bestand, dass sie vom Stuhl fiel und Ziva saß da mit geballten Fäusten und einem Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verhieß. Grimmig nickte der Teamleiter. „Ich auch nicht. Also Jim, was ist?“ Mit seinen eisblauen Augen fixierte er den Chef der Bar, so dass diesem ganz flau im Magen wurde.

„Ich habe nur eine Telefonnummer in meinen Unterlagen“, gestand Jim schließlich leise nach einer unangenehmen Pause. „Ich musste sie ja irgendwie erreichen können, ihr wisst schon…für den Fall, dass sie kurzfristig einspringen musste. Alle anderen Unterlagen wollte sie mir nachliefern, aber irgendwie…“

„Her damit“, unterbrach Gibbs ihn kurz und Jim beeilte sich, in sein Büro zu kommen. Er kritzelte die Nummer schnell auf einen Zettel und ging eilig zurück in den Schankraum.

Mit den Worten: „Schreib´s an – wir zahlen später?“, riss Jethro ihm den Zettel aus der Hand und sprang gleichzeitig mit seinen Mitarbeitern auf.

„Kein Problem, die Getränke…ähm…geh´n auf´s Haus“, antwortete Jim, während er nach wie vor hoffte, dass er falsch mit seiner Vermutung lag. Er wollte gar nicht daran denken, dass er womöglich eine Mitschuld daran trug, falls DiNozzo wieder etwas zustieß. Fassungslos verfolgte er, wie der Grauhaarige und sein Team eilig aus seiner Bar spurteten, wobei der ältere Pathologe – die anderen nannten ihn immer liebevoll Ducky – immer wieder die Worte murmelte: "Was für eine Chuzpe. ... Direkt vor unseren Augen ..." und recht schnell den Anschluss an die anderen verlor.

„Im Grunde habt ihr ja gar nichts getrunken…“, murmelte Jim noch leise vor sich hin, während er sich mit sehr gemischten Gefühlen wieder an die Arbeit machte.


Bei Rebekka und Caulder

„Und? Hast du endlich alles?“, fragte Rebekka zum wiederholten Male nervös. Seitdem sie wusste, wo DiNozzo sich aufhielt, stand sie unter Hochspannung und war kaum noch zu bremsen. So schnell wie möglich wollte sie zum Objekt ihrer Begierde und wenn sie erst einmal wieder in seiner Nähe war, würde sie sich weiter Gedanken machen, wie sie seiner am besten habhaft wurde. Da würde ihr schon etwas Passendes einfallen und eins stand mal fest: Dieses Mal würde sie sich nicht mit langem Vorgeplänkel aufhalten. Lage sondieren, Plan schmieden und zuschlagen – nicht auszudenken, wenn ihr der Typ wieder durch die Lappen gehen sollte, nur weil sie sich mit langen Vorbereitungen aufhielt. So gut sie ihren Sargplan nach wie vor fand…er hatte sie einfach viel zu viel Zeit gekostet.

Caulder, in dessen Wohnung sie sich befanden und der gerade dabei war, einige Kleidungsstücke, die seiner Meinung nach dem Sonnenstaat Florida zu dieser Jahreszeit angemessen erschienen, in eine Reisetasche zu packen, antwortete ohne aufzublicken: „Ja, doch. Jetzt gib´ schon Ruhe, er wird uns schon nicht abhauen!“ Als Antwort erhielt er lediglich ein genervtes Knurren, was ihn dazu veranlasste, sich nun doch kurz der Israelin zuzuwenden, die wie ein nervöses Rennpferd vor dem Start in seinem Schlafzimmer hin und her stiefelte und offensichtlich kaum noch zu bändigen war. Der schnelle Seitenblick auf seine attraktive Partnerin jagte ihm jedoch unversehens einen Schrecken ein, denn was er aus Rebekkas Gesichtsausdruck ablesen konnte, war die schiere Mordlust. Er war lange genug Field-Agent gewesen und genügend gewissenlosen Mördern begegnet, um diesen Ausdruck richtig deuten zu können und der Gedanke, was wohl geschehen würde, wenn sie DiNozzo ein für allemal aus dem Weg geräumt hätten, schoss ihm unvermittelt durch den Kopf. Nach außen hin ruhig stellte er beinahe beiläufig die Frage: „Du hasst ihn wirklich sehr, nicht wahr?“

„Das fragst du noch?“, fauchte Rebekka ihn an. „Er ist ein Mörder! Ein eiskalter Mörder! Er hat meinen Bruder ohne mit der Wimper zu zucken umgebracht!“

Caulder wusste natürlich, worauf sie anspielte und antwortete: „Na ja, sind wir doch mal ehrlich…Michael war ja auch nicht gerade ein Sonnenschein, oder?“

„Nimm´ seinen Namen nicht in den Mund! Nicht so, hörst du?! Du hast kein Recht über meinen Bruder ein Urteil zu fällen!“, keifte sie und ihr hübsches Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse. „Du hast ja keine Ahnung...nicht die geringste Ahnung hast du!“

„Schon gut, schon gut.“ Ein geordneter Rückzug erschien Caulder in diesem Augenblick ratsam zu sein. „Reg´ dich bloß nicht auf.“ Er schloss den Reißverschluss seiner Reisetasche und richtete sich auf. „Ich bin auf deiner Seite, das solltest du inzwischen begriffen haben. Der großartige Agent Anthony DiNozzo geht mir am Arsch vorbei und ich werde froh sein, wenn er seinen letzten Atemzug getan hat, aber ich bin der Ansicht, dass wir nichts überstürzen sollten. Niemand ahnt, dass wir zusammenarbeiten und wissen, wo er sich aufhält. Wir haben alle Zeit der Welt!“

Rebekka blieb stehen und holte tief Luft um sich zu sammeln. Die in ihren Augen unerklärliche Selbstgefälligkeit ihres neuen Partners machte sie eins ums andere Mal fast sprachlos. Die Tatsache, dass Sam Caulder offenbar in dem unerschütterlichen Glauben lebte, sie seien gleichberechtigte Partner kam ihr vor wie ein schlechter Witz und am liebsten würde sie ihm diesen gnadenlosen Irrtum durch entsprechende Taten flugs austreiben, aber noch konnte ihr der Mann durchaus nützlich sein…schließlich wusste sie nicht, was sie in Miami erwartete.

Heftig hob und senkte sich der Brustkorb der Israelin, während sie gleichzeitig nachdachte und versuchte, den Drang zu unterdrücken, diesem dämlichen Ex-Agent – der sich immer noch nicht darüber im Klaren war, dass er ein Ex-Agent war – eins überzuziehen und sich seiner so kurz und für ihn schmerzhaft zu entledigen. Nein, noch brauchte sie ihn und auch wenn ihr der Typ mittlerweile maßlos auf die Nerven ging, war es für ihre Pläne besser, ihn bei Laune zu halten.

„Alles klar, Baby?“, erkundigte sich Caulder.

Baby??? Rebekka schluckte innerlich ein paar Mal heftig, während sie die wenigen Meter zu Caulder überbrückte und sich vorsichtshalber stürmisch in seine Arme schmiegte. Auf diese Art und Weise hoffte sie zu vermeiden, dass ihr Gesichtsausdruck sie unter Umständen doch verriet. Es funktionierte, wie sie gleich darauf erleichtert feststellte, denn der Mann ließ seine Tasche fallen und schlang seine Arme fest um sie. Dabei ließ er sie die wiederholte Bereitschaft in seiner Hose absichtlich spüren und sie hätte am liebsten gekotzt. Stattdessen rieb sie kurz ihren Unterleib an seinem harten Geschlechtsteil, während sie leise an seiner Schulter murmelte: „Sam, Schatz, sag mir, dass wir das hinkriegen, okay?“

Caulder´s Hand wanderte zwischen ihre Beine und er stöhnte unterdrückt: „Natürlich kriegen wir das hin“, wobei nicht ganz klar wurde, was er in diesem Moment damit meinte.

Ein siegessicheres Lächeln machte sich auf Rebekkas Gesicht breit. Vorsichtig wand sie sich aus Caulder´s Umklammerung heraus und reichte ihrem Gegenüber die Hand. „Sorry, aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns…aber später, mein Lieber, später…“

 

60. Kapitel

Im NCIS-Hauptquartier

Gibbs und die anderen waren umgehend, nachdem sie Jim´s Bar verlassen hatten, ins Hauptquartier zurückgekehrt. Die Fahrt war nach der unglaublichen Erkenntnis, wie nahe sie Rebekka Rivkin die ganze Zeit über gewesen waren, eher schweigend verlaufen. Keiner von ihnen hatte die Neuigkeiten wirklich fassen können und alle mussten sie die grausamen Tatsachen erst einmal für sich verarbeiten. Als sie im Großraumbüro ankamen – das um diese Zeit verlassen vor ihnen lag – waren sie noch immer wie paralysiert. Gibbs schüttelte schließlich die Benommenheit ab und reichte McGee den Zettel mit der Handynummer, die sie von Jim bekommen hatten.

„Tim, du weißt, was du zu tun hast!“

„Klar, Boss“, antwortete der MIT-Absolvent, der in diesem Augenblick sehr dankbar darüber war, etwas tun zu können. Er griff nach dem Zettel und startete seinen Computer, wobei es ihm in diesem Moment so vorkam, als sei das technische Gerät noch nie so langsam gewesen. „Bin schon dabei!“ Kurz darauf hämmerte er mit verbissenem Gesichtsausdruck wie wild auf seine Tastatur ein. Dabei war er sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass seine Freunde ihn dabei nicht aus den Augen ließen. Alle standen um seinen Schreibtisch herum und warteten stumm auf Ergebnisse. Die einzige Unterbrechung bestand darin, dass Ducky, einige Minuten nachdem die anderen in das Büro gestürmt waren, etwas atemlos den Aufzug verließ, zu ihnen herüberkam und: „Habt ihr schon etwas?“, fragte. Als dem älteren Pathologen daraufhin nur allgemeines Kopfschütteln antwortete, reihte er sich schweigend in den Kreis der gespannt auf Ergebnisse Wartenden ein.

„McGee…!“ Gibbs´ ungeduldige Aufforderung durchdrang die Stille wie ein plötzlicher Donnerhall und ließ alle Anwesenden erschrocken zusammenzucken.

„Ja doch, Boss, ich bin ja dabei…gleich…einen Augenblick nur noch“, murmelte Tim zwischen den Zähnen und lehnte sich gleich darauf kopfschüttelnd enttäuscht zurück. „Nichts“, verkündete er das ernüchternde Ergebnis seiner Bemühungen. „Kein Vertrag! Keine Verbindungsdaten! Keine Adresse! Sie benutzt wohl ein Prepaid-Handy!“

„Verdammt!!!“ Gibbs ließ seine Faust krachend auf den Schreibtisch niedersausen, während Abby ein unterdrücktes Schluchzen von sich gab. Aus den Augenwinkeln registrierte Jethro, dass Ziva kerzengrade aufgerichtet mit geballten Fäusten neben ihm stand. Die Israelin hatte die ganze Zeit über noch nicht ein Wort gesprochen und starrte lediglich mit leerem Blick vor sich hin. „Das wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein“, setzte er leise hinzu und musste sich einen Moment lang sammeln, denn Ziva´s ungewöhnliches Verhalten setzte ihm fast mehr zu, als das Bewusstsein, dass Rebekka ihnen mal wieder einen Schritt voraus gewesen war. „Okay, Leute“, hob er dann an. „Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen! Für heute machen wir Schluss, wir sind alle erledigt und brauchen etwas Ruhe. Ab morgen früh gibt es eine Menge zu tun! Ihr werdet ausschwärmen und jeden verdammten Laden, wo diese Handykarten verkauft werden, ausfindig machen und Rebekkas Bild herumzeigen. Irgendwo muss sie das Gerät und die nötigen Karten ja gekauft haben. Fangt in der näheren Umgebung an und zieht dann die Kreise immer weiter. Tim, du sprichst morgen noch mal in Ruhe mit Jim. Quetsch ihn aus wie eine Zitrone. Wir müssen alles wissen, jede noch so unbedeutend wirkende Kleinigkeit kann wichtig sein, aber das muss ich dir ja sicher nicht sagen…“

„Natürlich nicht! Alles klar.“

„Gibbs, was kann ich tun?“, erkundigte sich Abby beinahe verschüchtert.

„Im Augenblick nichts“, bescheinigte ihr Jethro und registrierte, wie seine Bemerkung dazu führte, dass die Laborgoth traurig die Schultern hängenließ und sich erneut dicke Tränen in ihren Augen sammelten. Natürlich war ihm klar, dass Abby auch mithelfen wollte, ihren besten Freund zu schützen und so setzte er hinzu. „Solange wir nur diese Nummer haben, bist du Schachmatt gesetzt. Aber wenn Vance keine anderen Aufgaben für dich hat, dann kannst du meinetwegen morgen Ziva begleiten.“

Abby´s Miene hellte sich auf: „Ja! Und falls Vance andere Aufgaben für mich haben sollte, so werde ich mir Urlaub nehmen!“, verkündete sie entschieden.

„Ziva?“ Gibbs wandte sich der Israelin zu, die immer noch schweigend und völlig entrückt bei ihnen stand. Als keine Reaktion von der Agentin kam, wiederholte er seine Frage. „Ziva? Alles in Ordnung?“

„Nein!“ Langsam drehte DiNozzo´s Verlobte ihren Kopf, damit sie ihrem Boss direkt ins Gesicht blicken konnte. Was er zu sehen bekam, verhieß ihm nichts Gutes. „Nichts ist in Ordnung! Ich bringe sie um! Gibbs, ich schwöre dir, wenn ich dieses Miststück in die Finger kriege, bringe ich sie um! Ich hätte sie damals schon umbringen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte – warum habe ich es bloß nicht getan?“

Der Teamleiter seufzte. So etwas in der Art hatte er befürchtet. Sollte seine Agentin jetzt ausflippen, dann war es ganz alleine sein Fehler. Weil er zugelassen hatte, dass seine geheiligte Regel Nummer 12 gelockert wurde. „Weil du keine eiskalte Mörderin bist“, antwortete er mit fester Stimme und fixierte mit seinen Augen den Blick der jungen Frau ihm gegenüber. „Ziva…“, sagte er dann eindringlich. „…bitte, ich muss mich darauf verlassen können, dass du keine Dummheiten machst. Wir werden sie kriegen und sie wird für das büßen, was sie Tony angetan hat. Verlass dich drauf.“

„Kann ich das denn?“, fragte Ziva bitter. „Ich meine, sie ist uns doch schon wieder durch die Tücher gegangen.“ Palmer wollte sie gerade instinktiv verbessern, doch ein warnender Blick samt gleichzeitigem Rippenstoß von Ducky ließen ihn abrupt verstummen und einen Schritt zurücktreten. „Gibbs…wir hatten sie direkt vor der Nase – sie hat sogar mit uns gesprochen – wir hätten nur zupacken müssen!“ Ziva´s Stimme hatte einen verzweifelten Klang angenommen und sie zitterte am ganzen Körper. „Ich fass´ es nicht…wie kann man nur mit einer so kalten Schnauze vorgehen…“

Auch dieses Mal verbesserte Niemand die Israelin. Im Gegenteil, Gibbs konnte sehr gut nachvollziehen, was in Ziva gerade vorging – schließlich fühlte er ähnlich. Doch es nützte nichts, jetzt den verpassten Chancen hinterher zu trauern. Sie mussten nach vorne sehen und es war nun an ihm, seinem Team wieder etwas Zuversicht zu geben: „Wir kriegen sie!“, wiederholte er mit fester Stimme. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit! Immerhin wissen wir jetzt, dass sie die Nähe zu Tony gesucht hat und dabei kein Risiko gescheut hat. Ich denke, wir können davon ausgesehen, dass sie hier ganz in der Nähe lebt, was bedeutet, dass sie hier höchstwahrscheinlich auch ihre Einkäufe erledigt hat, denn schließlich kommt auch eine Rebekka Rivkin nicht ohne Lebensmittel aus.“

„Vielleicht hat sie aber auch einen Lieferservice beauftragt“, wandte Tim ein und Gibbs Kopf flog in seine Richtung.

„Natürlich. Das meine ich ja: Irgendjemand muss sie gesehen haben. Ein Lieferant, eine Kassiererin, wer auch immer. Wir müssen denjenigen nur finden, dann können wir den Kreis schon wieder enger etwas ziehen.“

„Sollen wir Tony etwas von der neuen Entwicklung sagen? Was meinst du?“

Alle Blicke waren auf Gibbs gerichtet. Diese Frage hatte er sich auch schon gestellt. Schon einmal hatte er zu lange gezögert, aber was sollte er Tony sagen? Sie waren Rebekka auf den Fersen, genau wie all die Tage zuvor. Vielleicht waren sie ihr ein wenig näher gerückt, mehr aber auch nicht. Einen entscheidenden Durchbruch hatten sie nicht erzielt. Und Tony hatte in letzter Zeit so gute Fortschritte gemacht. Ducky, der regelmäßig mit Dr. Seltwick sprach, konnte immer wieder von kleinen Lichtblicken berichten. Wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, wie nahe sich seine Peinigerin an das Team und ihn herangewagt hatte. Sie hatte Tony in die Augen geblickt, war direkt vor ihm gestanden … Womöglich würde er etwas Dummes tun, vielleicht seine Behandlung sofort abbrechen, um nach Washington zurückzukehren. Oder er würde wieder in seine Depressionen verfallen. Erst gestern hatte Ducky erzählt, wie sehr sich Tony auf ein normales Leben mit Ziva freute, auf so kleine Dinge wie im Park spazieren gehen oder ungezwungen in einem hübschen Cafe zu sitzen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Wenn er realisierte, dass das alles wieder in unerreichbare Sphären verschwunden war, würden sich womöglich all die mühsam erkämpften Fortschritte in Luft auflösen.

Langsam hob Jethro den Kopf und blickte zu Ducky. „Was würdest du tun, Duck?“ Es kam nicht oft vor, dass der Chefermittler eine Entscheidung einem anderen zuschob, aber heute durfte und wollte er keinen Fehler machen und immerhin war Ducky in den letzten Wochen Tony´s engster Vertrauter gewesen.

Der kleine Pathologe räusperte sich, auch ihm waren ähnliche Gedanken wie Jethro durch den Kopf gegangen. „Ich werde gleich mit Charles telefonieren und die Sachlage mit ihm besprechen. Er kann momentan am besten beurteilen, was wir Tony zumuten können. – Aber ich glaube fast, dass wir es ihm im Augenblick noch nicht sagen sollten, er erscheint mir einfach nicht stabil genug dafür. Vielleicht, wenn wir noch etwas mehr wissen …?“ Fragend sah er in die Runde und ließ seinen Blick schließlich auf Ziva ruhen – da sie als Tony´s Verlobte im Besonderen betroffen war fand er, dass sie bei dieser Entscheidung ein Mitspracherecht bekommen sollte.

Tief durchatmend blickte die Israelin auf und nickte schließlich nach einer Pause leicht mit dem Kopf. „Okay, wir warten“, war alles, was sie leise sagte.

Es entstand eine kleine, betretene Pause, bevor Gibbs alle wieder wach rüttelte. Jetzt war keine Zeit, düsteren Gedanken nachzuhängen. Sie mussten sich erneut mit ganzer Kraft der Suche nach Rebekka widmen. „Ihr geht jetzt alle nach Hause. Wir brauchen alle etwas Schlaf, die nächsten Tage werden anstrengend werden. – Abby, du bleibst vorläufig bei Ziva, okay?“

„Natürlich, Gibbs. Solange du willst.“ Die Laborgoth hakte sich umgehend bei Ziva ein und führte die Freundin, die sich das überraschend widerstandslos gefallen ließ, in Richtung Aufzug.

Alle, bis auf Gibbs und Ducky verließen das Büro. Als die Aufzugtüren sich hinter seinen Leuten geschlossen hatten, ließ Jethro sich mit einem lauten Stöhnen aus tiefster Seele in seinen Stuhl fallen. Müde und deprimiert verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und schaute seinem alten Freund und Weggefährten ins Gesicht. „Tun wir das Richtige, Ducky?“, erkundigte er sich dann leise.

„Ich hoffe es, ich hoffe es wirklich. Aber …“

„Was, aber…?“

„Aber dieses Mal sollten wir wirklich schnell zu Ergebnissen kommen“, antwortete Ducky. „Ziva ist meines Erachtens in einem bedenklichen Zustand.“

„Ich weiß.“ Gibbs raufte sich durch die kurzen grauen Haare. „Glaub mir, das weiß ich sehr wohl…ich habe schließlich Augen im Kopf. Aber wenn das mal immer so einfach wäre. Ich bin nur froh, dass Tony in Sicherheit ist.“


In Miami – am nächsten Tag

Es war schon später Nachmittag, als Caulder und Rebekka in Miami ankamen. Sie waren die ganze Nacht hindurch abwechselnd gefahren und hatten nur wenige Tankpausen gemacht. Nach über 18 Stunden, die sie für die 1700 km lange Strecke gebraucht hatten, waren beide nun völlig erledigt. Am liebsten wäre es Rebekka ja gewesen, eine Unterkunft ganz in der Nähe der Klinik zu beziehen, aber das hatte sie schon in DC nach einigen Recherchen im Internet verworfen. Erstens überstiegen die Preise für Zimmer in der eher exklusiven Wohngegend eindeutig ihr Budget und zweitens wollte sie weder Fragen bei der Anmeldung beantworten, die dort unweigerlich gestellt worden wären, noch persönliche Daten preisgeben oder gar riskieren, dass sie womöglich sogar ihre Ausweisdaten hinterlegen mussten.

So hatten sie sich ein ziemlich schäbiges Motel ein wenig abseits des Highway ausgesucht, in dem Caulder vorab von unterwegs aus ein Zimmer reserviert hatte. Er war, bekleidet mit Hawaiihemd, hellen Cargo-Shorts, Sandalen, einem Strohhut und einer großen Piloten-Sonnenbrille alleine an die Anmeldung gegangen und hatte die stereotype Frage des Mannes hinter der Rezeption nach den Ausweisen einfach stumm ignoriert. Stattdessen hatte er das Geld für eine Woche in bar auf den Tresen gelegt und sein Gegenüber nur vielsagend angeschaut. Nur einen kurzen Augenblick hatte der Typ gezögert, bevor er das Geld schließlich in eine Schublade gelegt und Caulder den Zimmerschlüssel ausgehändigt hatte. Caulder hatte ihm diese Amtshandlung als „Mr. und Mrs. Thomas Smith“ in seinem Gästebuch quittiert und damit hatte es sich für den Mann, für den die neuen Gäste fortan bloß das x-te Pärchen darstellten, das sich unter dem Namen „Smith“ vermutlich vor einem eifersüchtigen Ehemann versteckte.

Kaum hatten beide das Zimmer betreten und das wenige Gepäck in die Ecke gestellt, ließ sich Caulder auch schon auf das riesige Kingsize-Bett sinken, das an der rückwärtigen Wand in dem ansonsten eher spärlich möblierten Raum stand. „Ahh, das tut gut“, stöhnte er, als er seine müden Glieder reckte und streckte und den Strohhut als Schutz vor der tief stehenden Sonne, die ihm durch das schmutzige Fenster direkt ins Gesicht schien, vor seine Augen zog. Daran, dass ihm Rebekka in Washington noch einen heißen Ritt versprochen hatte, sobald sie angekommen wären, verschwendete er im Moment keinen Gedanken mehr. Kaum eine Minute, nachdem er sich hingelegt hatte, war er auch schon tief und fest eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin.

Rebekka betrachtete ihren schlafenden Kumpan mit einem Blick, der ihre Verachtung für das amerikanische Weichei offen ausdrückte. „Was für ein Schwächling“ sagte sie leise zu sich selbst. Auch sie war müde und kaputt, doch sie machte sich noch daran, die fadenscheinigen Vorhänge zuzuziehen und die Tür sorgfältig zu verriegeln. Erst danach ging sie ins Bad und zog sich aus. Kurz darauf ließ sie in der Dusche warmes Wasser über ihren Körper laufen und hing ihren Gedanken nach. Die Unterkunft war wirklich ziemlich perfekt. Niemand würde sich hier näher um sie kümmern. Und eines musste sie Caulder lassen: Er hatte sich beim Einchecken so gut getarnt, dass er höchstwahrscheinlich selbst bei einer bundesweiten Fahndung im Fernsehen unerkannt bleiben würde. Irgendwie hatte sie nämlich trotz allem das Gefühl, dass sowohl nach ihr, als auch nach dem Ex-NCIS-Agenten schon bald gefahndet werden würde. Doch hier waren sie relativ sicher. Zumindest vorläufig.

Mit gleichmütigen Bewegungen wusch sich Rebekka den Schaum aus den Haaren. Jetzt musste sie sich erst einmal ausschlafen, aber morgen … gleich morgen würde sie damit beginnen, einen Plan auszuarbeiten, wie sie DiNozzo am schnellsten einkassieren konnten. Und dann…Ja, dann würde der Spaß erst richtig losgehen! Und dieses Mal würde sie es zu Ende bringen, koste es, was es wolle. Die Israelin stieg aus der Duschkabine, wickelte sich in das dünne Badehandtuch und legte sich, nachdem sie zuvor noch ihre Waffe sorgfältig unter ihr Kopfkissen gelegt hatte, nass aufs Bett. Ruhig hob und senkte sich ihr Brustkorb, während sie sich still auf die kommenden Tage freute und sich ausmalte, wie sie diesen Waschlappen DiNozzo endgültig in die Knie zwingen würde. Wenige Augenblicke später war dann auch sie mit einem bösen Lächeln auf den Lippen eingeschlafen.

 

61. Kapitel

Washington DC – NCIS – Hauptquartier

Wie Gibbs am Vorabend angeordnet hatte, waren Tim und Ziva am nächsten Morgen schon früh ausgerückt, um Gott und alle Welt rund um das Hauptquartier zu befragen und gegebenenfalls weitere Kreise zu ziehen. Für Ziva war das recht anstrengend – eine emotionale Gratwanderung geradezu – denn sie hatte nach wie vor Abby im Schlepptau, die immer zwischen Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt schwankte. Einerseits wünschte die Israelin sich beinahe, dass sie auf irgendetwas stoßen würden, dass die Anwesenheit ihrer Freundin im Labor erforderte, aber andererseits war sie auch froh, nicht alleine unterwegs zu sein – besonders auch, weil sie überein gekommen waren, Tony erst einmal nichts von den neuen Erkenntnissen zu verraten und sie sich daher scheute, ihren Verlobten anzurufen, obwohl sie sich gerade nichts sehnlicher wünschte, als mit ihm zu reden. Zu gerne würde sie jetzt seine Stimme hören – einfach nur, um festzustellen, dass es ihm nach wie vor gut ging – aber das war nicht möglich, denn Tony würde ihr sicherlich sofort anmerken, dass etwas geschehen war und sie wollte ihn nicht belügen.

Sie hatten sich zunächst am frühen Morgen alle im Hauptquartier getroffen und dort vereinbart, aus Zeitgründen nicht nur die Handyläden aufzusuchen, sondern gleich in jede erdenkliche Art Geschäft zu gehen, um dort die Bilder von Rebekka zu zeigen. So konnten sie vermeiden, dass sie einen Radius, den sie im Zuge der Handyläden bereits einmal abgegangen waren, unter Umständen noch einmal aufsuchen mussten. Alle waren sich einig, dass sie es sich nicht leisten konnten, wichtige Zeit durch sinnloses Umherwandern zu verplempern. Bemerkenswert war die Unterstützung, die ihnen Ducky zuteil werden ließ, denn als sie sich im Großraumbüro trafen, hatten der kleine Schotte und sein treuer Gehilfe Palmer sie bereits erwartet und mit der Neuigkeit überrascht, dass – nach erfolgter Rücksprache mit dem Direktor – Jimmy Palmer vorläufig zu ihrer Unterstützung aus der Pathologie freigestellt wurde. Das kam ihnen natürlich sehr gelegen, denn Tony fehlte nach wie vor an allen Ecken und Enden und Ziva wurde von Gibbs zurzeit auch nicht als vollwertige Kraft eingestuft. Jede helfende Hand – oder auch besser gesagt, jedes helfende und mitgehende Paar Füße – war Gibbs also herzlich willkommen und so wurde auch Jimmy Palmer mit einem ganzen Stapel Rebekka-Fotos ausgerüstet. Zusätzlich zu den Nachfragen wollten sie die Ladenbesitzer nämlich dazu bringen, Rebekka´s Foto in den Läden aufzuhängen, in der Hoffnung, dass irgendjemand – womöglich eben auch ein Kunde, der erst nach ihrer Befragung in den Laden käme – etwas zum Verbleib der israelischen Terroristin beizutragen hätte und sich bei ihnen melden würde.

Gibbs wollte im Hauptquartier zurückbleiben. Auf diese Art und Weise konnte er gegebenenfalls – sofern es nötig wurde – weitere Vorgehensweisen am schnellsten koordinieren. Am liebsten jedoch hätte er sich auch auf den Weg gemacht, aber er sah ein, dass er im Hauptquartier am ehesten hilfreich sein konnte – auch wenn es ihm unter den Nägeln brannte, mehr tun zu wollen. Außerdem wollte er sich parallel noch um den Verbleib von Mandy kümmern, der ehemaligen Kellnerin von Jim, deren Stelle doch sehr überraschend frei geworden war – zu überraschend im Nachhinein, wenn man die Umstände genauer betrachtete.

Als seine Leute in den Aufzug gestiegen waren und sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten, wischte er sich mit einer matten Handbewegung über sein Antlitz. Allen war natürlich klar, dass sie sich auf die Suche nach der Nadel im Heuhaufen begaben und er konnte nur hoffen und beten, dass sie dabei eine Spur von Rebekka finden würden.

„Du machst dir Sorgen…“, sagte Ducky, der leise neben ihn getreten war und seinen Freund nun eindringlich prüfend von der Seite her musterte.

„Fragst du das im Ernst?“, antwortete Jethro müde, denn er hatte in der Nacht kaum schlafen können, obwohl er das am Abend zuvor von seinen Leuten so vehement gefordert hatte.

„Nein“, lächelte Ducky milde. „Das war keine Frage – es war vielmehr eine Feststellung.“

„Ja! Ja, verdammt! Ich mache mir Sorgen. Diese Frau ist schwerer zu fassen als…als…ach, was weiß ich! Sie ist schlüpfriger als ein gottverfluchter Aal und gefährlicher als ein weißer Hai!“

Diese Feststellung entlockte Dr. Mallard abermals ein Lächeln. „Dieser Vergleich hätte Tony sicher gefallen“, meinte er dann amüsiert.

„Wie auch immer. Mir wäre nur einfach wohler zumute, wenn wir sie endlich hätten! Ducky, diese Frau ist krank und das macht sie noch gefährlicher als ihr Bruder es jemals war!“


Washington DC /

Später am Tag – Ein Hoffnungsschimmer

Seit Stunden waren McGee, Jimmy Palmer, Ziva und Abby nun schon unterwegs – nach wie vor ohne Ergebnis. Über Funk unterrichteten sie sich untereinander immer dann, wenn sie mit einem neuen Straßenzug begannen und es war jedes Mal wieder ernüchternd, mit den anderen zu reden, nur um zu erfahren, dass diese genauso ins Leere forschten, wie sie selber.

Gegen Abend war Tim dann noch einmal zu Jim in die Bar gefahren, um ihn erneut auszuquetschen, wie Gibbs es gefordert hatte. Jim hatte offenbar ein rabenschwarzes Gewissen, obwohl er ja eigentlich nichts für die Situation konnte, denn er zermarterte sich sein Gedächtnis nach Kräften, um irgendetwas für McGee zu Tage zu fördern. „Maureen … oder wie immer sie auch heißen mag, hatte mit den Gästen wenig am Hut, soweit ich mich erinnere. Ich meine, sie hat sie ganz normal bedient, aber sonst … Ein paar von den Jungs haben ein paar Mal versucht, bei ihr zu landen, aber sie hat sie immer ziemlich schroff abblitzen lassen. Beim letzten Mal hat sie ihnen dann aber anscheinend ziemlich rigoros klargemacht, dass sie bei ihr keine Chance haben - ich habe das zufällig gesehen und musste über den doch ziemlich erschrockenen Gesichtsausdruck der Jungs schmunzeln. – Jetzt allerdings…so im Nachhinein betrachtet …“ Nachdenklich brach er ab.

„Hm, das hilft uns jetzt nicht direkt weiter, gibt es sonst gar nichts?“ bohrte Tim weiter und forderte: „Komm schon, denk nach. Es ist wirklich wichtig!“

Jim legte den Kopf in den Nacken und schien sich verschiedene Ereignisse durch den Kopf gehen zu lassen. Dann stutzte er plötzlich. „Doch – ja! Mit einem der Gäste hat sie doch öfters gesprochen. Ein blonder Mann – er ist früher eher selten gekommen, in letzter Zeit aber öfter. Ich habe nie näher mit ihm geredet, aber ich glaube, der war auch von eurem Verein. Dass mir das jetzt erst einfällt.“ Er klopfte sich leicht mit der Hand vor die Stirn. „Mit dem habe ich sie auf jeden Fall öfters reden sehen. In gewisser Weise hat mich das gewundert, weil der Kerl so gar nicht danach aussah, als ob er ihr Typ wäre.“

„Von unserem Verein? Wieso denkst du das?“ McGee war hellhörig geworden.

„Ich weiß auch nicht, ist nur so ein Gefühl. Vielleicht habe ich ihn ja mal zusammen mit einem eurer Agents gesehen. Ich kann es echt nicht sagen“, antwortete Jim ein wenig zerknirscht.

Eine Zeitlang versuchte McGee noch, etwas aus dem Barmann herauszukitzeln, aber außer der vagen Beschreibung des Mannes kam nichts mehr dabei heraus.

Also trat McGee schließlich lediglich mit diesem winzigen Fingerzeig im Gepäck den Rückzug ins Hauptquartier an, wo Gibbs sie alle vor Feierabend noch einmal sehen wollte. Tim´s Neuigkeit elektrisierte zu seiner Überraschung alle. Vielleicht aber auch nur, weil sie sonst keine einzige Spur hatten, der sie nachgehen konnten.

„Was für ein blonder Mann?“, hakte Gibbs sofort nach. „Komm schon, Elfenkönig, sag jetzt nicht, dass das alles ist?“

„Nein“, packte McGee aus. „Einen Namen wusste Jim nicht, aber er hatte das Gefühl, dass er wohl „zu unserem Verein“ gehören müsse. Er hat ihn als „Mann mittleren Alters, mit ein wenig schütterem, blonden Haar“ beschrieben, ca. 1,80 m groß, normale Figur. Mehr konnte ich echt nicht aus ihm rausholen“. Tim zuckte bedauernd mit Schultern.

Ziva, die zusammengesunken, so als ginge sie das alles gar nichts an, schweigsam auf ihrem Stuhl gesessen hatte, sprang plötzlich wie von der Tarantel gestochen auf. „Caulder!!!“, war alles, was sie sagte und als alle anderen sie daraufhin überrascht anstarrten, fuhr sie vehement fort und verteidigte die Theorie, die sich blitzschnell in ihrem Kopf festgesetzt hatte. „Kommt schon, schaut nicht so! Es passt doch zusammen!“, rief sie aufgeregt in der Raum hinein. „Ich habe Caulder sogar selbst schon mal dort gesehen, als er alleine in einer Ecke saß und anscheinend seinen Frust ersäuft hat!“

„Ja. aber wieso sollte Rebekka etwas von Caulder wollen, sie kannte ihn doch gar nicht“. warf Jimmy skeptisch ein.

„Ein gutes Argument“, warf Gibbs ein und warf Ziva einen fragenden Blick zu, während Palmer auf der Stelle um 5 Zentimeter zu wachsen schien.

„Ich weiß nicht“, antwortete Ziva. „Vielleicht ist ihr ja irgendetwas aufgefallen. Verdammt – diese Hexe hat einen sechsten Sinn! Sie liest förmlich in den Menschen. Ein Blick, eine Geste, irgendwas wird ihre Aufmerksamkeit erregt haben und daraufhin hat sie sich an ihn herangemacht. – Sie hat sich mehrfach mit Caulder unterhalten, hat Jim gesagt und da … da ist das Gespräch dann vielleicht irgendwie auf Tony gekommen…“ Aufgeregt blickte Ziva in die Runde, bevor sie vehement fortfuhr: „... und dann hat sie womöglich festgestellt, dass…“

„…dass er Tony ebenso hasst, wie sie selbst, und sie könnte versucht haben, sich das zunutze zu machen“, vollendete Gibbs den Satz gefährlich leise.

„Ja, da ist was dran“, sagte nun auch Tim. „Die Frage ist nur, ob Caulder weiß, mit wem er es da zu tun hat?“

„Nun…ich würde sagen, fragen wir ihn doch.“

„Willst du ihn herbestellen?“, fragte Ziva enttäuscht. „Aber dazu brauchen wir die Zustimmung von Vance. Caulder ist schließlich nicht mehr unser Fall.“

„Nein, das ist er nicht.“ Auf Gibbs´ Gesicht zeichnete sich ein grimmiges Lächeln ab, als er aufstand und McGee die Autoschlüssel zuwarf, den dieser geschickt auffing. „Aber was bitte schön, kann mich davon abhalten, einem Kollegen einen Besuch abzustatten? Dem Verhalten des Direktors nach zu urteilen, steht da immer noch eine Entschuldigung meinerseits im Raum.“

„Du meinst…“ Tim lächelte nun ebenfalls.

„Genau das meine ich. Ich will das endlich hinter mich bringen. Mein Gewissen plagt mich inzwischen fürchterlich und ich möchte keine Minute länger abwarten, um mich endlich bei dem Scheißkerl zu entschuldigen.“ Als er bemerkte, wie Ziva´s Körper sich straffte und sie nach ihrem Rucksack griff, setzte er hinzu. „Nein, Ziva, du nicht.“

„Aber…“

„Nein! Du fährst mit Abby nach Hause! Keine Widerrede!“ Seine Stimme klang unnachgiebig. Trotzdem versuchte, er der Israelin seinen Standpunkt darzulegen. „Wir melden uns, sobald wir etwas Genaueres wissen, versprochen, okay? Aber wir wissen nicht, was uns in der Wohnung erwartet und ich will nicht, dass du dich womöglich durch unbedachtes Handeln ins Unglück stürzt. Tony würde mir das sicher sehr übelnehmen. Klar?“

„Klar“, murmelte Ziva, die mit dieser Entscheidung offensichtlich alles andere als einverstanden war, sich aber widerstrebend fügte.

„Abby, du passt auf sie auf“, fügte der Teamleiter sicherheitshalber hinzu. „Lass dich ja nicht dazu überreden, uns zu folgen. Ich setze dich auf Caf-Pow-Entzug!“

„Du kannst dich auf mich verlassen, Gibbsman“, sagte Abby und nickte zur Bekräftigung mehrmals heftig, was Ziva ein leises Stöhnen entlockte. „Und solltet ihr Hilfe brauchen…“

„…seid ihr die Ersten, die davon erfahren. – Tim.“ Gibbs setzte sich ohne weiteres Wort in Bewegung und McGee folgte ihm eilends.

Nachdem sich die Aufzugtüren hinter den beiden geschlossen hatten und auch Ducky und Palmer den Rückzug in ihr Refugium angetreten hatten, warf Ziva ihrer Freundin einen flehenden Blick zu. Ihre vagen Hoffnungen wurden jedoch mit einem strengen „Denk nicht mal dran!“ zerstört. Trotzdem startete sie einen letzten Versuch:

„Abby, ich könnte dich in Null Punkt Nix mit einer Büroklammer außer Gefecht setzen, das weißt du“, sagte sie mit einem drohenden Unterton in der Stimme.

„Sicher weiß ich das“, war die unbekümmerte Entgegnung. Abby grinste breit, als sie hinzusetzte: „Aber bevor du dazu kommst, setze ich dich mit einer Chemikalie schachmatt, die du noch nicht einmal dem Namen nach kennst.“ Sie nickte wieder mehrmals so heftig, dass die Rattenschwänze links und rechts von ihrem Kopf fröhlich zu tanzen begannen. „Und glaub mir, die Nebenwirkungen sind alles andere als angenehm.“ Vielsagend klopfte sie auf ihre Jackentasche und nickte noch einmal. „Ich glaube, wir haben noch nie darüber gesprochen, aber magst du eigentlich Spritzen?“

Mit einem Knurren aus tiefster Seele kommend griff Ziva nach ihrer Jacke: „Zu dir oder zu mir?“

62. Kapitel

Miami – Am Tag darauf – Donnerstag – Bei Rebekka und Caulder

Die Klinik zu finden, war das geringste Problem für Rebekka und Caulder gewesen. Ihr Mietwagen war zwar nur mit einem billigen Navigationssystem ausgerüstet, doch das Gerät hatte seine Funktion durchaus zuverlässig erfüllt. Seit einer Stunde hockten sie nun schon im Wagen, den sie etwas abseits geparkt hatten und beobachteten die Klinik unauffällig vom Auto aus. Allerdings war bisher nicht viel zu sehen gewesen. Ein ziemlich hoher Zaun umschloss das Grundstück und selbst mit dem Fernglas war kaum etwas zu erkennen gewesen. Einmal war ein Lieferantenfahrzeug vor dem Haupteingang vorgefahren und nachdem sich der Fahrer offenbar über eine Gegensprechanlage legitimiert hatte, fuhr das große schmiedeeiserne Tor geräuschlos auf Schienen fahrend auf und schloss sich genauso leise wieder, nachdem der LKW die Zufahrt passiert hatte.

„Wenn wir diesem Mistkerl schnappen wollen, müssen wir irgendwie da rein kommen“, überlegte Rebekka schließlich gereizt. Hier draußen vor dem Tor rumzusitzen, behagte ihr gar nicht. Und das war noch harmlos ausgedrückt – das Bewusstsein, dass das Objekt ihrer Begierde hinter diesen hohen Mauern wahrscheinlich fröhlich seinem jämmerlichen Dasein frönte, machte sie schlichtweg wahnsinnig und je länger sie darüber nachdachte, desto unruhiger wurde sie.

„Und dann? Was willst du dann tun? Ich dachte, du willst ihn nicht einfach so abknallen? Ich finde, wir sollten nichts übers Knie brechen. Nein, bevor du dich an ihm austoben kannst, brauchen wir zuerst ein sicheres Versteck, in das wir ihn bringen können.“

„Glaubst du, das ist mir nicht bewusst? Hältst du mich vielleicht für blöd?“, keifte die Israelin den blonden Mann auf dem Fahrersitz unbeherrscht an, den das jedoch zunächst noch kalt ließ.

„Sieh´ dich nur um: Hier gibt es überall Kameras. Warum auch immer, aber dieses Gelände ist besser gesichert als Fort Knox. Wir sind doch jetzt nicht so weit gekommen, nur um uns dann selber zu entlarven, indem wir uns von so einer dämlichen Linse filmen lassen.“

„Dann müssen wir eben einen Weg finden, die Sicherheitsmaßnahmen zu umgehen, du Schwachkopf! Wir müssen uns die Pläne dieser Scheißklinik besorgen! Kneifst du immer beim ersten auftauchenden Problem den Schwanz ein!“ Rebekka schnaubte vor Wut. „Was zum Teufel bist du eigentlich für ein Agent?“

„He, immer langsam, nur kein Stress“, versuchte Caulder die Israelin zu beschwichtigen. Ihre ewige Gereiztheit ging ihm zunehmend auf die Nerven, aber schließlich wollte er möglichst schnell wieder mit ihr in die Kiste und wenn sie dann gut drauf war, weil ihre Jagd auf DiNozzo gut voranging, würde das definitiv auch sein Vorteil sein. Wenn Rebekka in Laune war, war sie einfach unglaublich im Bett. Ein wahrer Vulkan! Er überlegte ruhig, wie er sie am besten beruhigen konnte. „Hör zu“, fing er schließlich an. „Ich meinte ja nur, dass wir ihn ja wohl schlecht in unser Motel mitnehmen können. Es muss etwas abgelegenes sein, wo du mit ihm völlig ungestört bist. Wir wollen doch schließlich nicht, dass ihn jemand schreien hört. Ihn knebeln zu müssen, würde uns schließlich um eine Menge Spaß bringen, oder?“ Er grinste Rebekka vielsagend an, fuhr aber gleich darauf, als sie lediglich ungnädig schnaubte, mit seinen Überlegungen fort. „Hier in Florida sollte es kein großes Problem darstellen, etwas Abgelegenes zu finden. Die Everglades sind riesig. Irgendwo in den Sümpfen wird wohl was zu finden sein, wo man alleine ist. Wir müssen gar nicht weit fahren, dann kann man schon die ersten Touren buchen. Ich war früher schon mal hier und kann mir nicht vorstellen, dass sich da was geändert hat. Wir mieten uns so ein Aircraft und lassen uns die Gegend zeigen. Ich könnte mich als Naturkundler ausgeben, der Vögel oder irgendwelches anderes Viehzeugs beobachten will. Diese Bootstypen kennen sich in den Sümpfen besser aus, wie Frauen in ihrem Kleiderschrank.“ Diese Bemerkung brachte ihm mal wieder einen bösen Seitenblick ein, den er jedoch gekonnt an sich abprallen ließ. Ungerührt sprach er weiter: „Ich sage denen einfach, ich bin auf der Suche nach einem völlig ungestörten Platz, von wo aus ich meine Beobachtungen machen kann. Ich bin mir absolut sicher, wenn wir ein paar Dollar zusätzlich springen lassen, zeigen die uns genau das, was wir wollen. Und wenn wir dann erst einmal einen geeigneten Platz gefunden haben, dann müssen wir nur noch zuschlagen. Wie…nun, das überlegen wir uns dann, wenn es soweit ist. Wir könnten zum Beispiel so einen Lieferanten-LKW abfangen und ich `vertrete´ dann den Fahrer vorübergehend. Ich bin mir sicher, dass die nicht weiter überprüft werden. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen…die Klinik ist schließlich kein Hochsicherheitstrakt. Du versteckst dich hinten im LKW und zack, schon wären wir auf dem Gelände. Der Rest wird sich dann schon finden.“ Er blickte Rebekka nach Lob heischend an. „Was sagst du? Ist doch kein schlechter Plan, oder?“

Die seit dem Morgen wieder dunkelhaarige Terroristin hatte ihrem vorübergehenden Partner mit wachsendem Interesse zugehört. Caulder´s Ausführungen hörten sich wirklich nicht schlecht an…für einen Schwachkopf, denn dafür hielt sie ihn natürlich nach wie vor. „Okay“, stimmte sie schließlich zustimmend nickend zu, „Das könnte glatt hinhauen. Du hast Recht: Auf die markerschütternden Schreie und das anschließende Gewinsel will ich auf gar keinen Fall verzichten! Na los, fahr schon! Machen wir ein bisschen Sightseeing.“

Mit einem zufriedenen Grinsen startete Caulder den Wagen und lenkte ihn zügig in Richtung Everglades.


Washington DC – NCIS-HQ – Enttäuschung auf der ganzen Linie

„Verdammt, wo steckt dieser Mistkerl bloß?“ Wütend trommelte Gibbs mit den Fingern auf seiner Schreibtischunterlage herum und ließ seiner schlechten Laune freien Lauf.

Tim und Ziva schwiegen. Was sollten sie auch schon groß dazu sagen? Erst hatten sie am vorigen Abend feststellen müssen, dass Caulder sich offenbar abgesetzt hatte. Tim hatte daraufhin fast die ganze Nacht damit zugebracht, allen entsprechenden Stellen Caulders Fahndungsfoto zukommen zu lassen, damit dem Ex-Agent – sofern er sich noch in DC befand – möglichst jede Möglichkeit genommen wurde, die Stadt noch zu verlassen, d.h. er musste jede Mietwagenfirma, jeden, auch noch so kleinen, Flughafen, sämtliche Bahnhöfe, sowie auch die zahlreichen Busbahnhöfe informieren. Obwohl Gibbs Instinkt ihm mehr als deutlich zuflüsterte, dass Caulder vermutlich längst die Stadt verlassen hatte, durften sie natürlich keine Eventualität außer Acht lassen. Nachdem er Ziva und Abby über die Neuigkeiten telefonisch informiert hatte, waren die beiden sofort ins Hauptquartier geeilt, um ihrem Freund behilflich zu sein, doch trotzdem dauerte die Aktion unvorstellbar lange.

Während Gibbs am Morgen dann nach einer schnellen Lagebesprechung wieder im Hauptquartier zurückgeblieben war, hatten sich die anderen zunächst erneut auf den Weg gemacht, um die Ladenbesitzer der Stadt weiter nach Rebekka zu befragen und die Fahndungsfotos aufzuhängen. Doch am späten Vormittag, war Jimmy Palmer dann telefonisch von Ducky zurück in die Pathologie beordert worden, da dort aufgrund eines mysteriösen Massensterbens auf einem Navy Kreuzer plötzlich Hochbetrieb herrschte und die Leichen beinahe im Minutentakt eingeliefert wurden. Auch Abby war kurz darauf von Vance zurück an ihren Arbeitsplatz bestellt worden, denn aus diesem Grund gab es natürlich auch für sie wieder eine Menge zu tun, Es galt nun anhand von Lebensmittelproben und sonstigen Analysen möglichst schnell herauszufinden, ob die Marines an einer „normalen“ Vergiftung gestorben waren, oder ob sie es hier womöglich mit einer eingeschleppten Epidemie zu tun hatten. Es war ein Fall, der urplötzlich große Wellen im Yard schlug, doch Vance hatte – obwohl er normalerweise seine besten Leute auf so einen Fall angesetzt hätte – Wort gehalten und Gibbs und sein verbliebenes Team da rausgehalten. Gibbs vermutete aber nicht ganz zu Unrecht, dass den Direktor wegen Caulder´s Verschwinden nun ein schlechtes Gewissen plagte, da er es versäumt hatte, den Ex-Agent direkt zu verhaften. Als der Teamleiter ihn am Morgen kurz nach seiner Ankunft über das Verschwinden von Caulder in Kenntnis gesetzt hatte, war dessen erste Reaktion ein lauter Fluch gewesen und gleich danach hatte Gibbs Team wieder alle Rechte und Befugnisse, was den Fall Caulder anbelangte, zurückerhalten. Leider nützte ihnen das im Augenblick nur wenig…

„Hey, wie geht´s dir, Ziva?“, fragte Tim schließlich leise – eigentlich nur, um überhaupt mal wieder etwas zu sagen und sei es auch noch so profan.

„Geht so. Weißt du, Tony hat gestern Abend angerufen, kaum dass ich mit Abby zu Hause war. Zuvor hatte er schon 3 x auf den AB gesprochen.“ Sie stockte und ihr Blick lief ins Leere.

„Und?“

„Nun ja, ich habe ihm erzählt, dass wir einen neuen Fall haben und dass ich deshalb so spät dran war…ich weiß nicht, ob er es mir geglaubt hat. Irgendwie wirkte er… nun ja, vielleicht ein wenig enttäuscht. Ach, ich weiß auch nicht.“

„Und jetzt hast du ein schlechtes Gewissen, weil du ihm nicht alles gesagt hast, was hier los ist.“ Es war weniger eine Frage, sondern viel eher eine Feststellung und sie traf Ziva´s Gefühle auf den Punkt.

„Ja…ja, ich denke schon“, antwortete sie nach einer kleinen Pause. „Weißt du noch, wie verletzt er an Thanksgiving war, dass wir ihn nicht gleich eingeweiht hatten?“

„Natürlich weiß ich das noch, aber wie Gibbs schon sagte: Wir sollten nicht die Pferde scheu machen, bevor wir etwas Genaueres wissen. Was nützt es, wenn Tony sich jetzt auch noch Sorgen macht.“

„Ich weiß nicht“, mischte sich der Grauhaarige plötzlich in das leise geführte Gespräch seiner Leute ein. „Was ist, wenn wir Recht haben und Caulder und Rebekka jetzt zusammen arbeiten? Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob Caulder eine Möglichkeit gehabt haben könnte, herauszufinden wo Tony untergebracht ist? Immerhin war er mehrmals hier.“

„Hmm…“ Tim dachte nach. „Ich wüsste nicht, wie“, sagte er schließlich. „Das weiß doch außer uns und dem Director niemand.“

„Abby´s Genesungskarte?“, warf Gibbs in den Raum.

„Nein“, meinte nun Ziva. „Selbst wenn er sie auf meinem Schreibtisch gesehen haben sollte – da stand noch keine Anschrift drauf. Die hat Abby erst später notiert.“

„Okay… Gut.“ Gibbs nickte, doch zufrieden war er noch lange nicht. Er wurde diese verteufelte innere Unruhe einfach nicht los und das machte ihn zusehends nervöser. „Tim, seid ihr soweit durch mit allem?“

„Ja, sind wir. Alle Standorte, von wo aus Caulder die Stadt verlassen könnte sind informiert und haben sein Foto erhalten. Inklusive der Mietwagenfirmen. Seinen eigenen Wagen konnten wir ja in der Tiefgarage seines Appartementhauses sicherstellen. Er ist schon unten in der Garage – sobald Abby dazu kommt, wird sie ihn auf eventuelle Spuren von Rebekka untersuchen. Verwandte in DC oder der näheren Umgebung gibt es nicht. Caulder´s Eltern sind schon lange tot und seine Ex-Frau würde uns sofort informieren, wenn er sich bei ihr melden sollte. Aber das wird wohl eher nicht der Fall sein, denn die werte Frau ist gar nicht gut auf ihren Ex zu sprechen.“ Bei der Erinnerung an das Telefonat mit Caulders Ex-Frau verzog Tim vielsagend sein Gesicht. „Sie lebt jetzt im mittleren Westen und möchte am liebsten gar nicht mehr an ihre Vergangenheit erinnert werden. Laut ihren Aussagen war die Ehe mit Sam Caulder nicht nur ein Fehler, sondern glatt die Hölle.“

„Verdammt! Irgendwo muss er doch untergeschlüpft sein. Er kann sich schließlich nicht in Luft auflösen.“ Gibbs´ Finger begannen eine neue Trommelarie auf seiner Schreibtischunterlage.

„Vielleicht ja wirklich bei Rebekka. Übrigens: Unter dem Namen Maureen Green ist nirgendwo in Washington oder Umgebung jemand gemeldet“, verkündete Tim deprimiert eine weitere Spur, die er verfolgt und die lediglich ins Nirvana geführt hatte.

„Wen wundert´s“, schnaubte Gibbs. „Wer weiß, unter welchem Namen sie eine Wohnung angemietet hat?“

„Ach ja, noch etwas“, setzte Tim hinzu: „In Caulder´s Wohnung konnten wir keine Spuren sicherstellen, die auf eine Anwesenheit von Rebekka schließen lassen.“

Gibbs Gesicht drückte die hilflose Wut aus, die er fühlte. „Hab´ ich ehrlich gesagt auch nicht erwartet. Diese Frau ist ein Profi – wenn die keine Spuren hinterlassen will, dann tut sie das auch nicht. Okay, fassen wir mal zusammen: Fakt ist, wir haben nach wie vor…Nichts! Wir können nur darauf hoffen, dass sie irgendjemand auf den Fotos erkennt und sich bei uns meldet. Und das möglichst bald!“

63. Kapitel

Miami – Freitagnachmittag – Das ideale Versteck      

 

Seit über zwei Stunden düsten sie jetzt schon mit dem Airboat durch die Everglades. Einige interessante Plätze hatte der Bootsführer den angeblichen Naturforschern schon gezeigt, aber keiner war wirklich für Rebekkas Vorhaben in Betracht gekommen und so hatten sie jedes Mal verneinend die Köpfe geschüttelt und den Mann gebeten weiter zu fahren. Langsam neigte sich der Tag dem Ende zu und der Bootsführer hatte sie schon darauf aufmerksam gemacht, dass sie sich nun bald auf den Heimweg machen mussten, als plötzlich etwas Rebekkas Aufmerksamkeit erregte. Der junge Indianer, der das Boot lenkte, verringerte die Geschwindigkeit und steuerte langsam auf eine kleine Insel zu. Erst, als sie schon ziemlich nahe am Ufer waren, konnte man die kleine Hütte erkennen, die dort – fast völlig verdeckt vom hohen Schilf – sehr einsam und etwas zurück gebaut stand.

 

`Das ist es!´, schoss es Rebekka durch den Kopf, aber sie ließ sich ihre freudige Erregung äußerlich nicht anmerken, sondern gab Caulder lediglich durch ein verstecktes Handzeichen zu verstehen, dass sie diesen Platz für perfekt hielt.

 

„Diese Hütte haben früher mal Wilderer gebaut, die Alligatoren gejagt haben, aber nun steht sie schon lange leer. Seit Jahren war hier niemand mehr. Wildern ist hier zu gefährlich geworden. Außerdem stehen inzwischen hohe Strafen darauf, wenn man sich dabei erwischen lässt. Aber es ist ein sehr guter Platz, um Tiere zu beobachten. Davon gibt es hier nämliche eine ganze Menge. Falls das für Sie interessant ist, könnten wir auch kurz anhalten“, erklärte der Bootsführer.

 

„Ich weiß nicht, kann man die Hütte denn so einfach benutzen?“, fragte Caulder scheinbar gleichgültig. „Wir wollen nämlich keinen Ärger bekommen, verstehen Sie?“

 

„Ich verstehe, aber machen Sie sich keine Gedanken. Die Hütte gehört Niemandem. He, wenn sie wollen, kann ich sie immer hier raus fahren und später wieder abholen kommen.“ Der geschäftstüchtige Mann witterte ein gutes Geschäft, doch Caulder und Rebekka gaben sich bewusst unentschlossen.

 

„Na ja, mal sehen. Kennen Sie nicht noch andere Plätze, die sie uns zeigen können?“, fragte der Ex-NCIS-Mann. „Für Fotos scheint mir das Terrain nicht so geeignet zu sein. Das Schilf steht viel zu hoch und…“ Er hielt eine Hand wie einen Sonnenschutz vor Augen, als er nach oben in den Himmel blickte. „…das Licht ist auch nicht gerade das Beste. Meine Auftraggeber sind sehr anspruchsvoll – da muss ich erstklassige Arbeit abliefern.“

 

Ein wenig enttäuscht bejahte der Indianer die Frage und jagte das Airboat, nachdem er gewendet hatte, pfeilschnell unter ohrenbetäubendem Lärm weiter durch die Sümpfe, während er noch einmal ausdrücklich betonte, dass ihnen nicht mehr allzu viel Zeit blieb, da die Dunkelheit um diese Jahreszeit sehr schnell hereinbrach.

 

In seinem Rücken hatte sich Rebekka verstohlen Notizen in einem kleinen Büchlein gemacht. Mit dem kleinen Kompass, den sie versteckt in der Hand hielt und den vermerkten Koordinaten würden sie diese Insel hier auch alleine wieder finden, obwohl man natürlich schon aufpassen musste, denn in den Sümpfen konnte man sich leicht verirren. Doch hier verließ sie sich auf ihre Ausbildung beim Mossad, die schließlich erstklassig gewesen war. Sich in unwegsamem Gelände zu bewegen, war für Rebekka immer eine der leichtesten Übungen gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte sie sich dabei verirrt und genau darauf baute sie auch jetzt.

 

Kurz bevor der Indianer den Ausflug endgültig abbrechen und wieder in Richtung Heimbasis fahren wollte, gaukelten die beiden dem Mann noch schnell reges Interesse an einem weit von der Insel abgelegenen Platz vor. Sie gaben sich begeistert und suggerierten dem Führer, dass sie sich nun erst einmal um alle Genehmigungen kümmern wollten und danach – wenn alles glatt liefe – in ca. zwei bis drei Wochen mit ihren Forschungen beginnen würden. Sie hofften, dass diese Informationen den Mann davon abhielten, noch einmal hier raus zu fahren. Und falls er dies doch tun würde…nun, das wäre dann sein Pech! Jetzt brauchten sie nur noch ein Aircraft, denn mit einem normalen Boot war in den Everglades kein Durchkommen…

 

 

Miami – Samstagmorgen – Vor der Klinik

 

An diesem Morgen hatte die kleine Gruppe um Randy und Tony schon sehr zeitig gefrühstückt und so machten sie sich bereits gegen 7.oo Uhr morgens gut gelaunt mit dem Van der Klinik auf den Weg zu den Miccosukee-Indianern. Das Fahrzeug, mit Tony am Steuer, passierte das Kliniktor und bog dann langsam nach rechts in Richtung Ausfallstraße ab.

 

                                                       **************

 

Rebekka und Caulder waren an diesem Morgen auch schon sehr früh unterwegs gewesen. Sie hatten sich um die Beschaffung eines Aircrafts kümmern wollen, doch selbst in den Everglades stellte dieses Unterfangen mehr Probleme dar, als sie vermutet hatten. Schließlich handelte es sich hierbei nicht um ein Schlauchboot, das man problemlos stehlen und dann irgendwo vertäuen konnte, bis man es brauchte. Nachdem sie verschiedene Anlegestellen ausgekundschaftet hatten waren sie schließlich zu dem Entschluss gekommen, dass sie – wenn sie DiNozzo erst einmal in ihre Gewalt gebracht hatten – einfach kurzfristig eines mitsamt Führer mieten und den Führer dann – sozusagen als Kollateralschaden – in den Sümpfen entsorgen würden.

 

Jetzt hatten sie ihr Auto in einer Nebenstraße geparkt, von der aus sie das Eingangstor zu Dr. Seltwick´s Traumaklinik gut überblicken konnten. Ihr Plan war, genau auszukundschaften, wann und welches Personal morgens die Klinik betrat. Am Abend zuvor hatten sie schon nach ihrer Rückkehr aus den Sümpfen dort Posten bezogen und festgestellt, dass die Nachschicht in der Klinik wie eigentlich in allen Krankenhäusern, eher dünn besetzt war. Es galt zu überprüfen, wann sich für sie eine günstige Gelegenheit ergeben könnte, um unbemerkt das Klinikgelände betreten zu können, oder ob unter Umständen doch der Plan noch vor der Klinik einen Lieferanten-LKW abzufangen die bessere Variante war.

 

Plötzlich registrierten die beiden überrascht, wie das Tor der Klinik geräuschlos zur Seite glitt und gleich darauf ein Minivan, der seitlich das Logo des Traumacenters trug, in Sichtweite kam. Rebekka entfuhr ein keuchender Laut, als sie die Person erkannte, die am Steuer des Fahrzeugs saß: Special Agent Anthony DiNozzo! Im ersten Augenblick glaubte sie, ihren Augen nicht trauen zu können, doch er war es! Eindeutig! Endlich, endlich bekam sie ihn zu Gesicht! Was für ein unglaublicher Glücksfall!

 

„Das ist die Gelegenheit!“ Mit vor unterdrückter Erregung vibrierender Stimme wandte sich Rebekka an Caulder. „Vergiss die Beobachterei der Klinik! Wenn er sich uns schon auf dem Präsentierteller anbietet, dann greifen wir auch zu.“

 

„Aber er ist nicht alleine“, wandte ihr Partner ein.

 

„Na und? Hast du etwa Schiss vor ein paar Gestörten? Na los, mach schon, folge dem Wagen, aber pass bloß auf, dass sie uns nicht bemerken.“

 

„He, nur keine Aufregung. Ich beschatte nicht das erste Mal einen Wagen“, antwortete Caulder säuerlich. Trotzdem war er peinlich darauf bedacht, genügend Abstand zu dem Auto vor sich einzuhalten, denn er wollte auf keinen Fall einen Fehler machen. Rebekka würde ihm sonst den Kopf abreißen und das vermutlich im wahrsten Sinne des Wortes. Da machte er sich nichts vor, denn seit dem plötzlichen Auftauchen von DiNozzo wirkte die Frau neben ihm auf dem Beifahrersitz wie eine Bombe kurz vor der Explosion. Der Ex-Agent blinkte ordnungsgemäß, reihte sich unauffällig in den Verkehr ein und folgte dem Mini-Van mit gebührendem Abstand.

 

                                                       ***************

 

„HE, Leute“, beschwerte sich Tony und unterbrach damit das laute und aufgeregte Geschnattere im Wageninneren des Van´s. „Nun seid doch mal still! „Randy! Vielleicht hättest du ja die unendliche Güte, mir zu verraten, wo ich lang muss – schließlich kenne ich mich hier nicht die Bohne aus!“

 

„Ooooh, was ist das denn? Ich dachte, ein Special Agent findet immer seinen Weg“, spottete Randy lachend und die anderen Wageninsassen fielen in sein Lachen ein. Im Rückspiegel konnte Tony erkennen, dass sogar um Annas Lippen ein leises Lächeln spielte. Es schien, als würde sie sich wirklich auf den Ausflug freuen und Tony war einmal mehr froh, dass er sich dafür entschieden hatte, die Truppe zu begleiten.

 

„Wartet nur ab“, drohte er spielerisch. „Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, wenn wir uns heillos verfahren haben. Dann könnt ihr euch eure Indianer nämlich in die Haare schmieren. Außerdem bin ich ein Marine und gehöre nicht zum Bodentrupp“, setzte er gespielt streng hinzu. „Alles klar?“

 

„Schon gut, schon gut, du Wasserheld“, rief Randy. „Wir haben verstanden. Rechts ab und erst einmal immer nur der Straße nach – ich melde mich dann schon rechtzeitig – kannst dich drauf verlassen! Kann ich dann davon ausgehen, dass du dich spielend zurechtfindest, sobald wir die Everglades erreicht haben, Mr. Marine?“

 

Wieder lachten alle! Statt einer Antwort drohte Tony seinem neuen Freund nur feixend mit der Faust. Er genoss die ausgelassene Stimmung im Wagen und freute sich wahnsinnig auf den Ausflug. Am Abend würde er dann Ziva anrufen und dann hätte er auch endlich einmal etwas Anderes zu erzählen. Hoffentlich hatte seine Verlobte dann auch Zeit für ihn, dachte er still bei sich. Die letzten Telefonate waren eher kurz ausgefallen und einige Male hatte er seine Freundin gar nicht erst erreicht. Es gab einen neuen Fall wie er wusste und der schien viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Nun…bald war er wieder mit dabei. Darauf freute er sich schon – nicht mehr lange und es wäre soweit. Aber heute würde er erst einmal die willkommene Abwechslung vom Klinikalltag in vollen Zügen genießen…

 

Langsam passierte Tony das Eingangstor der Klinik und bog rechts ab in Richtung Ausfallstraße. Weder er, noch sonst jemand der Insassen bemerkte, dass ihnen kurz darauf in ziemlichem Abstand ein unscheinbarer, weißer Wagen folgte.

64. Kapitel

Washington DC – Später Samstagvormittag – Im Hauptquartier

 

Gibbs Telefon klingelte und mit einem mürrischen Laut auf den Lippen starrte er auf den Apparat, in der Hoffnung, dass es sich bitte doch dieses Mal um eine gute Nachricht handeln möge. Die ewigen Misserfolge und Schlappen nagten mehr an ihm, als er bereit war vor den anderen zuzugeben. Einzig Ducky wusste andeutungsweise über seine Zweifel und inneren Kämpfe Bescheid; nur leider konnte ihm sein alter Freund zwar zur Seite stehen und für ihn da sein, aber wirklich helfen konnte er ihm nicht.

 

Vor einigen Minuten hatte der Chefermittler die Nachricht erhalten, dass man vermutlich die Leiche von Jim´s ehemaliger Kellnerin gefunden hatte. Eine junge Frau, auf die die Beschreibung von Mandy Bowers zutraf, war unweit eines kleinen abgelegenen Friedhofs in Arlington entdeckt worden. Ducky und Palmer waren bereits unterwegs zur Fundstelle, die aber – wenn er dem telefonischen Bericht der örtlichen Polizeidienststelle glauben durfte – wohl nicht der Tatort gewesen war. Hatten die beiden wohl schon erste Ergebnisse für ihn? Nein, wohl kaum, verwarf Gibbs den Gedanken sofort wieder. Die beiden Pathologen konnten unmöglich schon am Fundort angekommen sein – nicht die beiden!

 

Ein weiteres nachhaltiges Klingeln ließ den Grauhaarigen zusammenzucken und eilig nach dem Hörer greifen. Verdammt! Wenn diese israelische Schlampe nur nicht so intelligent wäre – dann hätten sie sie längst geschnappt. Noch nie in seiner langen Laufbahn als Agent hatte ihn bislang eine Person so genarrt und er konnte Ziva´s Hass auf ihre Landsmännin so sehr nachfühlen – auch, wenn er seiner Agentin davon natürlich nichts sagen würde. Seine Gedanken wurden sowohl im wachen, wie auch im Schlafzustand nur noch von Rebekka Rivkin beherrscht und das machte ihn so unsagbar wütend…

 

„Hallo?“, drang eine Stimme aus dem Hörer an sein Ohr. „Agent Gibbs?“

 

„Ja, ja, ich bin dran.“ Ein Blick auf das Display zeigte dem Chefermittler, dass der Pförtner am anderen Ende der Leitung war. „Was ist los?“

 

Der alte Agent berichtete Gibbs, dass unten bei ihm im Eingangsbereich zwei Frauen warteten – Mutter und Tochter. „Sie waren bei der Polizei, weil sie glauben, die Frau auf dem Fahndungsfoto, mit dem Sie halb DC überschwemmt haben, erkannt zu haben. Na ja, von dort aus wurden sie hierher geschickt.“

 

Automatisch richtete sich Gibbs kerzengrade auf. „Worauf warten Sie noch?“, bellte er in den Hörer, während er gleichzeitig stumm verfluchte, dass die Menschen nicht einfach einmal das tun konnten, wozu sie aufgefordert waren…nämlich umgehend die Telefonnummer auf dem Fahndungsplakat zu wählen. Es war nicht zu ändern, aber schon wieder war wertvolle Zeit verstrichen. „Geben Sie ihnen Besucherausweise und dann rauf mit ihnen!“

 

Die wenigen Minuten bis das „Pling“ der Aufzugtür seine Besucher ankündigte, konnte Gibbs kaum erwarten. Die Tür war noch nicht ganz offen, da stand er schon davor und nahm die beiden Frauen in Empfang. Die Jüngere mochte in den 20-ern sein und die Ältere schätzte er auf mindestens 70 Jahre alt. Mutter und Tochter? Wohl kaum! „Special Agent Jethro Gibbs“, stellte er sich kurz vor und reichte der Älteren, die zwar auf den ersten Blick ein wenig zerbrechlich wirkte, sich aber mit sehr wachen und aufmerksamen Augen ihre Umgebung anschaute, seine Rechte. „Sie wollen zu mir?“

 

„Ja, junger Mann“, kam mit überraschend fester Stimme die Antwort. „Ich bin Ellen McGuire und das…“ Sie wies auf die jüngere Frau zu ihrer Linken. „…ist meine Enkelin Melanie.“

 

Gibbs nickte der Jüngeren freundlich zu und hatte Mühe seine Ungeduld zu zügeln. Er brauchte Ergebnisse und falls diese beiden Frauen – so unwahrscheinlich ihm das auch gerade vorkam – ihm weiterhelfen konnten, dann hielten ihn diese lästigen Konventionen nur weiter unnötig auf. „Was kann ich für Sie tun?“

 

Die Jüngere der beiden übernahm jetzt das Reden. „Wissen Sie, meine Oma lebt schon immer hier in DC. Ich komme aus Arkansas, aber nachdem meine Eltern vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, bin ich auch hierher gezogen. Ich studiere hier und habe ein Zimmer auf dem Campus. Aber 1 x pro Woche besuche ich meine Oma und wir unternehmen etwas zusammen. Sie wissen schon: Kaffee trinken, ein wenig bummeln, so was eben…“

 

„Obwohl ich durchaus noch sehr gut alleine zurecht komme“, mischte sich die alte Dame energisch ein.

 

„Ja, ich weiß, nur dass du dich nicht mehr alleine vor die Tür traust. Wenn ich nicht nach dir sehen würde, würdest du doch in deiner Wohnung versauern“, tadelte Melanie mit einem nachsichtigen Lächeln ihre Großmutter.

 

Gibbs´ Kopf zuckte zwischen den Frauen hin und her wie bei einem Tennismatch und er fühlte seine Hoffnungen schwinden. Mit großer Geduld war er sowieso nicht gesegnet und lediglich der Respekt vor der alten Dame ließ ihn seine Beherrschung bewahren. Trotzdem musste er jetzt dieses Geplänkel unterbrechen, bevor er überkochte, wie ein Dampfkessel. „BITTE!“, hob er an und bedauerte zutiefst, dass McGee gerade nicht im Büro war. Solche Dinge lagen dem MIT-Absolventen eindeutig besser. Erleichtert registrierte er, wie Melanie´s Aufmerksamkeit sich wieder auf ihn konzentrierte.

 

„Überall in den Geschäften hängen doch seit kurzem die Plakate mit dem Foto von dieser Frau“, erläuterte die junge Frau. „Nun, wir waren ein paar Kleinigkeiten einkaufen und beim Verlassen des Ladens fiel meiner Oma das Plakat auf. Sie glaubt, die Person auf dem Foto zu kennen.“

 

„Das glaubt sie nicht nur, das weiß sie mit Sicherheit“, unterbrach Ellen McGuire ihre Enkelin mit leicht beleidigtem Unterton in der Stimme.

 

„Okay, okay“, mischte sich Gibbs schnell ein und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die ältere der beiden Frauen. „Woher glauben Sie sie zu kennen? Bitte denken Sie gut nach, das ist wirklich sehr wichtig für uns, Mrs. McGuire. Sind Sie sich wirklich sicher? Ich meine, zu 100 %?“

 

„Und ob ich mir sicher bin! Ich mag alt sein und meine Augen sind sicher auch nicht mehr die besten, aber diese unmögliche Person werde ich so schnell nicht vergessen! Sie hat wirklich ein abgrundtief schlechtes Benehmen an den Tag gelegt und ehrlich gesagt, wundere ich mich nicht, dass die Polizei nach ihr sucht.“

 

„Bitte…“ Gibbs stand kurz vor dem Verzweifeln. „Woher kennen Sie die Frau?“

 

„Woher? Sie wohnt bei mir im Haus. Ein paar Stockwerke unter mir. Sie ist mir mal am Aufzug begegnet und wollte mir die Tür quasi vor der Nase zugeschlagen, nur um alleine fahren zu können. Aber nicht mit mir!“ Die alte Dame hob ihren Gehstock in die Luft und schwenkte ihn wie eine Waffe vor Gibbs Nase hin und her. „Den habe ich schnell zwischen Tür und Wand gehalten und da musste sie mich mitnehmen, ob sie wollte oder nicht. Sie können sich nicht vorstellen, wie frech dieses ausländische Weib da geworden ist!“

 

Gibbs Interesse wuchs von Sekunde zu Sekunde wieder. „Sie halten Sie für eine Ausländerin?“

 

„Aber ja, sie hatte einen Akzent. Klang sehr merkwürdig, war aber auch nicht zu sehr ausgeprägt. Aber ihre Bluse stand am Hals ein wenig offen und ich konnte erkennen, dass ein Anhänger an ihrer Kette hing – es sah aus wie ein Judenstern.“

 

Jetzt war Gibbs wirklich elektrisiert. „Wo wohnen Sie?“

 

Melanie McGuire wirkte ein wenig überrascht. „Können Sie damit wirklich etwas anfangen? Ich wollte zuerst gar nicht zur Polizei, aber meine Oma bestand darauf.“

 

„Ja, ich denke schon, dass uns das weiterhilft“, antwortete Gibbs grimmig. „Verraten Sie mir Ihre Adresse.“ Er griff schon nach seiner Jacke und seine Augen suchten den Schreibtisch nach dem Autoschlüssel ab.

 

„Die Jugend von heute“, schwadronierte Mrs. McGuire Senior munter weiter. „Keine Ahnung mehr von Bürgerpflicht, aber ich wusste gleich, dass ich das melden muss. Diese Frau hatte das Böse in den Augen, verstehen Sie?“

 

Oh ja, und ob er das verstand! „Mrs. McGuire …bitte. Ich brauche Ihre Adresse.“

 

„Nicht so ungeduldig, junger Mann“, rügte Ellen McGuire den Silberfuchs nachsichtig. „Ich wohne seit einigen Jahren in diesem großen Appartmenthaus…wissen Sie, die Wohnungen sind schön geschnitten, es gibt mehrere Aufzüge und einen Pförtner, der sich wirklich noch kümmert. So etwas findet man ja heutzutage…“

 

Gibbs flehentlicher Blick traf Melanie. „Bitte!“ Gott, wie oft hatte er das jetzt schon gesagt? Er hatte keine Ahnung. „Die Adresse!“

 

Melanie lächelte verständnisvoll. „Meine Oma wohnt in der NW Caroline Street Nr. 378.

 

„Okay.“ Der Agent atmete erleichtert auf und fügte dann hinzu. „Könnten Sie Ihre Großmutter vorsichtshalber erst einmal mit zu sich nehmen? Aber machen Sie sich keine Sorgen, es ist eine reine Sicherheitsmaßnahme – sicher wird Ihre Großmutter noch heute in ihre Wohnung zurückkönnen.“

 

„Natürlich, kein Problem.“

 

„Gut, ich werde mich darum kümmern, dass Sie jemand nach Hause fährt. Solange warten Sie bitte hier. Es…“

 

Die Aufzugtüren öffneten sich und heraus traten Ziva und McGee, die sich unten in der Parkgarage zufällig getroffen hatten. Gott sei Dank, dachte Gibbs und die Entscheidung, die er zu treffen hatte, fiel ihm zur Abwechslung mal leicht.

 

„Tim, das sind Mrs. McGuire und ihre Enkelin Melanie. Fährst du sie bitte zu Melanie´s Wohnung. Ziva, du kommst mit mir!“, befahl er kurz. „Tim, du alarmierst bitte noch Abby und wenn die keine Zeit hat, soll irgendjemand zu NW Caroline Street Nr. 378 kommen, der Ahnung von Spurensicherung hat. Und wenn ich „Ahnung“ sage, dann meine ich „Ahnung“, klar?“

 

„Klar, Boss. Was haben wir?“, erkundigte Tim sich neugierig und gespannt.

 

„Evtl. einen Hinweis auf Rebekkas Wohnung. Sobald du die beiden Frauen abgesetzt hast, kommst du so schnell wie möglich nach.“ Er setzte sich in Bewegung und Ziva folgte ihm mit schnellen Schritten. Kurz vor dem Aufzug stoppte Gibbs noch einmal abrupt und drehte sich um. „Mrs. McGuire? Können Sie sich vielleicht noch an das Stockwerk erinnern, wo die Frau ausgestiegen ist?“

 

„Aber natürlich. Mein Gedächtnis ist nämlich noch vorzüglich. Es war der 3. Stock – ich selber wohne im 5. Stock“, setzte sie überflüssigerweise hinzu.

 

„Wohnungsnummer?“, fragte Gibbs hoffnungsvoll.

 

Bedauernd zuckte die alte Dame mit den Schultern. „Aber sie könnten unserem Pförtner das Foto zeigen. Er heißt Bill und er ist wirklich sehr…“

 

„Das werden wir. Und…Vielen Dank.“

 

65. Kapitel

Außerhalb von Miami – Im Reservat – Zur gleichen Zeit

 

Eine Stunde nach der Abfahrt hatte der Mini-Van des Traumacenters den dichten Verkehr Miamis hinter sich gelassen und fuhr den schnurgeraden Tamiami-Trail entlang, der quer durch die Everglades von Miami am Atlantik nach Naples am Golf von Mexico führte. Nach einer weiteren Stunde erreichten sie das Village der Miccosukee-Indianer, das im Grunde genommen ein eigener kleiner Staat im Bundesstaat Florida war

 

„Wir sind da“, strahlte Randy. „Wir stehen hier jetzt sozusagen in einem eigenen kleinen Land. Die amerikanische Regierung hat dieses Gebiet der Miccosukee-Indianer als eigenständig anerkannt. Sie haben sogar eine eigene Flagge. Mittlerweile verdienen die Indianer ihr Geld mit Glücksspiel, wofür sie die Rechte haben. Dieses kleine Village ist sozusagen der letzte Zeuge ihrer Vergangenheit. Eigentlich schade, aber gegen den sogenannten Fortschritt kann man wohl nichts machen.“

 

Randy rollte voraus und als der kleine Trupp das Besuchercenter betrat, blickten ihnen dutzende, zum Teil bedrohlich aussehende Masken entgegen. Speere und Äxte, die von vergangenen, kriegerischen Zeiten zeugten, waren dazwischen drapiert, sowie Federschmuck und Kleidung der Miccosukee und anderer Seminolenstämme.

 

Nachdem sie verschiedene Ausstellungsräume besichtigt hatten, schlenderten die Vier  zu einer Art Arena, in der mehrere Alligatoren in der Sonne dösten. „In fünf Minuten beginnt die nächste Show, ich denke, die sollten wir uns gleich ansehen, was meint ihr?“, fragte Randy. Tony und die anderen stimmten zu und so suchten sie sich Plätze am Rand des Zauns, von wo aus sie einen guten Blick über das ganze Areal hatten. Zum Glück war heute nicht viel los, so dass sie relativ allein stehen konnten, was besonders Anna erleichtert aufatmen ließ. Sie hatte sich schon in den Ausstellungsräumen mit den unheimlichen Masken nicht besonders wohl gefühlt und diese gepanzerten Reptilien dort unten flößten ihr auch nicht gerade Vertrauen ein und so war sie froh über jeden Meter Abstand, den sie zwischen sich, das Publikum und die Tiere bringen konnte.

 

In diesem Moment betrat ein junger Indianer mit blauschwarzen Haaren, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, die Arena. Wie selbstverständlich bewegte er sich zwischen den Urzeitechsen, bis er vor einer der Größten stehen blieb. Er blickte mit schwarzen Augen ins Publikum und hob grüßend einen Arm, bevor er sich wieder dem über vier Meter langen Alligator zuwandte. Dann begann eine Show, die die Zuschauer in atemloses Erstaunen versetzte. Der junge Mann beherrschte die Echse, es bestand eine tranceähnliche Verbindung zwischen beiden, die es ihm ermöglichte, Dinge mit dem Alligator zu tun, die im Normalfall nie möglich wären, wie z.B. sich auf ihn zu setzen. Als Highlight zum Schluss öffnete der Indianer die riesigen Kiefer des Tieres und legte seinen Kopf dazwischen. Er löste seine Hände von den Fängen und war dem Wohlwollen der Echse wehrlos ausgeliefert. Würde der Alligator sein Maul zuschnappen lassen, käme für den Mann jede Hilfe zu spät. Doch die Kiefer mit den zahllosen spitzen Zähnen bewegten sich nicht, bis der junge Indianer seinen Kopf wieder aus dem Maul nahm. Er stellte sich mit triumphierendem Gesichtsausdruck neben das Tier und tippte ihm mit dem Finger auf den Kopf, worauf hin der Alligator seine Kiefer in Bruchteilen einer Sekunde mit einem lauten Knall zuschnappen ließ. Zahlreiche Besucher stießen erschreckte Schreie aus und auch Tony ertappte sich dabei, dass er mit aufgerissenen Augen zurück zuckte. „Wow, der Junge hat Nerven“, presste er anerkennend hervor, bevor er, wie die anderen Zuschauer, respektvoll Beifall klatschte.

 

„Was möchtet ihr jetzt tun?“, fragte Randy anschließend, während sich die Zuschauermenge langsam zerstreute. „Gleich dort hinten beginnt ein Naturpfad, der einige 100 Meter durch den Urwald führt und zeigt, wie die Miccosukee-Indianer früher hier in den Sümpfen gelebt haben. Es ist ein Lagerplatz zu sehen, Jagdpfade, usw.“ Er zeigte auf einen Bereich am Rande einiger Gebäude.

 

„Klingt interessant“, meinte Tony. „Wollen wir?“

 

„Es ist wirklich interessant. Ich bin den Pfad als Kind mal mit meinem Vater gegangen. Jetzt ist das ja leider nicht mehr möglich. Mit dem Rollstuhl komme ich da nicht weit. Nein, Tony…“, setzte er hinzu, als Tony anhob, etwas zu sagen. „Lass gut sein! Das wäre wirklich zu anstrengend und ich will nicht riskieren, dass mein kostbarer fahrbarer Untersatz dabei kaputt geht. Ich werde mich dort hinten in das Café setzen. Die verkaufen dort einen wirklich erstklassigen Kuchen. Also? Wie sieht´s aus? Trennen wir uns oder was geht ab?“

 

Clark antwortete ziemlich schnell: „Ich werde dich begleiten. Ich glaube, die Enge in diesem Urwald ist heute nichts für mich.“ Noch immer hatte er von Zeit zu Zeit Beklemmungen in engen Räumen und ausgerechnet heute ließ die Vorstellung der undurchdringlichen Wildnis, die ihn dort gleich erwarten würde, seine Hände schon im Vorfeld feucht werden. Er zuckte bedauernd mit den Schultern. „Es gibt halt immer noch Hochs und Tiefs – man muss sie sich nur eingestehen, nicht wahr?“

 

Tony und Anna sahen sich an und überraschenderweise war es die junge Frau, die zögernd sagte: „Ich hätte schon Lust. Wenn du mitkommst, würde ich mir das gerne mal ansehen. Da sind auch sicher nicht so viele Menschen wie im Café.“

 

„Ja, klar, gerne“, erwiderte der grünäugige Italiener. „Dann lass uns mal auf den Pfaden der Ureinwohner wandeln.“ Schon wenige Minuten später tauchten Anna und er gut gelaunt in die grüne Blätterwand ein. 

 

Die kleine Frau mit schwarzem Basecap und dunkler Sonnenbrille, die ihnen nur wenig später folgte, bemerkten sie nicht.

 

 

 DC – In Rebekkas Wohnblock

 

Gibbs und Ziva standen mit gezogenen Waffen rechts und links vom Eingang zu Appartement 28 d, das – wie Bill, der Pförtner, ihnen glaubhaft ohne zu zögern nach einem Blick auf Rebekkas Fahndungsfoto verraten hatte – seit einigen Monaten eine neue Mieterin namens Theresa Wood beherbergte. Eine attraktive, aber recht unhöfliche junge Frau, die offenbar zudem lieber für sich blieb und kein Interesse daran gezeigt hatte, sich in die Hausgemeinschaft zu integrieren. Lediglich in den letzten Wochen hatte sie ein paar Mal Besuch von einem blonden Mann in den 40-ern erhalten. Auch hier hatte Bill Sam Caulder sofort anhand der Kopie seines Dienstausweises identifizieren können, wobei er beeindruckt: Wow, ein Agent, da können wir Otto Normalverbraucher natürlich nicht mithalten“, gesagt hatte.

 

In diesem Moment hätte Ziva Bill am liebsten für eine Medaille vorgeschlagen, denn viel zu selten trafen sie bei ihren Ermittlungen auf Menschen mit so guter Beobachtungsgabe und absoluter Hilfsbereitschaft. Im Gegenteil wurden ihnen noch allzu oft Steine in den Weg gelegt, wenn sie auf der Suche nach der Wahrheit waren. Bill hatte ihnen sogar noch von sich aus seinen Ersatzschlüssel ausgehändigt, mit dem sie jetzt vor Rebekka´s Wohnung standen.

 

Beide waren inzwischen felsenfest davon überzeugt, dass sie dieses Mal auf der richtigen Spur waren. Natürlich galt es trotzdem vorsichtig zu sein, denn Bill – der dummerweise nach einem Urlaub erst den 2. Tag wieder im Dienst war – hatte ihnen leider nicht sagen können, ob Rebekka im Augenblick in der Wohnung war. Er hatte zwar sofort bereitwillig seine Vertretung angerufen, doch der Mann war keine große Hilfe gewesen. Er hatte noch nicht einmal gewusst, von wem Bill sprach und so hatte der Hausmeister - denn auch diese Position bekleidete der rührige Mann - schließlich nur entschuldigend mit den Schultern zucken können.

 

Gibbs legte vorsichtig ein Ohr an die Tür und lauschte angestrengt. Nichts! Kein Laut kam aus der Wohnung. Trotzdem ging er – nachdem er fest an die Tür geklopft und: „Aufmachen, NCIS!“ gerufen hatte – sofort wieder aus der Schusslinie und drückte sich wieder mit dem Rücken an die Wand, doch nichts passierte. Der Chefermittler gab Ziva ein Zeichen und als die Israelin bestätigend nickte, griff er nach dem Wohnungsschlüssel und öffnete leise die Tür. Immer noch drang kein Laut aus dem Appartement und so drangen die beiden erfahrenen Agents schließlich sich gegenseitig Deckung gebend in die Wohnung ein. Schnell waren alle Räume gesichert und es war klar, dass sich niemand in den Räumen versteckt hielt, also wurde mit der genaueren Untersuchung der Räume begonnen.

 

„So ein Mist“, schimpfte Ziva kurz darauf los, als sie die Türen des Einbauschranks im Schlafzimmer nacheinander öffnete. Schnell ging sie noch hinüber zur Wäschekommode und riss beinahe die Schubladen auf. „Der Käfer ist ausgeflogen“, verkündete sie gleich darauf wütend und knallte die letzte Schublade wieder zu. „Es ist kaum Wäsche hier und ich denke, dass auch im Kleiderschrank längst nicht alle Klamotten hängen.“

 

Gibbs ersparte es sich, seine Agentin zu verbessern und nickte nur. Er hatte es schon geahnt. Sie waren zu spät! Mal wieder!

 

Das Team der Spurensicherung und Tim kamen gleichzeitig in der Wohnung an und wurden sofort über den Stand der Dinge unterrichtet. „Tim? Im Wohnzimmer steht ein Laptop auf dem Tisch – sieh´ dir das Ding mal genauer an.“ Der MIT-Absolvent nickte und machte sich gleich an die Arbeit, während das Team der Spusi erst einmal ihre Gerätschaften auspackte und dann systematisch mit dem Sichern der Spuren begann. Griffe, Arbeitsflächen, Waschbecken, Nachttischchen…alles wurde mit dem Puder eingestäubt und in dieser Wohnung fanden sich auch tatsächlich einige – offensichtlich unterschiedliche – Abdrücke. Gibbs war sich sicher, dass sie später die Abdrücke Rebekka und Caulder zuordnen konnten. Nötig war dies zwar eigentlich nicht mehr, denn schließlich wussten sie – dank Bill – ja jetzt bereits sicher, dass sich die beiden schrägen Vögel zusammengetan hatten, aber zusätzliche Beweise, um alles zu untermauern war nie schlecht.

 

Tim meldete sich zu Wort: „Boss?! Hier sind keine Daten drauf – alles wurde gelöscht! Beide Laufwerke sind leer!“

 

Gibbs ballte die Fäuste: „Kannst du´s wiederherstellen?“

 

„Keine Ahnung, aber hier auf keinen Fall!“

 

„Schnapp dir das Ding und mach, dass du zu Abby kommst. Dalli!“

 

„Bin schon weg!“ Mit dem Laptop unterm Arm verließ Tim eilig das Appartement.

 

Gibbs ging in die Küche, wo Ziva gerade die Schränke durchsuchte und dabei auf Caulders Rekonstruktion der Sargverkabelung mit der dazugehörenden Beschreibung stieß. Seine Augen weiteten sich kurz und seine Brauen schossen nach oben, als ihm mit einem Mal klar wurde, was die Israelin da in der Hand hielt. „Ist es das, was ich denke?“, fragte er trotzdem.

 

Ziva lief ein kalter Schauer über den Rücken als sie leise antwortete. „Ich denke schon… Dieses Miststück wollte Tony lebendig begraben und zusehen wie er stirbt!“ Sie war im Begriff das Beweisstück wütend an die Wand zu pfeffern, als Gibbs´ mahnendes „Ziva…“, sie gerade noch rechtzeitig innehalten ließ. Seufzend stellte sie das Modell auf der Arbeitsfläche ab und drehte sich wieder zu ihrem Boss um. „Gibbs, das ist doch krank!“

 

„Natürlich!“ Der Grauhaarige traf eine Entscheidung. „Komm, lass uns zurück ins Hauptquartier fahren – wer weiß, vielleicht haben Abby und Tim ja schon was mit dem Laptop erreicht. Und mit ein bisschen Glück finden wir ja raus, was die beiden jetzt vorhaben.“

 

Die beiden gaben dem Team der Spusi noch einige Anweisungen, genauso wie sie im Foyer des Hauses noch einmal mit Bill sprachen, der ihnen versprach, sie umgehend zu informieren, falls Rebekka und Caulder es tatsächlich wagen sollten, zur Wohnung zurückzukehren, was aber ja eher unwahrscheinlich war. Trotzdem, man konnte nie wissen…

 

66. Kapitel

Außerhalb von Miami – Im Reservat

 

Tony und Anna standen auf einer kleinen Lichtung und betrachteten interessiert ein einfaches Gebäude, das dort aufgebaut war und in dem früher die Indianer ihr bescheidenes Dasein gefristet hatten. Gerade huschte eine ziemlich große Eidechse vor ihren Füßen davon, und verschwand panisch in einem seitlich stehenden Busch, als sie plötzlich ein leises Geräusch hinter sich hörten.

 

So leise wie möglich war Rebekka den beiden gefolgt. Sie hatte gesehen, wie Tony und die Frau auf dem kleinen Platz vertieft das einfache Gebäude betrachteten und der davon eilenden Eidechse nachsahen. Ein schneller Blick nach hinten hatte ihr gezeigt, dass sich keine weiteren Besucher auf dem Pfad näherten. – Das war die Gelegenheit auf die sie so lange gewartet hatte! Ein unbewaffneter, immer noch leicht gehandicapter Agent in Begleitung einer wie-auch-immer-Gestörten…ein Klacks für sie. Damit würde sie locker fertig! Mit zwei, drei schnellen Schritten war sie auf der Lichtung und ihre Blicke bohrten sich in den Rücken des verhassten NCIS-Agenten.

 

Als Tony das Geräusch hinter sich hörte, stellten sich unwillkürlich seine Nackenhaare auf. Alles Mögliche hätte in dieser Gegend ein Geräusch verursachen können, ein Tier, der Wind in den Büschen, weitere Besucher, die dem Pfad folgten… doch sofort überfiel ihn dieses eisige Gefühl, als er Rebekkas Blicke auf seinem Körper spürte. Ruckartig fuhr er herum – und da stand sie! Er konnte ihre hasserfüllten Augen hinter dem dunklen Glas der Sonnenbrille nicht sehen, aber konnte sich den Ausdruck in den eiskalten Pupillen lebhaft vorstellen. Seine Hand zuckte automatisch zu seiner Hüfte, an der er normalerweise seine Waffe trug – aber er griff ins Leere. Seine Waffe lag seit Monaten sicher verwahrt in Gibbs Schreibtisch. Er stand seiner ärgsten Feindin gegenüber und…er war absolut wehrlos!

 

Erschreckt von Tony´s hastigen Bewegung zuckte Anna hoch, die zuvor in die Knie gegangen war, um dem farbenfrohen Reptil noch besser nachschauen zu können. Ängstlich und verwirrt musterte sie ihren Begleiter, der in verkrampfter Haltung in Richtung einer ihr unbekannten Frau, die nur wenige Meter von Ihnen entfernt auf der Lichtung stand, blickte. Instinktiv spürte sie, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Ihr Kopf flog hin und her zwischen ihrem neuen Freund und der Fremden. Und dann erkannte sie plötzlich, warum Tony so aufgewühlt war. Die Frau hatte eine matt glänzende, ziemlich große Waffe in der Hand, die vorne mit einem dicken Zylinder versehen war. Sie kannte sich mit Waffen nicht aus, aber dass das ein Schalldämpfer war, wusste sie. Das Gefühl der Angst wich augenblicklich einer ausgewachsenen Panik und hilfesuchend suchte sie Tony´s Blick einzufangen.

 

In diesem Augenblick griff Tony nach Anna´s Arm und versuchte, sie diskret hinter seinen Körper zu bugsieren, doch der Versuch wurde bereits im Ansatz gestoppt, als Rebekka barsch befahl: „Keine Bewegung! Wag es ja nicht!“ Um ihre Worte zu unterstreichen, ruckte die Pistole ein wenig hoch.  

 

„Hör zu, das ist doch eine Sache zwischen uns“, brachte Tony mit belegter Stimme hervor. „Lass sie da raus – sie hat dir nichts getan – du willst doch mich! Also, was soll das?“

 

„Ja, ganz recht, ich will dich! Aber nicht mit einem schnellen Schuss! Wenn es nach mir geht, hast du noch lange nicht genug gelitten. Und wenn ich diese Kleine vor deinen Augen qualvoll töten werde, dann leidest du! Das sehe ich dir an.“ Langsam hatte sie ihre Pistole auf Anna gerichtet, die wie paralysiert auf die Waffe starrte. „He, Kleine“, höhnte Rebekka. „Was ist los mit dir? Bist du stumm? Das wäre aber schade! Ich will dich doch schreien hören! Komm schon, enttäusch mich nicht! Ich kann Enttäuschungen nämlich nur sehr schwer ertragen, musst du wissen. Die Folgen davon – nein, das willst du vermutlich nicht wissen. Falls doch…frag Tony. Der kennt sich da bestens aus!“ Sie lachte böse auf und schwenkte kurz die Waffe. „A pro pos: Tony, Schatz, willst du uns nicht einander vorstellen? Wo hast du denn deine Umgangsformen gelassen?“

 

Tony suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um Rebekka davon abzuhalten, auf die unschuldige Frau an seiner Seite zu schießen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass ein falsches Wort genügte, diese Irre ausflippen zu lassen und genau das war das fatale an dieser Situation…das Rebekka so unberechenbar war. Noch während er seine Wortwahl überlegte, sprach die israelische Terroristin schon weiter: „He, was hältst du von der Idee: Vielleicht gebe ich dir ja eine Chance, sie zu retten. Du tust genau das, was ich dir sage, und wer weiß … vielleicht lasse ich sie ja dann laufen.“ An Anna gewandt sagte sie: „Und du parierst ebenfalls aufs Wort, klar? Denn ansonsten schieße ich deinem Freund ein Loch in den Bauch. Du darfst mir glauben, mein kleines Spielzeug hier macht hässliche Löcher. Du hättest dann – bevor ich dich töte – zuvor das Vergnügen, dem Schwächling beim Verbluten zuzusehen. Aber wenn du ganz brav bist, bleibt ihr beide vorerst am Leben und Superagent Tony kann überlegen, wie er dich vielleicht retten kann.“ Eiskalt lächelnd sah sie daraufhin wieder zu Tony: „Denn das tust du doch schon, das sehe ich dir an.“  

 

Damit hatte Rebekka auf jeden Fall Recht. Fieberhaft suchte der NCIS-Agent nach einer Möglichkeit, wenigstens Anna vor der Hexe retten zu können. Wenn er sich in einer Überraschungsaktion auf die Israelin stürzen würde, könnte seine blonde Schutzbefohlene vielleicht fliehen und mit ein bisschen Glück würde sie an der Arena vorbei das Café, und somit die anderen, erreichen können. Aber ein schneller Blick hinüber zu Anna ließ ihn erkennen, dass die junge Frau vollkommen unter Schock stand. Vermutlich würde sie sich keinen Millimeter von der Stelle bewegen, während er selbst wahrscheinlich so schwer verletzt werden würde, dass er nichts mehr für Anna würde tun können. Das war ihm im Moment zwar vollkommen egal, aber Anna durfte einfach nichts passieren. Das könnte er nicht ertragen. Nur wegen ihm hatte sie sich schließlich diesem Ausflug angeschlossen – unter anderem auch darum fühlte er sich für die neue Freundin mitverantwortlich. Deshalb wandte er sich nun ganz langsam zu ihr um und sprach sie ruhig und eindringlich an: „Anna, sieh mich an. Bitte…Anna...komm schon…“

 

Langsam löste sich die Starre der blonden Frau und mit feucht glänzenden Augen sah sie Tony an. Er bemerkte, dass ihre Unterlippe zitterte und ihre Brust sich aufgrund der unregelmäßig ausgestoßenen Atemzüge schwer hob und senkte.

 

„Anna, bleib ganz ruhig, hörst du! Keine Panik! Tu' einfach, was sie verlangt. Dann wird schon alles gut werden. Glaub mir!“ Er wunderte sich nicht, dass Anna ihn nur ungläubig anstarrte. Wer konnte es ihr verdenken? Er glaubte ja selbst nicht an seine Worte, aber Zeit zu gewinnen, war vorerst das wichtigste Ziel. Vielleicht würde sich dann ja für ihn doch eine Chance ergeben, Rebekka zu überwältigen. Vielleicht wurde sie ja im Hochgefühl, gewonnen zu haben, für einen Moment lang unaufmerksam. Vielleicht gelang es ihm, ihr die Waffe zu entwenden, denn wenn sie ihre Gefangenen ungesehen hier heraus bringen wollte, musste sie sich ihnen nähern! Vielleicht war das Glück ja endlich auch einmal auf seiner Seite. Vielleicht ...

 

Böse schmunzelnd hatte die Killerin die Szene verfolgt. „Na los, Kleine, komm' her. Aber ganz langsam. Keine hastigen Bewegungen, klar!?“

 

Nach einem letzten verzweifelten Blick zu Tony setzte sich Anna in Bewegung und ging auf Rebekka zu. Als sie dort angekommen war, packte diese das völlig verängstigte Mädchen hart am rechten Arm, riss sie förmlich zu sich herum und hakte sich bei ihr unter, als ob sie die besten Freundinnen wären. Dann drückte sie ihr den Lauf der Waffe fest in die Seite, gut getarnt vor eventuellen Blicken durch ein buntes Seitentuch, das sie sich zuvor locker über den Arm gehängt hatte. „Hör mir gut zu: Wir werden jetzt völlig entspannt den Weg zu Ende gehen. Dann laufen wir durch die Ausstellungsräume zum Parkplatz auf der vorderen Seite. Auf eure Freunde im Lokal braucht ihr nicht zu hoffen, die sehen von dort aus nichts. Ihr beide bleibt völlig ruhig, dann passiert euch auch nichts. Wenn ihr hingegen versucht, nach Hilfe zu rufen oder sonst wie die Aufmerksamkeit auf euch zu lenken, dann lege ich nicht nur euch beide um, sondern jeden, den ich sonst noch erwische. Tony, du weißt, dass ich das tue. Sag´s ihr!“ Kalt blickte sie zu Tony, der langsam bestätigend in Richtung Anna nickte. „Sehr schön, brav!“ Rebekka nickte tief befriedigt, bevor sie fortfuhr. „Also los, du gehst voraus und ich folge dir mit unserem blonden Engel hier am Arm. Nicht wahr, Schätzchen, wir verstehen uns?“ Mit einem kräftigen Druck des Pistolenlaufes in Anna´s Rippen, den diese mit einem nur mühsam unterdrückten Schmerzenslaut quittierte, unterstrich die Israelin ihre Frage, bevor sie mit einer Kopfbewegung ihren Geiseln bedeutete, dass es nun losging!  

 

Während Tony sich langsam in Bewegung setzte und vor Rebekka her ging, überlegte er fieberhaft, was er tun könnte. Verstohlen blickte er sich um, nur um festzustellen, dass es keine Chance auf Unterstützung gab. Zahlreiche Familien mit Kindern hielten sich in ihrem näheren Umfeld auf, auch einige turtelnde Pärchen sowie ein Rentnerehepaar. Es war offensichtlich, dass niemand aus diesem Personenkreis dazu in der Lage wäre, Rebekka Paroli zu bieten. Und er selber? Gab es für ihn womöglich doch eine Chance, seine Feindin noch auf dem Gelände durch einen Überraschungsangriff auszuschalten? Eher nicht, entschied Tony gleich darauf. Bevor er Rebekka würde überwältigen können, hätte sie ihn wahrscheinlich schon feige in den Rücken geschossen, außerdem Anna und vermutlich so viele unschuldige Menschen, wie ihre Pistole Schüsse hergab. Das durfte er nicht riskieren. Er machte sich nichts vor: Rebekka kannte keinerlei Skrupel. Sie würde auf alles schießen, was ihr vor den Lauf kam. Dabei wäre es ihr völlig gleichgültig, ob es sich dabei um Kinder oder ältere Menschen handelte. Er blickte kurz über seine Schulter zurück.  Rebekka ging gerade mit einem strahlenden Lächeln scheinbar Arm in Arm mit Anna mitten durch eine Familie mit Kleinkindern hindurch. Sie besaß sogar die Dreistigkeit, im Vorbeigehen einen Blick in den Kinderwagen zu werfen, Anna einen leichten Rippenstoß zu verabreichen und sich ein „Oh, schau doch mal, wie süß“, abzuringen. Sie zeigte keinerlei Besorgnis, dass sie entdeckt werden könnte. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment und Tony wusste sofort, dass er Recht mit seiner Vermutung hatte: Rebekka würde  nicht den Bruchteil einer Sekunde zögern, auf der Stelle ein Blutbad anzurichten. Er musste warten und hoffen, dass sich später noch eine Gelegenheit für ihn ergab.

 

Spätestens als sie fast bei Rebekkas Wagen angelangt waren, wurde auch diese letzte Hoffnung abrupt zerstört. Am Auto lehnte betont lässig mit verschränkten Armen – Sam Caulder! Tony ballte in stummer Wut und Verzweiflung seine Hände zu Fäusten. Dieser verfluchte Schweinehund! Sich mit Rebekka zu verbünden, hätte er nicht mal diesem Verräter zugetraut.

 

„Na, überrascht mich zu sehen?“, richtete Caulder breit grinsend das Wort an Tony.

 

„Bei einem Dreckskerl wie dir sollte mich eigentlich nichts überraschen können, aber das…“ DiNozzo brach ab, als Rebekka direkt neben ihm auftauchte. Sie blickte sich kurz um und stellte dabei fest, dass sich außer ihnen im Augenblick niemand auf dem Parkplatz befand.

 

„Los, DiNozzo – stell` dich an den Wagen. Mach schon! Hände dagegen!“, befahl sie ihm ungerührt und presste Anna die Pistole noch etwas fester in die Seite, was die wiederum mit einem unterdrückten Schluchzer begleitete. Tony sah ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als zu gehorchen. Sofort war Caulder hinter ihm, packte grob Tony´s Arme und bog diese ohne viel Federlesens zu machen brutal nach hinten. Kurz darauf hörte der Halbitaliener das Klicken von Handschellen und zuckte gleich darauf vor Schmerz zusammen, als der ehemalige NCIS-Agent diese so fest zusammendrückte, dass sie viel zu eng saßen und tief in Tony´s Handgelenke schnitten. Tony bekam keine Chance, durchzuatmen. Caulder packte ihn an den Haaren und stieß ihn zu der geöffneten Autotür. Als Tony daraufhin in s Stolpern geriet, nutzte der Ex-Agent die Gelegenheit, Tony´s Kopf absichtlich hart gegen den Türrahmen zu schlagen, wobei der eine stark blutende Platzwunde an der Augenbraue, die bei der Aktion breit aufplatzte, davontrug. Gleich darauf spürte Tony einen weiteren heftigen Schlag, der ihn ins Auto auf den Rücksitz beförderte, wo er mit einem leisen Stöhnen liegenblieb. Er sah Sterne und musste sich erst einmal sammeln. Daher bekam er auch kaum mit, dass sich Rebekka neben ihn setzte, während Anna auf dem Beifahrersitz Platz nehmen musste. Caulder stieg unterdessen auf der Fahrerseite ein.

 

Das alles hatte nur wenige Minuten Zeit in Anspruch genommen und so befanden sie sich schon kurz darauf wieder auf der Straße und fuhren unbehelligt in Richtung Miami. Niemand hatte von der dreisten Entführung etwas bemerkt.

 

67. Kapitel

DC – Im Hauptquartier

„Hey, ihr beiden, was habt ihr für uns?“ Selbstverständlich davon ausgehend, dass Abby und Tim bereits etwas gefunden hatten, betrat Gibbs in Begleitung von Ziva das Labor und schritt zügig auf den Tisch zu, an dem die beiden Angesprochenen einträchtig fieberhaft arbeiteten. Abby wandte sich ihnen zu.

„Gibbs, Ziva, hey, ihr kommt wahrscheinlich genau richtig. Tim ist mein Held – ihm ist es tatsächlich gelungen, die gelöschten Daten von der Festplatte des Laptops wieder herzustellen.“

„McGee?“

Der fühlte sich sichtlich unwohl, als sich daraufhin drei Augenpaare gespannt auf ihn richteten. „Nun ja, ich bin noch nicht ganz so weit“, gestand er und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den kleinen Computer. „Aber es sieht ganz gut aus. Wenn wir Glück haben, wissen wir gleich zumindest welche Internetseiten zuletzt besucht wurden.“

„Das ist alles?“, fragte Ziva enttäuscht. „Mehr hast du nicht?“

„Nun warte doch erst einmal ab – vielleicht bringt uns das ja weiter. Außerdem tu´ ich was ich kann.“

„Sorry, ich weiß ja“, ruderte die Israelin zurück. „Es ist nur so, dass mich die Ungewissheit gerade krank macht. Wir sind auf der richtigen Spur – die Spurensicherung hat eben schon angerufen. Caulder war definitiv in der Wohnung – sie ist voll von seinen Fingerabdrücken“, berichtete sie dann das Neueste. Da Sam Caulders Fingerabdrücke natürlich in seiner Personalakte hinterlegt waren, war der Abgleich mit den in der Wohnung gefundenen Abdrücken, die nicht von Rebekka stammten, einfach und schnell gegangen. Leider hatten sie bislang nicht die Spur eines Hinweises, wo sich die beiden Gesuchten gerade aufhielten. „Gibbs, ich habe kein gutes Gefühl – lass uns in Miami anrufen“, bat sie nun ihren Chef. „Ich finde, wir sollten Tony zumindest warnen – auch wenn wir damit womöglich schlafende Tiere wecken.“

McGee wollte seine Kollegin gerade verbessern, als der Laptop endlich die gewünschten Daten offenbarte. Elektrisiert richtete er sich auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er aufgewühlt auf den Bildschirm. „Verdammt“, murmelte leise vor sich hin, „woher konnten sie das bloß wissen…“

Abby warf einen schnellen Blick über seine Schulter und schlug gleich darauf mit einem erstickten Laut des Entsetzens die Hände vor´s Gesicht.

„Was ist los?“, erkundigte sich Gibbs alarmiert.

„Ich habe die zuletzt aufgerufenen Internetseiten wieder herstellen können“, antwortete McGee. „Ein Routenplaner und verschiedene Motels…in Miami.“, setzte er dann nach einer Pause, in der er wie wild die Tastatur bearbeitete, hinzu.

„Das darf doch alles nicht wahr sein!“ Gibbs hatte schon sein Handy in der Hand und scrollte verzweifelt nach der Nummer der Klinik. Ziva tat es ihm gleich und wählte mit leichenblassem Gesicht schon die direkte Durchwahl von Tony´s Zimmer an – eine Nummer, die sie inzwischen im Schlaf heruntersagen konnte…


Irgendwo in den Everglades - Zeitgleich

Eine halbe Stunde war inzwischen seit der dreisten Entführung von Tony und Anna vergangen. Eine halbe Stunde, in der lediglich Rebekka hin und wieder davon sprach, wie gut sie die zwei Tage mit Tony im Keller gefunden hatte und dass sie sich Mühe geben würde, das noch zu toppen. Tony verdrehte angesichts der kranken Phantasien der Israelin nur die Augen, während Annas Entsetzen von Minute zu Minute zunahm. Allerdings machte sich auch Tony keine Illusionen darüber, dass Rebekka alles daran setzen würde, ihre verrückten Pläne umzusetzen. Sein Gehirn ratterte trotz seiner Kopfschmerzen in einem fort, doch im Augenblick sah er keine Chance, den beiden zu entkommen. Es blieb ihnen im Moment nichts anderes übrig, als abzuwarten. Jaaa, wenn es nur um ihn alleine ginge, dann würde es vielleicht etwas riskieren – schließlich hatte er nichts zu verlieren. Aber er war nicht alleine. Er musste auch an Anna denken, die offenbar völlig verstört mit ihm Wagen saß. Auf keinen Fall sollte der jungen Frau, die schon so viel in ihrem Leben durchgemacht hatte, etwas passieren, das hatte Tony sich geschworen.

Endlich geschah etwas! Sie bogen von der Straße ab und fuhren noch eine kurze Strecke mitten in die Sümpfe hinein. Tony versuchte verzweifelt, sich den Weg zu merken, den der Wagen nahm. Schließlich konnte man nie wissen, wann sie eine Chance zur Flucht bekamen und er hatte nicht vor, zu fliehen, nur um gleich darauf in den Sümpfen als Mittagsmahlzeit eines Alligators zu enden. Caulder bremste und hielt den Wagen an, woraufhin Rebekka mit Tony und Anna ausstieg. Caulder hingegen wendete schweigend den Wagen und fuhr allein weg. Während sich DiNozzo fragte, was das wohl sollte, befahl ihm Rebekka, sich flach bäuchlings auf den Boden zu legen und zu warten. Sie selbst hielt sich mit Anna im Arm und der Waffe im Anschlag ein paar Meter entfernt von ihm auf. Als Tony einmal vorsichtig seinen Kopf hob, stellte er fest, dass Anna sich anscheinend immer noch in einer Art Schockstarre befand. Er konnte es drehen und wenden wie er wollte: Die Situation war und blieb aussichtslos. Es war zum verrückt werden! Einzig Rebekka machte einen ausnehmend gut gelaunten Eindruck. Kunststück – er konnte sich die Vorfreude der kranken Psychopatin lebhaft vorstellen und diese Vorstellungen trieben ihm den Angstschweiß den Rücken hinunter.

Einige Zeit später hörten sie plötzlich das laute Motorengeräusch eines Airboates. Kurz darauf lenkte Caulder das Boot an den Rand des kleinen Platzes.

„Mensch, ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr“, wurde er von seiner Partnerin statt einer Begrüßung angekeift.

„Hey, nur die Ruhe – es ist gar nicht so einfach, so ein Ding zu klauen. Ich musste warten, bis sich diese verdammten Ranger zur Pause verzogen hatten.“

„Hättest du sie doch einfach umgelegt.“

„Ja klar, sonst hast du keine Probleme. Es fällt ja auch gar nicht auf, wenn da plötzlich fünf oder sechs Ranger tot herumliegen“, höhnte Caulder. „Du kannst es wohl gar nicht mehr abwarten, wie? Du kommst schon noch zu deiner Folter – jetzt bin ich ja da!“

Unter anderen Umständen hätte Rebekka den Ex-Agent für diese Frechheit ihr gegenüber eiskalt um die Ecke gebracht, aber noch brauchte sie ihn. Noch! Also schnaubte sie nur unwirsch, bevor sie zu DiNozzo hinüber ging und zwei, dreimal mit aller Kraft in die Rippen trat. Dabei ließ sie Anna keinen Moment lang aus den Augen.

„Los, komm hoch, du Weichei! Rauf auf´s Boot – und versuch´ ja keine Mätzchen. Du weißt, was ihr dann blüht“. Rebekka wurde nicht müde, Tony die Konsequenzen eines möglichen Fluchtversuches deutlich zu machen und so folgte er widerspruchslos ihren Befehlen, rappelte sich mühsam hoch und stolperte in Richtung Ufer.



DC – Im Hauptquartier

„Er geht nicht ran“, flüsterte Ziva und presste zitternd ihr Handy ans Ohr. „Komm
schon, Tony! Bitte! Geh ans Telefon! Bitte!“

„Mach dich nicht verrückt“, meinte McGee und legte beruhigend eine Hand auf Ziva´s Arm. „Guck auf die Uhr – Tony sitzt wahrscheinlich gerade fröhlich beim Mittagessen und schlägt sich den Bauch mit Pizza voll, während wir uns hier umsonst Sorgen machen.“ Kaum hatte er ausgesprochen verzog er sein Gesicht. Irgendwie merkte er selber, dass er nicht sehr überzeugend klang.

„Gibbs?!“ Ziva warf dem Grauhaarigen, der ebenfalls noch auf eine zustande kommende Verbindung wartete, einen flehenden Blick zu. In diesem Augenblick ging ein Ruck durch den Körper des Teamleiters.

„Ja? Gibbs hier! Dr. Seltwick? Ich muss Anthony DiNozzo sprechen! Sofort! Es ist wichtig!“ Er lauschte einen Moment lang und beendete dann das Telefonat grußlos, wobei sein Gesicht Bände sprach. „Er ist nicht da“, berichtete er dann tonlos und ignorierte Abby entsetzten Aufschrei. „Hört zu, das hat nichts zu bedeuten. Er ist heute Morgen lediglich mit einigen anderen zu einem Ausflug in die Everglades aufgebrochen.“

„Was?“, flüsterte Ziva fassungslos. „Aber wie…wie kann er das denn machen? Er sollte doch in der Klinik bleiben.“

Gibbs ging nicht darauf ein. „Dr. Seltwick versucht, diesen Randy, mit dem Tony sich angefreundet hat, zu erreichen, aber er meint, dass die Aussichten schlecht stünden, da in den Everglades der Empfang wohl größtenteils sehr schlecht ist“, teilte er seinen Leuten deprimiert mit, bevor er sich schließlich in seiner Hilflosigkeit ein paar Mal über den Kopf wischte. „Ich bring ihn um“, stieß er wütend dabei hervor. „Ich schwör´s, wenn Rebekka ihn nicht erledigt, tu ich´s! Dieser verdammte Idiot!“

Ziva atmete einmal tief durch und straffte ihren Körper. „Mir reicht´s“, sagte sie dann fest entschlossen. „Egal, was du sagst, Gibbs. Ich nehme den nächsten Flieger. Wer kommt mit?“

68. Kapitel

Das Gefängnis in den Sümpfen

Über eine Stunde rasten sie nun schon mit dem Airboat durch die Everglades, aber Tony hatte keinen Blick für die Naturschönheiten. Fieberhaft versuchten seine Augen die schnell wechselnden Uferansichten zu speichern. Verzweifelt suchte er nach prägnanten Anhaltspunkten, die ihm und Anna eventuell bei einer späteren Flucht hilfreich sein konnten, doch zu seinem größten Bedauern gab es da nicht sonderlich viel. Die Uferlandschaft bot kaum Abwechslung und auch innerhalb der Sümpfe gab es nur sehr wenige Orientierungspunkte. Es war zum Verrücktwerden! Zwischendurch blickte er immer wieder frustriert hinüber zu Anna, die völlig apathisch schweigsam an Rebekkas Seite saß. Es tat ihm so weh, dass sich die junge Frau seinetwegen nun schon wieder in der Gewalt von Psychopathen befand und er nicht dazu in der Lage war, ihr helfen zu können. Kurz fragte er sich, was zum Teufel er eigentlich für ein Agent war, dass diese Irre es immer wieder schaffte, ihn zu übertölpeln. Seine einzige Hoffnung waren die anderen, die derzeit wohl noch ahnungslos in dem Café ihren Spaß hatten. Irgendwann würden Randy und Clark ihn und Anna vermissen. Doch allzu große Hoffnungen setzte er nicht darauf, denn bis dieser Zeitpunkt kam, waren sie vermutlich schon Meilenweit entfernt. Die Frage war, was die Anderen unternehmen würden, wenn ihnen auffiel, dass sie sich nicht mehr auf dem Gelände des Naturparks befanden. Würden sie die Ranger informieren oder sich an Dr. Seltwick wenden? Hoffentlich wendeten sie sich nicht zuerst an die Polizei – dann würde es noch länger dauern, bis sich endgültig jemand nach ihnen auf die Suche machte. Außer Anna, mit der er über sein Problem geredet hatte, wusste schließlich nur Dr. Seltwick Bescheid. Der würde sicher nicht zögern, gleich Gibbs anzurufen und der wiederum würde dann umgehend Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Ziva würde sich sicher gleich in den nächsten Flieger setzen… Ziva…Oh Gott, wenn seine Verlobte davon erfuhr, dann wäre sie sicherlich schwer sauer auf ihn, dass er sich über die Anordnungen hinweg gesetzt hatte. Unwillkürlich schlich sich trotz der widrigen Situation ein flüchtiges Lächeln beim Gedanken an seine vor Wut schäumende Freundin auf seine Lippen. Ziva! Er fand sie einfach wunderschön. In jeder Lebenslage, aber wenn sie wütend war – so richtig wütend – dann war sie einfach atemberaubend. Dies war auch in früheren Zeiten mit ein Grund dafür gewesen, dass er sie so gerne auf die Palme gebracht hatte. Hoffentlich kam er in diesem Leben noch einmal in den Genuss, seine Verlobte wütend zu erleben – selbst wenn sich diese Wut einmal mehr auf ihn richtete! Ein heftiger Schlag in seine Rippen riss ihn abrupt aus seinen Gedanken und ließ ihn kurz aufstöhnen.

„Was grinst du so blöde, du Weichei?“ Rebekka starrte ihr Opfer aus zusammengekniffenen Augen misstrauisch an.

Tony richtete sich gerade auf und erwiderte ihren Blick offen und ohne mit der Wimper zu zucken. „Wegen dir bestimmt nicht“, schleuderte er ihr entgegen, ungeachtet der Tatsache, dass er die Wut der Israelin auf ihn damit wahrscheinlich nur noch weiter anstachelte. So war es auch, denn er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da traf ihn der Lauf ihrer Pistole so hart an der Schläfe, dass er fast über Bord ging. Im letzten Moment gelang es ihm mit Hilfe von Rebekka, die ihn reflexartig an seinem Kragen zurück ins Boot riss, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Hart polterte Tony zurück ins Bootinnere, wobei seine linke Schulter schmerzhaft Bekanntschaft mit der hölzernen Sitzbank machte. Die Platzwunde vom Parkplatz riss wieder auf und Blut tropfte über sein Hemd auf den Boden des Bootes, während er mit großen Augen erschrocken auf ein kleines Reptil starrte, dass offensichtlich durch den Motorenlärm aus seinem Mittagsschlaf gerissen worden war und nun mit einer hektischen Bewegung wütend nach dem Unruhestifter schnappte.

Von seinem erhöhten Steuersitz herunter lachte Caulder hämisch. „Hey, Rebekka, wenn du nicht aufpasst, endet der Superagent noch als Alligatorenfutter bevor wir unseren Spaß mit ihm hatten.“ Absichtlich fuhr er eine rasante Kurve, wodurch Tony noch einmal gegen die Sitzbank geschleudert wurde. Caulder weidete sich an dem Anblick seines ehemaligen Kollegen, der nass, blutend und mit Schmerzen zunächst einmal auf dem Boden sitzenblieb. Dann bemerkte er Rebekkas Gesichtsausdruck und das Lachen blieb ihm förmlich im Halse stecken.

„Wenn DU nicht aufpasst, mein Lieber, bist du der Erste, der DiNozzo folgt“, fauchte sie in seine Richtung und unterstrich ihre Worte mit einer eindeutigen Handbewegung. „Fahr gefälligst vernünftig – wir können es uns nicht leisten Aufsehen zu erregen – waren das nicht deine Worte?“

„Ich…“

„Halt dich gefälligst daran!“, keifte Rebekka. „Ich will keine Ausreden hören, klar?“

Tony warf Caulder vom Bootsboden aus einen gespielt mitleidigen Blick zu. „Du bist tot, Caulder. Sowas von tot! Ich hoffe, das weißt du…“

„Ach, halt´s Maul, Arschloch“, erwiderte der Ex-Agent sauer, während er gehorsam das Tempo drosselte.

Mittlerweile hatten sie ein Gebiet erreicht, in dem immer wieder größere Ansammlungen von Mangrovenbäumen auftauchten. Plötzlich verlangsamte Caulder das Tempo des Bootes noch einmal deutlich und Tony bemerkte, wie er zielstrebig auf eine kleine Insel mitten in dem Sumpfgebiet zusteuerte. Erst als sie schon fast anlegten, erkannte er eine kleine Hütte inmitten der überwucherten Vegetation. Gleich darauf verstummte der Motor und Caulder sprang vom Boot, um es anschließend mit überraschend geübten Griffen an einem Baumstamm zu vertäuen.

Die kleine Gruppe Menschen verließ das Boot. „Nun, wie gefällt euch euer neues Zuhause?“, fragte Rebekka zynisch, bevor sie Anna ruppig mit sich zog und in die kleine Hütte trat. Caulder trieb Tony mit einer gezogenen Waffe vor sich her, doch plötzlich blieb dieser stehen.

„Hey, was ist los? Weiter mit dir!“

Tony spürte, wie Caulder die Waffe in seinen Rücken drückte und darauf drängte, dass er weiterging. Trotzdem blieb er standhaft. „Ich müsste dringend mal austreten“, sagte er und drehte sich auffordernd zu dem blonden Mann um. Der taxierte ihn genau, bevor er antwortete: „Okay, einverstanden. Aber versuch´ ja keine Mätzchen. Ich hab´ die hier nicht zum Spaß.“ Dabei wedelte er mit seiner Pistole vor seinem Gefangenen herum. Vorsichtig öffnete er Tony´s Handschellen und trat dann schnell wieder ein paar Schritte zurück. „Na los, mach schon! Du erwartest doch wohl nicht im Ernst, dass ich dich dabei alleine lasse, oder?“

„Nein, für so blöd halte ich dich dann doch nicht“, antwortete Tony leichthin, während er seinen Hosenschlitz öffnete. Als er sich erleichtert hatte, blickte er kurz zu der Hüttentür, in der Rebekka verschwunden war, dann wandte er sich leise an seinen Bewacher: „Caulder, hören Sie, sorgen Sie dafür, dass sie wenigstens das Mädchen frei lässt. Sie hat mit der ganzen Sache doch nichts zu tun. Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber lassen Sie in drei Gottes Namen das Mädchen gehen!“

„Warum sollte ich sie freilassen? Um dir einen Gefallen zu tun? Vergiss´ es!“

„Sie waren doch mal Polizist – Agent sogar! Anna ist unschuldig und sie hat wahrlich schon genug mitgemacht. Rebekka kennt keine Skrupel, die tötet Anna nur so zum Spaß. Wenn Sie noch einen Funken Anstand in sich haben, dann können Sie das nicht zulassen.“

Caulder lachte böse auf. „Ganz richtig, DiNozzo – ich war Agent. Dank dir bin ich jetzt keiner mehr. Wie kommst du da nur auf die Idee, dass ich dir helfen würde. – Außerdem…die Kleine sieht nett aus und ein wenig Zeitvertreib zur Entspannung kann bei der Arbeit schließlich nicht schaden, oder? Den hast du dir mit David schließlich auch gegönnt, oder? Erzähl mal, habt ihr´s eigentlich auch im Fahrstuhl getrieben?“

Tony überhörte die letzte Bemerkung geflissentlich. Schließlich wollte er erreichen, dass Anna freigelassen wurde. Also versuchte er eine andere Variante: „Hören Sie mir zu, Sie können Rebekka nicht über den Weg trauen. Sie wissen doch, was sie mir angetan hat. Wenn sie Sie nicht mehr braucht, wird sie Sie eiskalt umbringen. Sie hat bis jetzt noch jeden ihrer Helfershelfer um die Ecke gebracht. Wenn Sie Anna aber jetzt helfen und sie in Sicherheit bringen, dann wird man Ihnen das später sicher positiv auslegen. Ich verlange ja gar nicht, dass Sie mir helfen…aber bringen Sie Anna heil hier raus, okay?“

Caulders Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse. „Bist du jetzt fertig, DiNozzo? Um mir irgendetwas positiv auszulegen, müsste man uns erst einmal kriegen und das wird nicht passieren. Gott, was diskutiere ich hier eigentlich mit dir? Dein dummes Gelabere hat mich früher schon um den Verstand gebracht und das tut es auch heute noch!“

Die Tür der Hütte wurde heftig aufgerissen und Rebekka erschien im Rahmen: „He, was ist los da draußen? Veranstaltet ihr da ein Picknick, oder was?“

Caulder wedelte erneut mit der Waffe vor Tony´s Nase herum. „Du hast sie gehört! Jetzt halt´ endlich die Klappe und beweg´ dich in die Hütte. Los!“ Caulder machte eine letzte unmissverständliche Bewegung mit der Pistole und Tony musste notgedrungen gehorchen. Langsam trat er ins Halbdunkel der einfachen Behausung, wobei er nicht verhindern konnte, dass ihn nun doch Panik vor dem, was ihn und Anna dort erwartete, packte. Im Dämmerlicht erkannte er seine junge Freundin, die in einer Ecke hockte und ihm angstvoll entgegenblickte.


Miami Airport

Ungeduldig marschierten Gibbs, McGee und Ziva nach Erledigung aller nötigen Formalitäten ziemlich genervt durch die Sicherheitsschranken im Flughafeninneren. Der Flug nach Miami war ihnen Allen wie eine Ewigkeit vorgekommen. Nur untätig herumzusitzen und nichts tun zu können war für Alle furchtbar gewesen, obwohl ihnen natürlich klar war, dass dies die schnellste Möglichkeit war, nach Miami zu kommen. Hinzu kam, dass jeder für sich innerlich bitter bereute, dass sie diesen Weg nicht schon früher eingeschlagen hatten. Die Ungewissheit, was mit Tony war, zehrte an ihren Nerven und nun drängte es sie, schnellstmöglich einen Leihwagen zu bekommen, um zur Klinik zu fahren und endlich Näheres über die Umstände von Dr. Seltwick zu erfahren. Abby war nur sehr ungern in DC zurückgeblieben und als Tim nach der Landung sein Handy kontrollierte, hatte sie bereits 5 Nachrichten auf seiner Mail-Box hinterlassen. Leider ging es jedoch jeweils nur darum, ob sie schon Neuigkeiten von Tony hatten und nicht darum, dass sie etwas über den genaueren Verbleib von Rebekka und Caulder herausgefunden hatte. Mit dieser Aufgabe war die Laborgoth betraut worden, doch Abby wäre nicht Abby, wenn sich ihre Gedanken nicht während der Arbeit auch gleichzeitig noch mit der Sorge um ihren besten Freund beschäftigt hätten.

„Agent Gibbs? Leroy Jethro Gibbs?“

Der überraschend so angesprochene drehte sich suchend nach der fremden Stimme um. Wer zum Teufel konnte sie hier erwarten? Etwas seitlich machte er einen schlanken, rothaarigen Mann im Anzug aus, der, trotzdem sie sich im Inneren eines Gebäudes befanden, eine verspiegelte Sonnenbrille trug. Mit leicht schief gelegtem Kopf betrachtete er fragend die kleine Gruppe von Agenten.

„Sind Sie Agent Gibbs?“, wiederholte er dann seine Frage.

„Ja“, antwortete der Grauhaarige und stellte mit kurzen Handzeichen seine Begleiter vor. „Und das sind die Agents David und McGee. Darf ich fragen, wer Sie sind?“

„Natürlich“, antwortete der Mann mit einem angedeuteten Lächeln. „Mein Name ist Horatio Caine vom Miami PD.“ Nachdem der Polizist registrierte, wie sein Gegenüber überrascht die Augenbrauen hochzog, sagte er: „Kommen Sie, gehen wir zu meinem Wagen. Ich erkläre Ihnen unterwegs alles.“

 

69. Kapitel

Wehrlos – oder der Alptraum beginnt

Anna saß in einer Ecke auf dem Boden und war mit einer kurzen Kette an einem Eckbalken angekettet. Rebekka stand neben ihr und wartete schon mit einem eiskalten Lächeln auf Tony. So lange hatte sie sich auf diesen Moment gefreut und nun war er endlich da! Das Gefühl des Triumphes musste sie unbedingt noch einen Augenblick lang auskosten. Gut, eigentlich hatte sie ja etwas anderes für ihr Opfer und diese David-Schlampe geplant, aber da hatte ihr der verhasste Mörder ihres Bruders ja leider einen Strich durch die Rechnung gemacht. Doch das war jetzt alles egal und schon so gut wie vergessen. Nun war er in ihrer Hand und würde büßen für all das, was er ihr angetan hatte. Und für ihre vergeblich investierte Zeit und das verloren investierte Geld in den ursprünglichen Plan konnte sie ihn jetzt hier vor Ort ja noch ein wenig härter ran nehmen. Oh ja, sie würde DiNozzo büßen lassen, bitter büßen, hart, lange, unerbittlich und ohne Gnade! Bald schon würde dieser Scheißkerl sich wünschen nie geboren worden zu sein und sie, sie allein würde dafür sorgen, dass er sie anbettelte, ihn endlich sterben zu lassen. Doch seinen endgültigen Tod würde sie so lange wie möglich hinauszögern – so viel stand mal fest. Zitternd vor Vorfreude stand Rebekka neben Anna und beobachtete mit Argusaugen wie Tony sein neuerliches Gefängnis offenbar niedergeschlagen in Augenschein nahm. Die Israelin atmete hörbar tief ein und aus – verdammt noch mal, dieses Gefühl der Macht war wahrlich besser als ein Orgasmus.

Was Tony sah, gefiel ihm gar nicht. In der nur etwa vier x sechs Meter großen Hütte befand sich in der Mitte ein roh behauener Baum, der das Dach stützte. Etwa in Schulterhöhe gingen links und rechts zwei Streben ab, die der ganzen Konstruktion noch mehr Stabilität verliehen. Es war offensichtlich, dass das nicht der natürlich Zustand der Hütte war, sondern das hier menschliche Hände handwerklich nachgeholfen hatten. Das Holz der seitlichen Streben war eindeutig neueren Datums. Warum der alten Hütte auf diese Weise zu mehr Stabilität verholfen worden war…nun, darüber wollte er sich lieber nicht den Kopf zerbrechen. Ein Blick in Rebekka´s Gesicht reichte aus.

„Los, komm´ her und leg deine Arme oberhalb dieser Streben um den Baum“ befahl sie Tony in diesem Moment mit klirrender Stimme, die das Zittern der Vorfreude nicht verbergen konnte.

Einige Sekunden zögerte Tony, denn er wusste, wenn er erst einmal an diesem Baum gefesselt war, wäre sein Schicksal vermutlich besiegelt. Die nachträglich gezimmerte Konstruktion wirkte auf den ersten Blick sehr stabil und so wie er seine Peinigerin kannte, hatte sie hier keinerlei Nachlässigkeit ihres Helfershelfers geduldet. Doch er hatte keine Chance, irgendetwas dagegen zu machen. Ja, wenn er allein gewesen wäre, hätte er es auf einen Kampf ankommen lassen. Er hätte wenigstens versucht, seine Widersacher zu erledigen, selbst, wenn er dabei umgekommen wäre. Schließlich hatte er nichts zu verlieren und ein schneller Tod war immer noch besser, als langsam von Rebekka zu Tode gefoltert zu werden. Aber da war immer noch Anna! Und auch, wenn er ihr im Moment nicht helfen konnte, so wollte er sie doch nicht allein lassen, denn dann würde Rebekka mit Sicherheit ihre Wut an der jungen Frau auslassen und das konnte und wollte Tony nicht riskieren. Vermutlich würde diese Verrückte Anna später trotzdem töten, aber er hoffte, dass sie dann wenigstens nicht leiden müsste. Außerdem wollte er nicht in dem Bewusstsein sterben, seine neue Freundin ihrem Schicksal ausgeliefert zu haben und somit unmittelbar schuld an ihrem Tod zu sein. Also trat er an den Baum und tat, was Rebekka ihm befohlen hatte. Gleich darauf schlossen sich wieder die Handschellen fest um seine Gelenke und wehrlos musste er nun darauf warten, was sich diese Irre dieses Mal für ihn ausgedacht hatte. Wenn er dabei an das in der Vergangenheit erlebte dachte, war es verdammt schwer, die Panik, die sich seiner bemächtigen wollte, nicht zuzulassen.

Die Israelin trat vor ihr erklärtes Feindbild hin und musterte Tony aus zusammengekniffenen Augen. „Weißt du, dass ich in Washington für dich und diese David-Schlampe etwas ganz besonderes geplant hatte?“ Langsam umrundete sie ihr Opfer, in der Hand hielt sie dabei ein etwa 80 cm langes, armdickes Stück Holz, das sie in einer Ecke der Hütte gefunden hatte. „Ich habe zwei Holzsärge für euch besorgt, in denen ich dich und deine Hure lebendig begraben wollte. Voll ausgerüstet mit Kameras und Mikrofonen. Und ich hätte dich zu gerne dabei zusehen lassen, wie sie zuerst langsam krepiert. Vor dir! Wie ihr nach und nach die Luft ausgeht und sie voller Panik ihre fein manikürten Fingernägel in das Holz des Sarges krallt und sie abbrechen und ihre Nagelbetten blutig reißen. Wie sie sich die Haut bis auf die Knochen abschabt, in dem Bemühen, frei zu kommen. Aber nein, du musstest ja leider feige abhauen“, fauchte sie dann, ungeachtet der Tatsache, dass Tony ja gar nicht hatte wissen können, dass sie noch lebte und immer noch hinter ihm her gewesen war. „Aber wer weiß… bei ihr kann ich das ja vielleicht immer noch tun. Sie wird dich sicher suchen und ich werde sie willkommen heißen, falls sie wider Erwarten doch hier auftauchen sollte.“

Plötzlich stieg unerwartet unbändige Wut in Tony auf. „Du dreckiges Miststück“ schrie er sein Gegenüber unbeherrscht an. „Wenn hier jemand eine Hure ist, dann du! Du bist das ekelhafteste Weib auf dem ganzen Planeten und Ziva wirst du nie erwischen. Im Gegenteil! Sie wird dich fertigmachen und letztlich ausspucken, wie einen Haufen Dreck, der du bist.“ Bei seinen Worten war Rebekka abrupt stehengeblieben und Tony registrierte, wie der überhebliche Ausdruck aus ihrem Gesicht verschwand und das eigentlich hübsche Gesicht der Killerin in eine hässliche Fratze verwandelte. Doch es war ihm egal, dass er sie mit seinen Worten nur noch in ihrem Zorn anstachelte. Niemand sollte in seiner Gegenwart so von Ziva sprechen. Niemand! Er hielt die Luft an und wappnete sich für das, was nun folgen musste. Mit angehaltenem Atem wartete er ab.

Mit giftig zusammengekniffenen Augen fauchte Rebekka: „Das wird dir noch leidtun!“ Langsam ging sie weiter und blieb schließlich in Tony´s Rücken stehen. Caulder beobachtete die ganze Szene lässig an die Wand gelehnt. Er konnte nicht leugnen, dass er sich auf das jetzt folgende Schauspiel freute. Jetzt würde dieser Scheißkerl von DiNozzo endlich seine verdiente Strafe kriegen! In diesem Moment schlug Rebekka das erste Mal zu. So hart sie konnte, hieb sie Tony den Holzprügel in die Nierengegend. Er hatte den Schlag zwar erwartet - trotzdem schoss ihm der Schmerz unvermittelt bis in die Haarspitzen, doch das war erst der Anfang. Immer und immer wieder drosch die Israelin mit dem Holzscheit auf Tony´s Rücken ein. Mittlerweile hatte er längst seine Finger in den Baum, an den er gefesselt war, gekrallt, doch er konnte nicht verhindern, dass er bei jedem Hieb gequält aufstöhnte. Immerhin stehe ich noch auf den Füßen, dachte er still und hörte Anna wie aus weiter Entfernung entsetzt aufschreien. Oh Gott, es tat ihm so leid, dass die junge Frau jetzt schon wieder etwas so Furchtbares miterleben musste. Das würde sie in ihrer positiven Therapieentwicklung sicherlich wieder weit zurückwerfen. Unvermittelt fiel es Tony auf, dass Rebekka ganz plötzlich mit ihren Schlägen inne gehalten hatte und matt ließ er seine Stirn an die raue Rinde des Baumes sinken. Mit geschlossenen Augen atmete er ein paar Mal tief durch. Die Verschnaufpause kam ihm mehr als recht. Sein Rücken war eine einzige Flammenhölle und die Schmerzen tobten wie wild.

Plötzlich jedoch schrie er laut auf – Rebekka hatte ihm das Stück Holz mit voller Wucht gegen sein rechtes Knie geschlagen und sofort darauf auch noch gegen das andere. Abrupt war Tony eingeknickt und die eh schon zu eng geschlossenen Handschellen schnitten sich daraufhin tief in das Fleisch seiner Handgelenke. Grob wurde die Haut eingerissen und Rinnsale von Blut rannen über seine Arme. Mühsam versuchte er, sich wieder aufzurichten und sein Gleichgewicht wiederzufinden, um so seine Handgelenke wieder zu entlasten, doch Rebekka ließ noch lange nicht von ihm ab. Jedes Mal, bevor sie wieder auf seine Schienbeine und Knie einschlug, blickte sie ihm zuvor tief in die Augen und weidete sich an seinem Schmerz. Darauf hatte sie so lange gewartet. Fast hätte sie vor Lust und Wonne aufgestöhnt, so sehr weidete sie sich am Schmerz ihres Opfers. Sie hätte noch stundenlang so weitermachen können, doch sie wollte gleichzeitig auch aufpassen, dass sie es nicht schon zu Beginn übertrieb. Aber sie ließ doch erst wieder von Tony ab, als er vor Schmerz schon fast ohnmächtig wurde. Da beschloss seine Peinigerin, dass es für´s Erste genug war. Schließlich sollte das Objekt ihrer Begierde noch ein wenig durchhalten. Seine Qualen sollten lange dauern, sehr lange.

Anna hatte inzwischen in der Ecke der Hütte ihr Gesicht hinter ihren Armen vergraben und schluchzte leise, aber hemmungslos vor sich hin.

Völlig ausgepowert von der Kraftanstrengung, aber trotzdem hochzufrieden trat Rebekka vor Tony´s schmerzverzerrtes Gesicht. „So, mein Lieber, das war erst der Anfang! Heute Nacht werde ich mir einfallen lassen, womit ich dich morgen überrasche. Und glaube mir, ich werde etwas Außergewöhnliches für dich finden! Wir wollen doch nicht, dass hier Langeweile aufkommt.“ Mit diesen Worten warf sie den Holzprügel achtlos in eine Ecke und ging auf die Tür der kleinen Hütte zu. „Los komm´“, sagte sie zu Caulder. „Wir fahren zurück. Die beiden hier werden wohl keine so angenehme Nacht haben wie wir, was meinst du, Schatz“, setzte sie mit einem anzüglichen Lächeln hinzu, was Caulder mit einem angedeuteten Zungenkuss kommentierte.

Tony verzog angesichts des Schauspiels angewidert das Gesicht. „Caulder, du bringst mir tatsächlich noch etwas bei. Jetzt weiß ich endlich, was eine männliche Prostituierte ist. Du bist ihr Toyboy, nichts weiter. Widerlich!“

Caulder drehte um, kam zu Tony zurück, baute sich vor seinem ehemaligen Kollegen auf und musterte ihn für einen Moment lang schweigend. Dann holte er ohne Ankündigung aus und knallte Tony mit voller Wucht seine Faust ins Gesicht. So fest, dass dessen Kopf mit Wucht nach hinten flog und er gleich darauf einen Zahn ausspuckte. Blut lief aus seinem Mund und er starrte Caulder hasserfüllt schweigend ins Gesicht. Jede weitere Erwiderung erschien ihm in diesem Moment unpassend und er wollte jetzt nur noch, dass die beiden verschwanden.

„Caulder“, erklang da warnend Rebekka´s Stimme und zum ersten Mal in seinem Leben war er der Israelin fast dankbar, denn Caulder drehte tatsächlich bei und folgte seiner Geliebten wortlos nach draußen.

 

70. Kapitel

Auf dem Weg zum Naturreservat – Später Nachmittag

Als die NCIS-Agents zusammen mit dem Mann vom Miami PD das Flughafengebäude verließen, stand die Sonne schon weit im Westen, trotzdem war es noch immer sehr heiß und es schien, als läge eine schwüle Dunstglocke über der Stadt. Die Hitze des Tages hatte nur unmerklich nachgelassen, als sie sich gemeinsam mit Caine auf den Weg zum Parkdeck machten. Der rothaarige Polizist verlor keine Zeit und begann bereits unterwegs mit den Erklärungen.

„Wir wurden vom Leiter der Reha-Klinik Dr. Seltwick informiert. Er hat uns erzählt, dass er – auf Ihren aufgeregten Anruf hin – versucht hat, die Ausflugsgruppe im Reservat zu erreichen. Nach einigem Hin und Her gelang es ihm dann wohl endlich, mit einem gewissen Randy Kontakt aufzunehmen. Von ihm hat der Doktor dann erfahren, dass sich die Gruppe im Indianerdorf getrennt hat und er seitdem keinen Kontakt mehr mit Ihrem Mitarbeiter und einer gewissen Anna hatte. Einige Ranger haben sich daraufhin wohl auf die Suche gemacht und so wie es aussieht, sind die beiden tatsächlich verschwunden. Einer der Ranger meldete, dass er auf dem Parkplatz ein paar Blutspuren gefunden hat. Ich habe bereits mehrere meiner Mitarbeiter dorthin geschickt, um eventuelle Spuren zu sichern, damit wir diese später möglichst schnell analysieren können. Außerdem wollen sie versuchen, mögliche Zeugen ausfindig zu machen, die eventuell den beiden Vermissten im Reservat oder auf dem Weg nach draußen begegnet sind. Dazu ist es natürlich wichtig, dass wir die Besucher abfangen, wenn sie das Gelände verlassen.“

„Gute Arbeit“, lobte Gibbs wider Willen beeindruckt, denn normalerweise stand er Mitarbeitern anderer Behörden eher zwiespältig gegenüber. Aber es beruhigte ihn schon sehr, dass Horatio Caine offenbar wusste, was zu tun war und sich auch nicht scheute, ohne zu Zögern alles Nötige in die Wege zu leiten.

„Das ist mein Job“, antwortete Caine mit einem kleinen Lächeln. „Dr. Seltwick hat außerdem noch einmal versucht, Sie in Ihrer Behörde zu erreichen und dabei erfahren, dass Sie bereits im Flieger hierhin sitzen. Daraufhin beschloss er, uns zu informieren, was zweifellos eine gute Entscheidung war. Dr. Seltwick nannte mir einen Dr. Mallard als Ansprechpartner in DC, der über alles Bescheid wüsste und nachdem ich mit ihm telefoniert habe und er mir alles über die Bedrohung durch diese Israelin erklärt hat, war mir klar, dass schnelles Handeln wichtig ist. Eine andere Ihrer Mitarbeiterinnen, Abigail Sciuto, hat mir bereits alle relevanten Daten über die Zielpersonen zugemailt und wir haben umgehend eine Fahndung nach den beiden eingeleitet. Dieser Caulder ist ein Mitarbeiter Ihrer Behörde, ist das richtig?“

„Ein ehemaliger Mitarbeiter“, gestand Gibbs zähneknirschend. „Er wurde entlassen, nachdem ihm nachgewiesen werden konnte, dass er Anthony DiNozzo fälschlicherweise unter Verdacht gebracht hat für etwas, das dieser Mistkerl selbst verbrochen hatte, nämlich Drogen aus der Asservatenkammer gestohlen und verkauft zu haben. Er muss irgendwie in Kontakt mit Rebekka Rivkin gekommen sein und das Schlimmste, was geschehen konnte, war, dass diese beiden Verbrecher sich zusammengetan haben.“

Inzwischen hatten sie Caine´s Wagen erreicht und Ziva zog überrascht die Augenbrauen hoch, als sie den wuchtigen Hummer des Polizisten aus Miami wahrnahm. `Wow´, dachte sie still bei sich. `Was für ein Dienstwagen. Wenn ich mit so was in DC unterwegs wäre…´ Zudem schoss ihr urplötzlich ins Gedächtnis, dass Rebekka beim ersten Mal auch ein Hummer den Garaus gemacht hatte, als er sich ihr nach einer wilden Verfolgungsjagd in den Weg gestellt und so dafür gesorgt hatte, dass die Israelin keinen anderen Ausweg sah, als ihren Fluchtwagen in den Potomac zu lenken. Damals waren sie alle nach wochenlanger Suche davon ausgegangen, dass die Terroristin bei dieser waghalsigen Aktion ertrunken und ihre Leiche durch die starke Strömung ins Meer abgetrieben worden war. Inzwischen wussten sie es ja leider besser. Doch Ziva beschloss in diesem Augenblick, den Hummer von Horatio Caine als gutes Vorzeichen anzusehen. Sie brauchte irgendetwas, woran sie sich festklammern konnte – irgendetwas, was ihr die Zuversicht gab, dass am Ende doch noch alles gut werden würde.

Die kleine Gruppe nahm in dem geräumigen Wagen Platz, während Horatio wieder das Wort ergriff. „Ich schlage vor, wir fahren jetzt auf direktem Weg in meine Dienststelle – von dort aus werde ich dann meine Mitarbeiter kontaktieren und hören, ob es schon erste Ergebnisse gibt. Außerdem habe ich mir die Freiheit heraus genommen, für Sie drei Zimmer in einem Motel in der Nähe des Reviers zu reservieren. Ich dachte, es ist sicher in Ihrem Sinne, wenn wir die Wege kurz halten.“

„Natürlich, danke“, antwortete Gibbs, nur um gleich darauf seine Wünsche klar darzulegen: „Allerdings wäre es mir lieber, wenn wir direkt zum Reservat fahren – ich würde mich gerne selber von den örtlichen Gegebenheiten dort überzeugen.“

Es hatte sich angehört wie eine Bitte, doch Gibbs´ Stimme machte dem erfahrenen Polizisten nichts vor. Dieser Mann aus DC war es gewohnt zu delegieren und nach seiner Äußerung blickte er jetzt wie selbstverständlich aus dem Fenster und studierte aufmerksam die Gegend. Es kam ihm offensichtlich gar nicht in den Sinn, dass hier ein anderer das Sagen haben könnte. Ein fast unmerkliches Schmunzeln glitt über Caines Gesicht, als er schließlich antwortete: „Natürlich, dann bringe ich Sie eben später direkt in Ihr Motel.“

„In Ordnung“, sagte Ziva schnell, bevor Gibbs wieder antworten konnte. „Was reden Sie noch, Mann? Drücken Sie auf die Flasche!“

McGee verschluckte sich fast, doch Horatio Caine quittierte den Ausspruch lediglich mit einem erneuten amüsierten Lächeln. Er hatte schon festgestellt, dass es einige merkwürdige Mitarbeiter beim NCIS gab. Nach einem Pathologen, der anscheinend über alles involviert war und einer Labormitarbeiterin, die sich bemüßigt gefühlt hatte, ihm strengste Anweisungen zu geben, was die „umgehende Wiederbeschaffung ihres Tigers“ anging und dass er ja nichts unternehmen sollte, bevor Leroy Jethro Gibbs in Miami eingetroffen war, da dieser ihm sonst sicherlich postwendend den Kopf abreißen würde, wunderte er sich über nichts mehr. Nicht einmal über eine gebürtige Israelin in Diensten einer US-Behörde, die zuvor – da hatte er sich bereits informiert – für den Mossad tätig gewesen war.



Allein in den Everglades

Kurz nachdem der Motor des Airboats einmal aufgedröhnt hatte, war das Geräusch dann schnell leiser geworden und schließlich ganz verstummt. Eine beinahe unnatürliche Stille trat in der kleinen Hütte ein. Es waren noch nicht einmal die üblichen Geräusche der Insekten oder anderer Tiere in den Sümpfen zu hören. Tony und Anna waren ohne etwas zu essen oder trinken in der heißen, stickigen Hütte zurück geblieben und besonders Tony hatte eine lange, qualvolle Nacht vor sich, die er vor Schmerzen zitternd, stehend irgendwie hinter sich bringen musste.

Als die Motorengeräusche des Airboates verklungen waren, versuchte Tony mühsam, sein rechtes Knie zu entlasten. Er spürte genau, dass da irgendetwas kaputt gegangen war. Auch in seinem linken Knie tobte der Schmerz und er fühlte deutlich, wie an beiden Schienbeinen das Blut aus diversen Platzwunden langsam verschorfte. Aber das rechte Knie hatte es eindeutig am schlimmsten erwischt. Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken und dachte verzweifelt, wie er bloß die Nacht überstehen sollte. Er hatte jetzt schon kaum mehr die Kraft, sich aufrecht zu halten. Seine Beine drohten ihm den Dienst zu versagen und seine Arme brannten auch wie Feuer. Außerdem kündigten sich da, wo Caulder ihm den Zahn ausgeschlagen hatte, ganz deutlich Zahnschmerzen an. Auch das noch! Er hasste Zahnschmerzen wie die Pest – die vernebelten ihm jeden klaren Gedanken und er musste doch unbedingt versuchen, bei klarem Verstand zu bleiben. Für sich – für Anna – und vor allen Dingen auch für Ziva! Der Gedanke an seine Verlobte half ihm für den Moment. Ziva hatte sich in Somalia auch nicht unterkriegen lassen und schier unmenschliches erduldet. Er war es ihr einfach schuldig, dass er sich hier nicht hängen ließ. Hängen ließ! Wie grotesk! Ein leicht hysterisches Lachen entrang sich seiner Kehle und hallte irgendwie angsteinflößend durch die Stille der Hütte.

„Tony“, vernahm er da plötzlich Anna´s brüchige Stimme. Sie saß zusammengekauert an der Wand und blickte ihn aus angstvollen Augen an. „Tony? Was ist los? Bitte – sag doch was.“

Er riss sich zusammen und klammerte sich mit beiden Händen an dem behauenen Baum, an den er gefesselt war, fest. „Wie geht´s dir?“ quetschte er mit Mühe hervor und versuchte, sich seine Schmerzen nicht anhören zu lassen.

„Mir haben sie ja nichts getan. Aber wie geht es dir? Das … das sah schrecklich aus, was diese Frau mit dir gemacht hat.“

„Ja, Rebekka hat keine Hemmungen diesbezüglich“, erklärte Tony bitter und die Vorstellung, was ihn wohl morgen erwarten würde, ließ ihm erneut einen Schauer über den Rücken laufen. Aber er wollte nicht kampflos aufgeben. Bis ihre beiden Peiniger wieder auftauchen würden, hatten sie viele Stunden Zeit – Zeit, eine Flucht zu versuchen oder zumindest vorzubereiten.

Plötzlich begannen Anna´s Schultern zu beben. „Oh Gott, Tony, es tut mir so leid. Ich … wenn ich gewusst hätte, dass du in solcher Gefahr schwebst … du bist doch nur wegen mir mitgekommen…glaub mir, ich weiß das…und jetzt … nur wegen mir hat sie dich gefangen … es tut mir so leid … so leid …“ Unter immer lauter werdendem Schluchzen stammelte sie die Worte, bis Tony sie schließlich unterbrach.

„Nein! Anna, hör mir zu: Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Rebekka hätte so oder so einen Weg gefunden. Wäre ich nicht mitgekommen, hätte sie vermutlich in der Klinik einen Versuch gewagt und wer weiß, wie es da ausgegangen wäre. Das hätte mit Sicherheit Tote gegeben.“ – `Doch so leicht wie jetzt hätte sie es vermutlich nicht gehabt´ setzte er in Gedanken hinzu. Doch Anna eine Schuld zuzuweisen, kam ihm nicht in den Sinn. Nur diese verfluchte Israelin trug die Schuld, sonst niemand. Dass diese Person aber auch immer so ein verdammtes Glück haben musste. Doch er durfte sich jetzt nicht von Selbstmitleid überwältigen lassen. Noch lebte er, noch musste es irgendwie eine Chance geben, seinem Schicksal zu entrinnen. Er überlegte fieberhaft. Nein, so leicht gab er sich nicht geschlagen!

„Anna – wie fest sitzt dieser Haken, an den du angekettet bist?“, fragte der Halbitaliener dann die zierliche, blonde Frau. „Kannst du daran ziehen, rütteln, ihn irgendwie lockern?“

Sofort begann sie, an dem Eisenring zu ziehen. Sie legte alle ihre Kraft hinein und zerrte mit aller Macht daran, aber es rührte sich absolut nichts. „Es geht nicht. Er sitzt einfach zu fest! Ich kann ihn nicht rausziehen“, stellte sie schließlich mit neuerlichen Tränen in den Augen fest.

„Natürlich sitzt er fest. Es ist klar, dass das nicht so leicht ist, aber du darfst nicht aufgeben. Rüttle immer wieder daran, hörst du! Immer und immer wieder. Nach und nach wird er lockerer werden, da bin ich mir sicher. Das Holz des Balkens, an dem sie dich angekettet haben, ist alt, das sieht man. Es wird irgendwann nachgeben. Du hast bis morgen früh Zeit. Anna – versuch es!“ Tony hatte seinen Worten einen eindringlichen Klang gegeben, während er gleichzeitig auch noch einmal mit seinen Blicken wieder und wieder die Balken und Streben, an die er gefesselt war, absuchte, in der Hoffnung, irgendeine Schwachstelle ausfindig zu machen.

71. Kapitel

Auf dem Parkplatz des Naturreservates –Früher Abend

Gibbs hatte sich während der Fahrt vom Beifahrersitz aus weiter leise mit Horatio Caine unterhalten, während Ziva tief in Gedanken versunken aus dem hinteren Seitenfenster gestarrt hatte. McGee, der hinter Caine saß, kam sich im Augenblick mehr oder weniger überflüssig vor und fühlte sich äußerst unwohl in seiner Haut. Fast wünschte er, er wäre in Washington zurückgeblieben. Wer weiß, womöglich hätte er ja Tony besser helfen können, wenn er Abby im HQ zur Hand hätte gehen können. Unwillkürlich seufzte er leise, was ihm einen fragenden Seitenblick von Ziva einbrachte.

„Alles in Ordnung bei dir?“, erkundigte sich die Israelin.

„Ja, ja, sicher – ich bin nur müde“, redete Tim sich daraufhin raus und riss sich zusammen. Wie sollte er seiner Freundin und Kollegin erklären, dass er sich gerade wünschte, er wäre gar nicht hier. Das brachte er einfach nicht übers Herz. Außerdem…am liebsten wäre es ihm ja sowieso gewesen, das Unmögliche möglich zu machen und an 2 Orten gleichzeitig zu sein. „Es war ein langer Tag.“

Ziva nickte verständnisvoll: „Ja, klar. Versteh´ ich – ich bin auch müde, aber wir müssen durchhalten. Um Tony´s Willen. Wir müssen Rebekka schnappen, bevor sie ihm was antun kann. Wenn…wenn sie ihn umbringt…Tim, dann garantiere ich für nichts. Wenn ich die Möglichkeit dazu bekomme, werde ich sie umbringen – verstehst du das?“ Sie machte eine kurze Pause, bevor sie mehr zu sich selber hinzufügte: „Vielleicht werde ich das so oder so tun – irgendjemand muss es schließlich tun.“

McGee ergriff die Hand der Braunhaarigen und drückte sie – wie er hoffte – ermutigend. Oh ja, er verstand – leider nur zu gut. Aber er war auch froh darüber, dass sie sich beinahe flüsternd auf der Rückbank unterhielten und so Gibbs und Caine vorne nichts von ihrem Gespräch mitbekamen. „Hey, hier wird niemand umgebracht – weder Tony noch Rebekka. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob sie ihn hat. Sie ist sicher hinter ihm her, ja. Aber es wird sich alles zum Guten fügen, da bin ich sicher. Und du solltest auch versuchen, positiv zu denken. Schau mal, wir haben hier sogar schon Unterstützung.“ Mit einem leichten Kopfnicken wies er nach vorne auf Caine, der auf ihn einen guten Eindruck machte. „Gemeinsam werden wir die beiden schnappen und dann werden sie für alle Zeit in den Knast wandern. Du wirst schon sehen. Und was Tony angeht! Er ist zwar ein Chaot, aber er ist schließlich nicht umsonst in Gibbs´ Team. Denk immer daran, in was für einen Menschen du dich verliebt hast. Selbst wenn sie ihn noch einmal zu fassen kriegt – er ist gut! Er packt das schon!“ Insgeheim hoffte Tim, dass er sich mit diesen Sätzen nicht zu weit aus dem Fenster lehnte, aber er wollte um jeden Preis erreichen, dass Ziva – die er bislang immer nur als absolut taffe Frau und vorzügliche Agentin erlebt hatte – wieder etwas Zuversicht schöpfte und sich nicht von der Sorge um ihren Lebensgefährten auffressen ließ. Sorgen lähmten das Denkvermögen. Erleichtert registrierte er gleich darauf, dass Ziva seinen zaghaften Tröstungsversuch dankbar annahm und ihm mit dunklen Rändern um die Augen ein vorsichtiges Lächeln schenkte.

„Du hast recht“, flüsterte sie leise. „Er ist der Beste! Ich werde versuchen, immer daran zu denken! Danke dir!“

„Keine Ursache.“

In diesem Moment lenkte Horatio Caine den Wagen auf einen großen Parkplatz. Gut so, dachte Tim, endlich geschah wieder etwas – gleich gab es wieder was zu tun. Im Hintergrund waren mehrere Kassenhäuschen zu sehen, die jedoch verlassen wirkten, während wiederum an der Ausgangsschranke gerade mehrere Personen den Park verließen. Diese Leute wurden von einer langhaarigen blonden Frau angesprochen und beiseite geführt. Etwas weiter hinten links wartete bereits eine kleine Gruppe, die offenbar gerade von einem schlanken, braunhaarigen Mann befragt wurde. So schien es zumindest. Ein weiterer Mann – anscheinend ein Latino – kniete auf einer der Parkbuchten und sicherte augenscheinlich Spuren. Caine hielt auf ihn zu und parkte den Hummer einige Parkbuchten weiter entfernt. Er stieg aus und bedeutete den NCIS-Leuten, ihm zu folgen. Gibbs, Tim und Ziva ließen sich das nicht zweimal sagen und beeilten sich, den Anschluss nicht zu verlieren. Mit einer schnellen Handbewegung stellte Caine sie einander vor.

„Eric, das sind die Agents Gibbs, David und McGee. – Das ist mein Mitarbeiter Det. Eric Delektorsky, aber jeder nennt ihn nur Delko“, erklärte er dann kurz weiter, bevor er fragte: „Was hast du da, Eric?“

„Einer der Ranger hat bei der Suche nach den Vermissten Blutspuren hier auf diesem Parkplatz gefunden.“

„Steht denn einwandfrei fest, dass es sich um Blut handelt?“, unterbrach Gibbs den Latino ziemlich brüsk. Er selbst konnte im frühabendlichen Zwielicht kaum noch etwas erkennen. Missmutig blickte er in den immer dunkler werdenden Himmel.

Offenbar leicht amüsiert wandte sich Det. Delko ihm zu und gab trotzdem bereitwillig Auskunft: „Selbstverständlich – das haben wir schon per Schnelltest überprüft. Außerdem…sehen Sie hier…“ Er wies auf einige der eher rostrot wirkenden Stellen auf dem sandigen Boden, die jetzt allerdings wirklich nur noch schwer zu sehen waren. „Es gibt ein spezielles Spritzmuster, das für plötzlich auftretende Platzwunden sehr typisch ist. Vermutlich wurde die Person am Kopf getroffen, denn sie scheint stark geblutet zu haben, was z.B. gerade bei Wunden im Bereich der Augenbrauen häufig vorkommt.“

„Tim, Fotos“, wies Gibbs seinen Agent daraufhin knapp an, der für einen kurzen Augenblick lang entsetzt wirkte, da seine komplette Ausrüstung noch gut und sicher im Gepäck verstaut war. Inmitten seiner persönlichen Dinge, wie Unterwäsche etc. Er hatte nun wirklich keine Lust, hier mitten auf einem öffentlichen Parkplatz…

„Vergessen Sie´s – nicht nötig“, nickte Delko da zu Tim´s Erleichterung in McGee´s Richtung. „Das hat meine Kollegin alles schon erledigt. Natürlich können wir noch nicht sagen, ob das Blut von Ihrem Mann stammt, aber sobald wir zurück in unserem Revier sind, werde ich das Ergebnis der Analyse Ihrer Labortechnikerin per Mail schicken. Wenn sie schnell ist, müssten wir bis morgen früh dann eigentlich ein Ergebnis haben.“

„Sie ist die Beste“, knurrte Gibbs erbost in Delko´s Richtung. Wie konnte es jemand wagen, an Abby zu zweifeln?

Die blonde Frau kam zu ihnen herüber und gesellte sich zu dem kleinen Trupp.

„Das ist Det. Calleigh Duquesne“, stellte Caine sie kurz vor, bevor er fragte: „Gibt es schon neue Erkenntnisse, Calleigh?“

„Nein, leider nicht. Soweit möglich wurde inzwischen der für Besucher zugängliche Teil des Reservates von den Rangern abgesucht. Keine Spur von den beiden vermissten Personen, die sich eigentlich später wieder mit ihren Freunden im Café treffen wollten. Dort sind sie aber nicht erschienen. Zunächst dachten die beiden einfach, sie würden sich verspäten, doch nachdem der Leiter der Klinik dann im Café anrief, haben sie sofort Alarm geschlagen und die Ranger wurden daraufhin umgehend von ihrem Chef entsprechend instruiert. Wie gesagt, gefunden wurden sie bis jetzt nicht, aber das Gute ist, dass auch keinerlei eindeutige Kampfspuren auf dem Gelände zu finden sind. Ryan befragt gerade die letzten Besucher, ob ihnen vielleicht etwas aufgefallen ist, aber bislang haben wir noch Niemanden ausfindig machen können, der den beiden auf dem Gelände begegnet ist oder sich bewusst an sie erinnert. Der Park war heute stark besucht, aber vermutlich achtet niemand wirklich darauf, wem er auf den Wegen begegnet.“ Die junge Frau zuckte bedauernd mit den Achseln. „Es sind keine Besucher mehr drin und der Park schließt gleich. Sieht nicht gut für uns aus. Ich fürchte, wir haben kein Glück.“

In diesem Augenblick kam der schlanke Mann, der im Hintergrund die Besucher befragt hatte, in Begleitung eines jungen Paares auf sie zu. Der Mann schob einen Kinderwagen vor sich her und seine Partnerin hatte an jeder Hand ein zappelndes Kleinkind.

„Horatio?“, wendete er sich an seinen Chef. „Es könnte sein, dass die beiden hier was gesehen haben.“ Er wies auf die Familie an seiner Seite, bevor er jedoch weitersprach, nickte er den ihm fremden Personen, die neben seinem Vorgesetzten standen, mit einem leichten Lächeln zu. „Hallo, Sie müssen die Leute vom NCIS sein – ich bin Det. Ryan Wolfe.“ Nach einem kurzen Handschlag mit Gibbs Team sprach er weiter: „Dies hier sind Mr. und Mrs. Shipler. Sie glauben, ihrem Kollegen auf einem etwas abgelegenen Naturpfad begegnet zu sein. Das ist zwar schon einige Stunden her, aber sie konnten ihn anhand des Fotos seines Dienstausweises recht eindeutig identifizieren.“

Ziva sog hörbar den Atem ein und blickte dem Paar erregt entgegen.

„Ja“, bestätigte die junge Mutter. „Er war es – eindeutig, auch wenn er vorhin recht trübsinnig ausschaute – so als hätte er gar keine Lust auf den Ausflug.“

„Mrs. Shipler, wie kommt es, dass Sie sich so gut an den Mann erinnern?“, erkundigte sich Horatio Caine nun mit sanfter Stimme bei der Zeugin. Er hatte keinen Grund, der Frau nicht zu glauben, aber er wollte trotzdem sicher gehen, dass hier kein Irrtum vorlag. Er nahm seine verspiegelte Sonnenbrille ab, legte seinen Kopf wieder ein wenig zur Seite – was offenbar eine Eigenart von ihm war – und blickte der Frau nun direkt in die Augen, die sich davon aber in keinster Weise beeindruckt oder gar eingeschüchtert zeigte. Sie schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein und so wartete der erfahrene Lt., genauso wie Gibbs, gespannt auf die Antwort auf seine Frage.

„Nun, der Mann wäre uns vermutlich gar nicht weiter aufgefallen oder in Erinnerung geblieben, wenn nicht die junge Frau an seiner Seite eine nette Bemerkung über unseren Jüngsten gemacht hätte. Als sie ungefähr auf gleicher Höhe mit uns waren, schaute sie in den Kinderwagen und sagte, wie süß sie unser Baby findet. Von dem jungen Mann hingegen kam gar keine Reaktion darauf, was wir ein wenig merkwürdig fanden, denn wir hielten die beiden für ein Paar. Ich sagte noch zu meinem Mann, dass das wohl Probleme geben wird, wenn sie sich Kinder wünscht und er nicht.“

„Hat Dt. Wolf Ihnen das Foto der gesuchten Frau auch gezeigt?“, unterbrach Caine den Redefluss der jungen Mutter.

„Ja, sicher, das hat er. Es könnte die Frau auf dem Foto gewesen sein, aber 100%-tig sicher bin ich mir bei ihr nicht. Sie sieht ihr schon ein wenig ähnlich, aber irgendwie sah sie auch anders aus.“

Kunststück, schoss es Gibbs spontan durch den Kopf. Die Frau ist ein Chamäleon.

„Ich weiß nicht“, wiederholte Mrs. Shipler jetzt. „Was meinst denn du?“, wandte sie sich daraufhin an ihren Mann. „Sag doch auch mal was.“

„Wie du schon sagtest – sie könnte es gewesen sein. Aber sicher bin ich mir da auch nicht. Mir ist viel eher die 2. Frau aufgefallen, weil sie ein wenig ängstlich wirkte, was ich aber dann auf die Tiere, die hier überall frei herumlaufen, geschoben habe. Ab einer gewissen Größe sind mir diese Echsen auch nicht mehr geheuer. Sie hielt sich auf jeden Fall sehr dicht bei der anderen Frau, fast so, als suche sie bei ihr Schutz.“

Das könnte Anna gewesen sein, schoss es Ziva direkt durch den Kopf. Aber wenn die andere tatsächlich Rebekka gewesen sein sollte, hatte Anna mit Sicherheit keinen Schutz bei ihr gesucht. Gott, das klang alles sehr besorgniserregend. Die Israelin hielt die Ungewissheit kaum noch aus und mischte sich in das Gespräch ein. „Diese 2. Frau – was sie klein, zierlich und hatte lange blonde Haare?“, fragte sie das Ehepaar und trat dabei einen Schritt nach vorne.

„Jaaaa, ja, ich glaube schon, dass sie lange blonde Haare hatte“, antwortete die Zeugin und rief gleich daraufhin eines ihrer Kinder zur Ordnung, denen langsam langweilig zu werden schien. „Hören Sie“, meinte sie dann und blickte Ziva nun direkt an. „Wie lange dauert das denn hier noch – wir müssen uns langsam auf den Heimweg machen. Unser Baby wird bald wach, dann wäre ich gerne zu Hause. Wenn er Hunger bekommt, ist er nämlich ungenießbar und….“ Sie unterbrach sich plötzlich und starrte wie gebannt auf Ziva´s Ausschnitt. „Ihre Kette…der Anhänger“, sagte sie dann langsam. „Es klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich bin mir sehr sicher, dass die Frau, die in den Kinderwagen geschaut und die Bemerkung über unseren Billy gemacht hat, auch so einen Anhänger trug. Als sie sich ein wenig vorbeugte konnte ich ihre Kette sehr gut sehen, da sie dabei etwas nach vorne fiel.“

Ziva wurde auf der Stelle bleich und fühlte wie ihre Knie nachzugeben drohten. Dass sie sogar leicht schwankte bemerkte sie erst, als Dt. Wolfe ihr stützend an den Ellbogen griff.

„He, immer langsam – geht es Ihnen nicht gut?“

„Doch, doch…es geht schon …“ Langsam drehte sie sich, am ganzen Körper zitternd, zu ihrem Boss um. „Sie hat ihn, Gibbs! Dieses verdammte Miststück hat ihn sich tatsächlich schon wieder geschnappt!“

Mit zusammengepressten Lippen blickte Gibbs Ziva in die Augen, in denen er Angst, Verzweiflung und Entsetzen lesen konnte. Er wusste, dass sie Recht hatte und diese bittere Erkenntnis versetzte sogar ihn in sprachlose Hilflosigkeit.

Horatio Caine hatte genug gehört: „Calleigh, notierst du dir bitte alle Kontaktdaten! Ryan, du befragst bitte noch die anderen Besucher, bevor du sie nach Hause schickst - vielleicht hat ja noch jemand etwas bemerkt. Calleigh, du kannst ihm dann später dabei behilflich sein. Eric, du fährst ins Labor und siehst zu, dass die Proben auf schnellstmöglichen Weg analysiert werden. Und wir…“ Damit wendete er sich Gibbs zu „…fahren jetzt auf direktem Weg ins Motel. Sie sollten sich ausruhen. Versuchen Sie, zu schlafen – morgen wird vermutlich wieder ein anstrengender Tag. Calleigh, wo sind dieser Doktor und seine beiden Patienten?“

„Die warten noch im Cafè des Reservates“, gab Calleigh schnell Auskunft.

„Sorge bitte dafür, dass man ihnen Bescheid sagt, dass sie zurück in die Klinik fahren können. Aber sie sollen sich morgen Vormittag bereithalten. Ich werde morgen früh raus fahren und möchte mich dann in Ruhe mit ihnen unterhalten.“

„Ich werde das selber übernehmen“, antwortete Calleigh.

„Gut!“ Horatio nickte zufrieden. „Ich werde für morgen Mittag eine Lagebesprechung einberufen – bis dahin müssten auch die Ergebnisse vorliegen.“ Er wandte sich jetzt direkt an Gibbs. „Wenn Sie wollen, komme ich Sie morgen früh im Motel abholen – dann fahren wir gemeinsam zur Klinik raus“, bot er an.

Auch Gibbs nickte – er allerdings mit gewohnt grimmigem Gesichtsausdruck. „In Ordnung, einverstanden.“ Seine Vermutung wurde zur Gewissheit. Dieser Caine wusste eindeutig, was zu tun war und wie er seine Leute zu führen hatte. Ihm war klar, dass sich diese Tatsache noch als sehr hilfreich erweisen konnte, denn immerhin konnte er davon ausgehen, dass der Mann und seine Leute ihre Stadt kannten. „Kommt mit“, sagte er daher nun zu Tim und Ziva, die immer noch völlig entsetzt wirkte. Mist, dachte er, hoffentlich verlor die Israelin jetzt nicht die Nerven. Schließlich durften sie wirklich keine Zeit mehr mit überflüssigen Aktionen verschwenden. „Tim…“, sagte er daher hilfesuchend zu dem MIT-Absolventen, der auch sogleich verstand, worauf sein Chef hinauswollte.

„Alles klar, Boss“, sagte er daher. „Mach dir keine Sorgen – ich kümmere mich schon um sie.“

„Fahren wir“, meinte Horatio Caine abschließend und nickte seinen Mitarbeitern, die noch zurückblieben, verabschiedend zu.

72. Kapitel

In den Everglades – Trübe Gedanken

 

Stundenlang hatte Anna in der Nacht versucht, den Haken zu lösen, bis sie schließlich irgendwann völlig erschöpft eingeschlafen war. Auch Tony hatte mehrfach erfolglos versucht, sich zu befreien, doch irgendwann hatte auch er resigniert.

 

Zwei, drei Mal war er stehend eingenickt, nur um kurz darauf wieder panisch aufzuschrecken; die Schmerzen in seinen Knien ließen ihn einfach nicht schlafen und das hämmernde Klopfen in seinem Schädel tat ein Übriges. Migräne war ein Dreck gegen die Kopfschmerzen, die er seit Stunden verspürte – vermutlich hatte er sich auf dem Parkplatz bei der Kollision mit dem Autorahmen eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen.

 

Auf jeden Fall war ihm so übel, dass er ein paar Mal nur mit Mühe hatte verhindern können, sich zu übergeben. Davon einmal abgesehen bereiteten ihm mittlerweile auch seine Nase und sein Auge Probleme. Der mächtige Faustschlag von Caulder, der ihn einen Zahn im Unterkiefer gekostet hatte, hatte auch seine Nase und das Jochbein unterhalb seines linken Auges gestreift, was zur Folge hatte, dass er nunmehr fast nur noch durch den Mund atmen konnte, denn seine Nasenschleimhäute waren stark angeschwollen. Seine linke Gesichtshälfte war um das Auge und die Platzwunde herum rot-bläulich verfärbt und hinzu kam, dass ihm wiederholt das komplette Blickfeld verschwamm, was mit Sicherheit auch an der Gehirnerschütterung lag. Hoffentlich gibt sich das wieder, dachte er verzweifelt. Wie sollte er sich sonst gegen Rebekka und Caulder zur Wehr setzen, wenn er noch nicht einmal klar sehen konnte? Zugegeben, im Augenblick waren weder Anna noch er dazu in der Lage, sich zu wehren, aber wer konnte schon sagen, ob nicht einem von ihnen doch noch der große Durchbruch gelang und er sich befreien konnte. Doch er gab sich keinen Illusionen hin, wenn sich einer ihren Gegnern zum Kampf stellen sollte, musste er das sein, denn dass Anna dazu imstande wäre, sich gegen ihre Entführer durchzusetzen, das wagte Tony doch sehr zu bezweifeln. Im Augenblick wusste er noch nicht einmal, ob seine Mitgefangene wach war – schon seit Stunden hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Sie verhielt sich genauso stumm, wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft. Er konnte nur hoffen, dass sie durchhielt und nicht durchdrehte.

 

Mit Mühe hob Tony den Kopf an und versuchte krampfhaft, den umgehend wieder einsetzenden, bohrenden Schmerz hinter seinen Augen und seiner Stirn zu ignorieren.

 

Die Sonne war bereits vor einiger Zeit aufgegangen – gut erkennbar durch ein paar breitere Ritzen in den grob gezimmerten Holzwänden der Hütte – und mittlerweile war es brütend heiß und stickig in der kleinen Hütte mitten in den Everglades. Sein Hemd war vollkommen durchgeschwitzt und er war so fertig, dass er kaum mehr einen klaren Gedanken fassen konnte. Hunger und vor allen Dingen Durst machten ihm zusätzlich immer mehr zu schaffen. Verdammt, warum kamen Rebekka und Caulder nicht zurück? – Gleich darauf realisierte er, was er da eben gedacht hatte. War er noch ganz bei Sinnen? Eigentlich sollte er doch froh sein, dass sie noch nicht wieder da waren, denn wenn sie kamen, würde sein Martyrium wieder weitergehen. Und das war wirklich das Letzte, was er sich wünschte, trotzdem - er wunderte sich doch, dass ihre Peiniger bislang noch nicht wieder aufgetaucht waren. Es musste doch inzwischen … wie spät mochte es sein? Morgens oder schon fast Mittag – er konnte es nicht sagen, inzwischen hatte er jegliches Zeitgefühl verloren.

 

Ein verheißungsvoller Gedanke wollte sich mit einem Mal in seinem Kopf festsetzen: Rebekka und Sam lagen als Opfer eines schweren LKW-Unfalls zermatscht und mit fürchterlich verrenkten Gliedmaßen blutüberströmt auf einer Straße. Tony blinzelte ein paar Mal. Hatte er das in seiner Vorstellung jetzt richtig gesehen? Ja, tatsächlich! Es erschien ihm fast lachhaft, aber der Fahrer des Trucks, der die beiden Verbrecher offenbar frontal erwischt hatte und nun mit einem irgendwie triumphierenden Grinsen im Gesicht neben den beiden Leichen stand, ähnelte merkwürdigerweise sehr seinem Boss. Gut gemacht, Gibbs, schoss es Tony durch den Kopf! Tot! Kaputt! Am Arsch! Alle beide! Was für ein toller Gedanke! Wahnsinn! Um ein Haar hätte Tony laut und unbeherrscht losgelacht, doch er hielt sich im letzten Augenblick zurück, schluckte einige Male kräftig und das Lachen wanderte lautlos seine ausgetrocknete Kehle hinunter. Schließlich wollte er Anna nicht schon wieder Angst einjagen.

 

Und überhaupt…wäre dieses Szenario aus seiner Vorstellung wirklich wünschenswert? Was würde wohl aus Anna und ihm werden, wenn ihre Entführer nicht mehr auftauchten? Vermutlich würden sie hier – irgendwo im Niemandsland – angekettet wie Tiere elendig verdursten – lange bevor irgendein Suchtrupp auch nur eine blasse Ahnung davon hatte, wo nach ihnen gesucht werden musste. Wie war das noch? Wie lange konnte ein Mensch ohne Wasser auskommen? 3 Tage – vielleicht 4! Im besten Falle eventuell auch 5? Aber unter den hier herrschenden Bedingungen – bei diesen Temperaturen – würden sie sicher schon deutlich früher sterben. Die Frage war nur, ob sie davon überhaupt etwas mitbekämen, oder ob sie zuvor schon verrückt geworden waren – so wie es schien, war er schon auf dem besten Wege dahin.

                                             

Tony´s Zunge fühlte sich dick und geschwollen an und lag schwer wie Blei in seinem Gaumen. Er versuchte, etwas Speichel im Mund zu sammeln, nur um diesen dann auf einmal herunterschlucken zu können. Es war ihm klar, dass das nichts helfen würde und dass er sich damit nur selbst etwas vormachte, aber er handelte völlig instinktiv, während er weiter darüber nachdachte was zum Teufel Rebekka wohl plante. Vielleicht wollte sie ihn mit ihrem Fernbleiben ja auch einfach nur mürbe machen? Glückwunsch, Miststück, sollte das dein Plan sein, dann gelingt dir das ganz hervorragend, dachte er still bei sich. Oder hatte sie womöglich Kameras in der Hütte installiert und saß nun irgendwo zusammen mit Caulder im Schatten bei einem kühlen Drink, um sich gemeinsam mit diesem Verräter an ihrem Leid zu ergötzen. Das würde ihr ähnlich sehen. Tony versuchte, seinen Blick scharf zu bekommen, als er die Ecken und Winkel der Hütte mit seinen Augen absuchte. Nichts, da war nichts, soweit er es erkennen konnte. Okay, also keine Kameras – was dann? Der Agent zermarterte sich den Kopf, was ihm jedoch nur noch stärkere Kopfschmerzen einbrachte. Schlaf! Der Gedanke an Schlaf war sehr verlockend und er schlich sich immer wieder zwischen seine Gedanken um Rebekka und ihre Pläne. Ein erschöpftes Krächzen kam aus seiner vom Durst rauen Kehle. Er war stehend k.o.! Oh Mann, schon wieder so ein wahnwitziger Gedanke, der ihn fast hysterisch werden ließ. Wurde er tatsächlich verrückt? Jetzt schon? Gott, bitte nicht! Noch nicht…gib mir noch etwas Zeit.

 

Gut…ruhig bleiben…nur die Ruhe. Tony zwang sich, einmal tief durchzuatmen, was sofort ein übles Stechen in seiner Rippengegend zur Folge hatte. Egal! Er musste sich jetzt konzentrieren und versuchen, sich etwas zu erholen. Einfach diese teuflischen Gedanken, wie man ihn dreckig und blutverkrustet, wie ein Stück Vieh im Schlachthaus tot an einem Balken hängend, in dieser Hütte fand, abstellen und bestenfalls ein wenig vor sich hindämmern. Er musste unbedingt Kräfte sammeln! Ja, Dämmern war gut! Sehr gut! Schlafen – nicht gut, denn Schlaf war gleichbedeutend mit Schmerz, das hatte er ja in der Nacht schon mehrfach feststellen müssen. Sobald er einschlafen und sein Gewicht sich somit unweigerlich wieder schwer an den Balken hängen  würde, kämen auch postwendend die Schmerzen in seinen Händen und Schultern zurück und das wollte er auf gar keinen Fall riskieren. Er hatte auch so schon genug Schmerzen. Aber ein wenig dämmern…das konnte sicher nichts schaden… Matt schloss Tony die Augen, versuchte sich zu entspannen und gestattete sich, einen wunderschönen Traum von Ziva zu träumen. Ziva! Seine Ziva…die er vermutlich nie wiedersehen würde…Seine traumhaft schöne Verlobte…wie gut, dass sie wenigstens dieses Mal nicht mit ansehen musste, wie er starb…Sie war schön…so schön…nicht einschlafen…bitte nicht einschlafen…

 

Plötzlich schrie Anna panisch auf und sprang hektisch auf die Beine. Tony schreckte unversehens hoch und wünschte sich gleich darauf, doch bitte die Handflächen gegen seinen Kopf pressen zu können, denn der reagierte auf den spontanen Ausbruch der jungen Frau sehr empfindlich. Was war passiert? Verwirrt versuchte Tony, die Lage zu peilen. Anna drückte sich ängstlich und zitternd in eine Ecke, soweit es ihre Ketten zuließen. Sie wirkte auf den Halbitaliener, als würde sie am liebsten laut schreiend aus der Hütte flüchten wollen, was natürlich nicht ging. Doch warum so plötzlich, fragte er sich? Was hatte sich geändert? Tony folgte Anna´s Blicken und da sah er sie: Eine relativ kleine, schwarz-rot-gelb geringelte Schlange wand sich langsam durch die Hütte. Immer wieder hob sie ihren Kopf und züngelte, stets auf der Hut vor Gefahr.

73. Kapitel

Hauptquartier des Miami PD – Kurz vor 12.00 h – Vertrauen

 

Horatio Caine hatte das NCIS-Team am Morgen wie versprochen im Motel abgeholt und war gemeinsam mit ihnen zur Privatklinik von Dr. Seltwick gefahren. Dort hatten sie sich lange sowohl mit Clark, als auch mit Randy unterhalten, die beide noch immer am Boden zerstört waren. Sie machten sich schwere Vorwürfe, dass sie gut gelaunt im Café ihre Zeit verbracht hatten, während Tony und Anna offensichtlich entführt worden waren. Selbst der sonst immer so positive und fröhliche Randy wirkte völlig verstört über die Tatsache, dass er von dem Verbrechen nichts mitbekommen hatte. Dr. Seltwick, dem der seelische Zustand seiner beiden Patienten große Sorgen bereitete, hatte darauf bestanden, bei den Gesprächen dabei zu sein, wogegen auch niemand Einwände erhoben hatte. Doch so sehr Caine und Gibbs auch bohrten und fragten, es kam leider absolut nichts dabei heraus. Ziva und Tim hatten sich inzwischen gezwungenermaßen auf dem Gelände der Klinik umgesehen, da Dr. Seltwick Clark und Randy nicht noch zusätzlich mit zu vielen Fremden konfrontieren wollte und sie deshalb bei der Unterredung nicht dabei sein konnten. Also hatten sie eine Zeit verabredet, zu der sie sich wieder am Wagen treffen wollten und als Caine und Gibbs das Gebäude verließen, sahen sie die beiden jungen Agenten schon dort warten. Erwartungsvoll blickte Ziva ihren Boss an, doch dessen resigniertes Schulterzucken verhieß nichts Gutes und das Herz wurde ihr einmal mehr schwer. Schon wieder einmal hatten sie nunmehr wichtige Zeit verschwendet, dachte sie still bei sich, als sie sich schließlich alle ergebnislos auf den Rückweg machten.

 

Im Hauptquartier des Miami PD, wo auch gleichzeitig das Kriminallabor untergebracht war, herrschte bei ihrem Ankommen schon rege Betriebsamkeit. Caine hatte schon bevor er sie im Motel abgeholt hatte, angewiesen, dass für 12.00 h eine Besprechung anberaumt wurde, an der sie alle – einschließlich der NCIS-Agents – teilnehmen sollten. Hier sollten erste Ergebnisse sowie auch das weitere Vorgehen auf der Suche nach den Entführten koordiniert werden. Bis dahin waren noch ein paar Minuten Zeit und Caine überließ die Agents für diesen Zeitraum kurz sich selber, nachdem er ihnen zuvor noch gezeigt hatte, in welchem Raum die Besprechung stattfinden sollte.

 

Gibbs hatte sofort die Gelegenheit genutzt und sich mit langen Schritten auf die Suche nach einem Kaffeeautomaten gemacht, während McGee sich in den Männer-Waschraum zurückgezogen hatte. Ziva stand ziemlich allein verloren im Flur vor dem Besprechungsraum und verfluchte im Stillen, dass wieder einmal Warten angesagt war – selbst, wenn es nur kurz war. Wie sie das hasste! Ihrer Meinung nach konnten sie es sich einfach nicht leisten, noch mehr Zeit zu vergeuden und so störte sie jede auch noch so kleine Verzögerung immens. Tony hatte schließlich auch keine Zeit! Er befand sich in der Gewalt seiner schlimmsten Feindin – einmal mehr – und nur sie konnte vermutlich richtig beurteilen, was das für ihn bedeutete. Woher sollten die anderen das auch ermessen können? Nur sie hatte den Horror schließlich beim ersten Mal hautnah miterlebt und so schlimm das auch für sie gewesen war…damals hatte sie ihm immerhin beistehen können. Und sie war es auch gewesen, die die Folgen von Rebekkas Taten noch Monate danach jeden Tag auf´s Neue mit Tony hatte durchstehen und –leben müssen! Seine Albträume! Das stark angeknackste Selbstbewusstsein ihres ehemals so lebensbejahenden Verlobten. Seine Befürchtungen, nie mehr als Field-Agent arbeiten zu können, die Operationen und die daraus resultierenden immer wiederkehrenden Schmerzen. Seine plötzliche Zurückhaltung – ja, fast Angst – vor anderen Menschen und schließlich seine verzweifelte Flucht in den Alkohol und die Medikamente. Es war furchtbar gewesen, ja! Aber noch viel furchtbarer fand sie es jetzt, hier jetzt nur untätig herumstehen zu können und abwarten zu müssen. Sich auf fremde Menschen verlassen zu müssen, war noch nie ihr Ding gewesen und so sträubte sich gerade alles in der jungen Israelin dagegen, das Zepter so mir nichts dir nichts aus der Hand zu geben. Sie konnte nur hoffen und darauf bauen, dass Gibbs das Kommando nicht völlig aus der Hand gab…

 

Als Ziva soweit mit ihren Gedanken gekommen war, spürte sie eine leichte Berührung an ihrem Ellbogen und fuhr erschrocken herum. Sie blickte in das freundliche Gesicht von Det, Calleigh Duquesne, die sie aufmerksam musterte. Sie war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie sich nicht mehr alleine auf dem Flur befunden hatte. Calleigh hatte die ihr unbekannte dunkelhaarige Frau, die wie ein Tiger im Käfig mit gesenktem Kopf erst auf dem langen Flur hin und her gelaufen und dann mit dem Gesicht von ihr abgewandt stehen geblieben war und offensichtlich hoch nervös ihre Finger ineinander geknetet hatte, schon seit einer geraumen Weile stumm beobachtet und sich ihr Teil dabei gedacht. Dann hatte sie den Entschluss gefasst, helfen zu wollen und daher war sie nun auf Ziva zugegangen.

 

„Ist es soweit?“, fragte Ziva. „Geht´s los?“

 

„Nein, ein paar Minuten haben wir noch“, antwortete Calleigh. „Aber ich finde, wir sollten ruhig schon einmal hineingehen. Dort ist es ruhiger.“

 

Die Braunhaarige warf der Polizistin aus Miami einen misstrauischen Blick zu. Irgendetwas bezweckte die doch…sie hatte nur keine Ahnung, was? Nach einem kurzen Zögern gab sie jedoch nach und folgte der anderen Frau in den nüchternen Besprechungsraum, in dem es außer einem großen ovalen Tisch, gesäumt mit den üblichen Stühlen in solchen Räumen nicht viel gab. Wenn man einmal von der riesigen Fensterfront, dem großen Bildschirm an der einen Wand, einem Flip-Chart und einigen anderen technischen Gerätschaften absah.

 

„Setzen Sie sich doch“, meinte Duquesne und rückte einen Stuhl für Ziva zurecht.

 

Die war viel zu fertig, als dass sie sich groß zur Wehr setzte und so gehorchte sie widerspruchslos.

 

„Wie geht es Ihnen?“, erkundigte sich Calleigh nun. „Ein Glas Wasser?“ Sie wartete Ziva´s Antwort gar nicht erst ab, sondern öffnete schon eine Flasche, goss Wasser in eines der bereitstehenden Gläser und reichte es der Agentin.

 

Zögernd nahm Ziva das Glas entgegen und trank einen Schluck. Dann stellte sie das Glas ab und umklammerte es mit beiden Händen, während sie stur vor sich hin über den Tisch aus dem Fenster blickte. „Danke“, sagte sie lediglich mit tonloser Stimme.

 

„Gerne.“ Duquesne wartete ein paar Sekunden, bis sie erneut versuchte, ein Gespräch in Gang zu bekommen. Die Kollegin aus DC war offensichtlich nicht sehr mitteilsam. „Sie machen sich große Sorgen, nicht wahr? Der verschwundene Agent – ist er Ihr…Partner?“, fragte sie dann mit einer bedeutungsvollen Pause vor dem Wort `Partner´.

 

Zum ersten Mal wandte Ziva sich direkt an ihr Gegenüber. Was sollte sie antworten? Gab es hier womöglich auch gewisse Regeln? Wie würde die andere Frau es aufnehmen, wenn sie gestand, was in DC mittlerweile alle wussten und akzeptierten. Sie wusste sehr wohl, dass Beziehungen unter Kollegen in bestimmten Berufen durchaus skeptisch gesehen wurden und sie wollte nicht, dass die andere den Respekt vor ihr verlor. Aber andererseits konnte und wollte sie ihre Liebe zu Tony nicht mehr verstecken. Es war keine flüchtige Episode, die sie verband, es war tiefe und echte Liebe, ja - er war ihr Leben und letztlich konnte es ihr egal sein, was diese Frau von ihr dachte. „Er ist mein Verlobter“. Leise, aber doch klar und fest sprach sie schließlich die Worte aus und sah der blonden Polizistin ohne Scheu in die Augen.

 

Calleigh legte ihre Hand vorsichtig auf den Arm der anderen. „Das tut mir leid“, sagte sie ebenso leise. „Glauben Sie mir, ich weiß, wie Sie sich fühlen.“

 

„Oh, Nein! Das können Sie gar nicht!“, fuhr Ziva jetzt heftig auf und schüttelte die mitfühlende Hand schnell ab. Wieso glaubte bloß jeder zu wissen, wie es in ihr aussah.

 

Doch Calleigh war nicht bereit, so schnell aufzugeben. Sie setzte sich nun neben Ziva und starrte ebenfalls geflissentlich aus dem Fenster, während sie antwortete. „Oh doch, glauben Sie mir. Das weiß ich sehr wohl.“ Sie registrierte, dass ihre Worte zumindest Ziva´s Neugier weckten, denn die NCIS-Agentin drehte ihren Stuhl ein wenig, so dass sie nun ihrerseits Calleigh ins Gesicht schauen konnte. Ihr Blick war fragend, obwohl sie kein Wort sprach. Duquesne lächelte leicht und beantwortete die unausgesprochene Frage. „Sehen Sie, vor einiger Zeit, da wurde Eric – ich meine Det. Delko, Sie haben ihn auf dem Parkplatz gestern kennengelernt – angeschossen. Ein Kopfschuss! Es war ziemlich schlimm und wir wussten lange nicht, ob er es übersteht und falls ja, ob er gesundheitliche Probleme davontragen wird.“ Sie machte eine kurze Pause und strich sich eine nach vorne gefallene lange blonde Haarsträhne hinter das Ohr. Dann atmete sie einmal tief durch, bevor sie weiter redete. „Fragen Sie mich bitte nicht, wie viele Stunden ich in der Klinik an seinem Bett verbracht habe – ich weiß es nicht, aber es waren einige. Zusammengerechnet sicherlich Tage. Natürlich musste ich auch weiterarbeiten – schließlich wollten wir alle den Typen, der das angerichtet hat, so schnell wie möglich schnappen, aber in Gedanken…“ Wieder machte Calleigh eine Pause und bemerkte, dass es ihr gar nicht so einfach fiel, einer fast vollkommen fremden Frau diese Geschichte zu erzählen und dabei ihre Gefühle offen zu legen. Sie bemerkte Ziva´s gespannten Gesichtsausdruck und machte weiter. „Ja, in Gedanken war ich immer bei ihm – ich hatte wahnsinnige Angst, dass er sterben könnte. Immer, wenn ich an seinem Bett saß und beinahe noch mehr, wenn ich nicht bei ihm war. Die Vorstellung, dass er womöglich stirbt, fünf Minuten nachdem ich die Klinik verlassen habe, war einfach grausam, aber es ging nicht anders. Dazu müssen Sie wissen, dass ich hier unter anderem die Waffenexpertin bin. Ich wurde hier gebraucht“, setzte sie schlicht hinzu, denn sie war sich sicher, dass Ziva allein durch ihren Job verstand und sie hatte recht mit ihrer Vermutung, denn ihr Gegenüber nickte verständnisvoll.

 

„Manchmal möchte man an zwei Orten gleichzeitig sein, nicht wahr?“, sagte sie leise.

 

„Oh, ja! Das wollte ich damals wirklich! Andauernd – aber ich musste stark sein.“

 

„Sie und Det. Delko sind also auch…mehr als nur Kollegen?“

 

„Ja, das sind wir. Nicht von Anfang an, aber mit der Zeit wurden die Gefühle immer stärker. Wir hatten beide unsere Päckchen zu tragen und wir sind sehr verschieden. Unsere Vergangenheiten kamen uns immer wieder in die Quere – unsere Väter, die immer wieder Probleme machten und…aber das würde jetzt alles zu weit führen. Manchmal haben wir es uns sicher selber schwer gemacht. Aber irgendwann konnten wir es dann nicht mehr unterdrücken und so…na ja, das kennen Sie ja vermutlich alles selber. – Fakt ist, als Eric damals so dalag…bleich und halbtot in diesem verdammten Krankenhausbett, da habe ich mir geschworen, nichts mehr auf die lange Bank zu schieben. Es kann so schnell alles vorbei sein und wenn es einmal soweit ist, will ich mein Leben gelebt haben, verstehen Sie?“

 

Wieder nickte Ziva langsam mit dem Kopf. Sie war ziemlich verblüfft über die Parallelen, die es offensichtlich in ihrer beider Leben gab. Das hatte sie nicht erwartet. „Det. Delko hat es aber gut überstanden – er ist wieder ganz gesund geworden. Das freut mich für Sie“, sagte sie und sie meinte es ehrlich.

 

Wieder lächelte Calleigh leicht. „Ja, mittlerweile geht es ihm wieder gut, aber es war ein langer, ein harter Weg. Eric hatte lange Zeit Aussetzer, sein Gedächtnis machte ihm zu schaffen und das wiederum führte zu Problemen im Job, denn er hat zunächst versucht, es vor allen zu verheimlichen. Außerdem hatte er fast eine Phobie gegen Waffen entwickelt. Gar nicht gut in unserem Job. Wenn Horatio nicht gewesen wäre…ich weiß nicht, wie die Geschichte dann ausgegangen wäre, aber er war phantastisch. Egal, wie schief mal wieder etwas gelaufen war – egal, wie sehr Eric sich anfangs auch gesträubt hat – er ist immer hinter ihm gestanden und hat geholfen, wo er nur konnte. Selbst wenn er sich dafür weiter oben unbeliebt machen musste. Horatio ist unser Boss, Lt. Caine“, setzte sie dann überflüssigerweise noch hinzu.

 

Jetzt war es an Ziva, leicht zu lächeln. „Ich weiß“, sagte sie. „Aber was ich nicht weiß ist, warum Sie mir das alles erzählen?“

 

„Weil ich gesehen habe, wie Sie leiden“, antwortete Duquesne. Der Besprechungsraum füllte sich langsam und sie wusste, dass das Gespräch unter Frauen nun vorbei war. Sie griff nach Ziva´s Hand und drückte sie kurz, als sie schnell noch hinzufügte. „Und ich wollte Ihnen helfen. Wie gesagt, ich weiß, wie Sie sich fühlen und ich hoffe, ich konnte Ihnen mit meiner Geschichte wenigstens etwas Vertrauen in uns und unsere Arbeit geben. Ich kann mir vorstellen, dass das alles nicht leicht für Sie und Ihre Kollegen ist. Eine fremde Stadt – ein fremdes Team und bislang noch keine wirkliche Spur. Aber glauben Sie mir: Wir leisten hier verdammt gute Arbeit und wir werden Ihren Verlobten und diese Anna finden. Lt. Horatio Caine ist der Beste.“

 

Dieses Mal entzog Ziva sich der blonden Frau nicht. Es war merkwürdig, aber sie hatte tatsächlich das Gefühl, dass sie in dieser kurzen Zeit eine Vertraute, ja, fast eine Freundin gewonnen hatte. Aber jetzt musste sie doch widersprechen: „Nein“, sagte sie mit fester Stimme. „Gibbs ist der Beste.“ Dabei nickte sie ihrem Boss zu, der gerade mit einem Becher Kaffee den Raum betrat und sie fragend anblickte.

 

„Ziva? Wo zum Teufel warst du? Ich habe dich gesucht. Alles in Ordnung?“

 

„Ja, alles in Ordnung, Boss. Es geht mir gut.“ Überrascht registrierte die Braunhaarige, dass dies tatsächlich der Wahrheit entsprach. Sie fühlte sich wirklich deutlich besser und das hatte sie ausschließlich Calleigh zu verdanken, die sich ohne zu zögern Zeit für sie genommen und dabei viel von sich preisgegeben hatte. Eine praktisch Wildfremde. Ziva wusste nicht, ob sie dies so gekonnt hätte und sie war immer noch beeindruckt von der Handlungsweise der zierlichen blonden Frau. „Danke“, sagte sie schlicht und lächelte ihrem Gegenüber offen zu.

 

„Ich sag´s noch mal: Gerne. Ziva, ich hoffe, Sie glauben jetzt, dass wir wissen, was wir tun. Vertrauen Sie uns.“

 

Ziva nickte – sie wollte es versuchen und das war weit mehr, als sie jemals einer Person zugestanden hatte, die sie gerade erst kennengelernt hatte.


74. Kapitel

Im Gefängnis in den Everglades – Etwa zur gleichen Zeit

 

Noch immer starrte Anna mit weit aufgerissenen Augen auf die kleine bunte Schlange, die sich augenscheinlich ziellos auf dem vorwiegend sandigen Boden der kleinen Holzhütte vorwärts bewegte und dabei in unregelmäßigen Abständen ihre Zunge vor dem Kopf sehen ließ. Das leise Zischeln war dabei jedes Mal überraschend deutlich zu hören und es kam Tony so vor, als verkrampfe sich die junge Frau in diesen Momenten noch ein wenig mehr, als sie es sowieso schon war. Anna stand mit dem Rücken so fest in ihre Ecke gepresst, dass es den Halbitaliener nicht gewundert hätte, wenn sie die Wände der Hütte alleine durch ihre furchtbare Angst zum Einsturz gebracht hätte. Aber dieser fromme Wunsch wurde ihm natürlich leider nicht erfüllt. Anna´s Finger umklammerten, die Eisenkette, an die sie gekettet war, so fest, dass das weiße an ihren Fingerknöcheln sichtbar wurde. Da! Jetzt änderte die Schlange ohne ersichtlichen Grund ihre Richtung und bewegte sich nun direkt auf Anna zu. Das leise Wimmern der jungen Frau gewann an Lautstärke. Für Tony der entscheidende Moment einzugreifen, sofern ihm das in seiner misslichen Lage überhaupt möglich war, aber er wollte nichts unversucht lassen, die Situation zu entschärfen. Die Lage war prekär, das war klar – es konnte eigentlich nur besser werden.

 

„Anna, nicht! Beruhige dich! Hörst du? Anna, du musst mir zuhören! Bitte!“

 

Keine Reaktion – lediglich Anna´s Wimmern wurde wieder etwas leiser.

 

„Keine Panik, Anna!“, zischte Tony die beinahe hysterische junge Frau an, denn eine warnende Stimme in ihm verbot ihm, laut zu schreien und somit womöglich auch noch das Reptil aufzuschrecken. „Sieh´ mich an! ANNA! Du-sollst-mich-an-se-hen!-SO-FORT!“

 

Da! Jetzt schien er einen Zugang zu seiner neuen Freundin gefunden zu haben, denn Anna wendete ihm nun ihr Gesicht zu – sie drehte ihren Kopf jedoch so unendlich langsam, als würde ihr jede Bewegung fürchterliche Mühe abverlangen. Tony hielt die Luft an – hoffentlich knickte sie jetzt nicht wieder ein. Während er darauf wartete, dass er endlich Anna´s ungeteilte Aufmerksamkeit bekam, wobei er sie keine Sekunde aus den Augen ließ, ratterte sein Gehirn auf der Suche nach einer Lösung des Problems unaufhörlich. Er hatte keine Ahnung, mit was für einer Schlange sie es hier zu tun hatten. Er konnte nur hoffen, dass es sich nicht um ein giftiges Exemplar der Gattung zu tun hatte. Und falls sie doch giftig war…nun, vielleicht genügte für diesen Fall ein Stoßgebet, dass Anna die Ruhe bewahrte und das Tier sich nicht plötzlich aus irgendeinem Grund bedroht fühlte und aggressiv oder noch schlimmer – angriffslustig – wurde. Er machte sich nichts vor. Sollte das passieren, dann waren sie beide in noch ernsteren Schwierigkeiten, also sie bisher schon waren, sofern das überhaupt noch möglich war…Gewittert hatte das Tier sie bestimmt schon – er hatte mal irgendwo gelesen, dass Schlangen alleine durch ihr Züngeln mögliche Gegner ausmachen konnten – oder eben Opfer, je nachdem, wie man es sehen wollte. Jepp, beten konnte auf keinen Fall etwas schaden. Die Farbe der Schlange nährte seine Sorgen noch zusätzlich. Schwarz, rot und gelb! Leuchtend bunt! Wie war das noch? Die Tiere, die in den grellsten Farben leuchteten, waren zumeist auch die giftigsten! Alleine die Vorstellung, dass die Schlange giftig war – sie Anna womöglich gleich zu Tode biss…und er dann hier in dieser unwirklichen Gegend zusammen mit einer schnell verwesenden Leiche bei brütender Hitze auf Rettung hoffen musste, jagte Tony eine Gänsehaut über den Rücken und er spürte wie sich seine verschwitzten Nackenhaare sträubten. Himmel! Panik konnte tatsächlich ansteckend wirken. Ruhig, Tony, versuchte er sich einzubläuen, ganz ruhig, Alter.

 

„T…T…Ton…ny?“ Nach einer schier endlos währenden Zeitspanne blickte Anna Tony jetzt endlich mit vor Panik geweiteten Augen an. Sie zitterte am ganzen Körper und ihre Lippen bebten so sehr, dass sie kaum einen Ton herausbrachte.

 

Jetzt lag es an ihm, im richtigen Moment die richtigen Worte zu finden und kein dummes Zeug zu reden. „Anna, hör´ mir zu.“ Puh, das war gar nicht so einfach. „Steh´ einfach ganz ruhig, dann wird sie dir nichts tun. Hast du gehört, Anna, gaaaanz ruhig bleiben.“ Verdammt, wenn er doch nur selber von seinen guten Ratschlägen überzeugt gewesen wäre…wenn Tony ehrlich sich selbst gegenüber war, war er alles andere als das, aber das war jetzt unwichtig. Wichtig war in diesem Augenblick nur, dass er so zuversichtlich rüber kam, dass Anna seinen Worten Glauben schenkte. „Anna?“ Jetzt ließ er seine Stimme sanft und fragend klingen.

 

Das blonde Mädchen war völlig erstarrt und wagte es Gott sei Dank sowieso nicht, sich zu rühren. Voller Angst erwiderte sie seinen eindringlichen Blick aus grünen Augen. „I…ich h…has…ich hasse…d…S…S…Schlangen“, stammelte sie, wobei sich ihre S-Laute vor dem Wort Schlange beinahe wie deren Züngeln anhörte.

 

„Ich weiß“, redete Tony beruhigend auf Anna ein, obwohl er bis jetzt ja überhaupt keine Ahnung davon gehabt hatte. „Ich weiß. Aber schau…schau doch, wie klein sie ist…sie ist bestimmt noch ein Baby…“ Mann, was für einen Schwachsinn redest du hier, schalt er sich gleich darauf selber. Aber dann bemerkte er, dass seine Worte offenbar Wirkung zeigten, denn in Anna´s Blick machten erste Zweifel der Panik Platz. Gut, die Babynummer zog, also weiter so! „Ich denke, dass sie sich nur verlaufen hat.“

 

„B…bist du s…s…sicher?“

 

„Na klar. Ich bin sicher, dass sie noch viel mehr Angst vor uns hat, als wir vor ihr. Sie sucht wahrscheinlich nur nach einem Weg nach draußen.“ Hoffentlich!

 

„Mmmh“, antwortete Anna leise. Sie stand zwar immer noch in ihre Ecke gepresst, aber ihre Haltung wirkte nicht mehr gar so verkrampft, wie Tony erleichtert feststellte.

 

Langsam bewegte sich die Schlange weiter, wobei sie einmal mehr die Richtung änderte, was Anna ein erleichtertes Seufzen entlockte. Jetzt aber kam sie direkt auf Tony zu, der unwillkürlich den Atem anhielt. Sich jetzt bloß nichts anmerken lassen, so musste die Devise lauten. Bloß nicht zucken – bloß nicht einknicken! Das war zwar leichter gesagt, als getan, aber es musste sein – auch wenn es einen zusätzlichen Kraftakt für ihn bedeutete und er ja eigentlich mit seinen Kräften haushalten wollte. Rebekka würde sicher auch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Da machte sich Tony nichts vor, aber jetzt galt es erst einmal, diese brisante Situation zu überstehen. Ungeachtet seiner Zahnschmerzen biss er die Zähne fest zusammen als die Schlange ihm immer näher kam. Wie zur Salzsäule erstarrt stand er an seinem Balken. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er das Reptil, das schließlich nur wenige Zentimeter von seinem Fuß entfernt ruhig an ihm vorbei in Richtung Eingang glitt und schließlich leise vor sich hinzüngelnd unter dem breiten Spalt in der Tür verschwand. Tony traute sich im ersten Moment kaum, richtig auszuatmen – jetzt konnte er sich lebhaft vorstellen, wie Anna sich eben gefühlt haben musste. Er war inzwischen so verkrampft, dass es ihm undenkbar erschien, seine verkrampften Gliedmaßen einfach wieder zu entspannen. Er hatte Angst, dass sie ihm die vom Gehirn ausgesandten Befehle, schlichtweg verweigerten und so verharrte er noch einige Augenblicke lang in der gleichen Position, bevor er es sich endlich gestattete, wieder wenigstens ein bisschen bequemer zu stehen – soweit ihm dies in seiner Lage überhaupt noch möglich war.

 

„Siehst du…ich hab´s doch gesagt“, meinte er schließlich so cool wie möglich und hörte dabei doch das leichte Zittern in seiner Stimme, während er seiner Mitgefangenen erleichtert ein schiefes, grotesk anmutendes Lächeln schenkte. „Hey, wie geht´s dir?“

 

„Ganz gut soweit“, antwortete Anna, während sie sich wieder auf den Boden setzte und umständlich an ihrer Kette herumsortierte. „Glaubst du, sie haben dieses Vieh auf uns losgelassen.“

 

„Kann sein – zuzutrauen wäre es …“

 

Weiter kam Tony nicht, denn Anna wurde plötzlich erneut hektisch. Schon stand sie wieder auf den Füßen und zerrte wie wild an der Eisenkette. „Tony – ich glaube, der Haken hat sich gerade gerührt! Durch mein Aufspringen hat sich anscheinend endlich was getan.“

 

Na, das war doch endlich mal eine gute Nachricht! „Wow“, rief Tony zu Anna rüber. „Ja, ich kann schon erkennen, wie er wackelt. Weiter so! Schnell, mach weiter!“ Das brauchte er Anna nicht zweimal zu sagen, die inzwischen wie besessen an Ring und Kette zog und riss. „Pass auf, tu dir nicht weh. Es reicht, wenn einer von uns verletzt ist.“ Aufgeregt beobachtete er, wie die zierliche Frau langsam Fortschritte machte. Er hatte zwar noch keine Ahnung, wie es dann weitergehen sollte, doch das würde sich schon finden. Der Haken in der Wand wurde immer lockerer – gleich…gleich hatte sie es geschafft.

 

„Ein bisschen noch…“, rief Anna Tony jetzt erleichtert und hoffnungsvoll zu. „…dann lässt er sich vielleicht rausziehen“. Immer wieder ruckelte sie mit einer Hand an dem Haken, während sie mit der anderen gleichzeitig mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, die Kette anspannte und daran zog. Das Holz in der Wand warf Splitter ab, die ihr in die Haut drangen, doch Anna spürte es nicht einmal. Auch ihr Blut, das ihr warm über die Finger rann, hielt sie nicht davon ab, weiterzumachen. Das Adrenalin rauschte in ihren Ohren und ließ sie gerade nichts anderes mehr wahrnehmen.

 

Doch Tony hörte es plötzlich! Ein Geräusch! Eine kurze Hoffnungssekunde lang glaubte er noch, er hätte sich geirrt, doch da war es wieder – dieses entsetzlich unwillkommene Geräusch, das sich schneller näherte, als es ihm lieb war. Es handelte sich eindeutig um das laute Dröhnen eines Airbootmotors! „Nein! Verdammt, nicht gerade jetzt! Das darf doch nicht wahr sein!“, stieß er frustriert aus und wenn er gekonnt hätte, hätte er mit dem Fuß aufgestampft. Es war zu spät! Rebekka und Caulder kamen zurück! Scheiße! Konnte er denn nicht auch einmal ein wenig Glück haben? Natürlich konnte es sich auch einfach nur um einen Fremdenführer handeln, der mit seinem Boot voll Touristen in den Everglades unterwegs war, aber daran glaubte Tony nicht. Er spürte förmlich die Präsenz seiner Peinigerin und versuchte, die Panik, die unaufhaltsam in ihm aufsteigen wollte, zurück zu drängen. „Anna! Sofort aufhören!“ Keine Reaktion. „Anna! Hörst du nicht, du musst aufhören!“

 

Anna hielt in ihren Bemühungen inne und blickte Tony verwirrt an. „Was? Warum?“

 

Er hatte jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. „Sie kommen zurück! Schnell, den Haken zurück in die Wand – so tief wie möglich! Drück` ihn so fest du kannst, wieder rein, vielleicht merken sie ja dann nicht, dass er locker ist.“ Er sah die Frustration in den müden Augen des Mädchens und nickte ihr, wie er hoffte, beruhigend zu. „Hey, keine Sorge. Das kriegen wir schon hin. Bestimmt wird schon nach uns gesucht! Wir müssen nur noch ein wenig durchhalten – diesen Tag überstehen. Dann werden sie schon kommen und uns retten!“ Er machte eine kurze Pause und wappnete sich, innerlich für das, was nun unwiderruflich folgen würde. Draußen wurde gerade der Motor des Airbootes ausgestellt und leise Stimmen waren zu hören. Die eines Mannes und einer Frau. Verflucht, er hatte es doch geahnt, doch dieses Mal hätte er sehr gerne in Kauf genommen, Unrecht zu haben. Zutiefst deprimiert fing er Anna´s Blick ein und hielt ihn fest. Es fiel ihm schwer, in diesem Moment Zuversicht zu verbreiten, denn er fühlte sich gerade alles andere als zuversichtlich. Allerdings hatte Anna bis jetzt so tapfer durchgehalten, da wollte er nicht riskieren, dass sie sich jetzt aufgab, Es lag an ihm, ihr die nötige Hoffnung zu geben. „Durchhalten, Anna“, wiederholte er daher eindringlich. „Nur noch ein bisschen! Meinst du, du schaffst du das?“

 

Tränen liefen in Sturzbächen über die Wangen der jungen Frau, als sie zaghaft nickte und sich zitternd darum bemühte, den Ring rechtzeitig wieder in der Wand zu verkeilen, was ihr jedoch nur notdürftig gelang, wie Tony mit einem kontrollierenden Blick deprimiert feststellte. Doch es blieb keine Zeit mehr, darüber nachzugrübeln, ob das wohl genügte, denn keine fünf  Sekunden später wurde die Tür aufgestoßen. Der Albtraum ging weiter!

 

75. Kapitel

12.00 h: Besprechungsraum des Miami PD – Abby

 

Nachdem sich der Besprechungsraum schon bis fast auf den letzten Platz gefüllt hatte und sowohl die kalifonischen Polizisten wie auch die NCIS-Agents aus Washington einige mal mehr und mal weniger neugierige Blicke getauscht hatten, betrat schließlich Horatio Caine als letzter mit festen Schritten das Zimmer und nahm in gewohnt souveräner Manier am Kopfende des Tisches seinen Platz ein. Bevor er zu sprechen begann, blickte er kurz in die Runde und eröffnete das Meeting mit einer Vorstellungsrunde für alle Beteiligten. Er fasste noch einmal kurz zusammen, was sie wussten und wandte sich dann an Eric Delko, der links von ihm Platz genommen hatte. Zugleich wies er auf einen Stapel Papiere, der seitlich vor ihm auf dem Tisch lag.

 

„Eric, übernimmst du bitte das Verteilen der Dossiers.“

 

„Sicher, Horatio.“ Delko erhob sich, griff nach den Unterlagen und reichte diese an die Kollegen weiter, die interessiert danach griffen und umgehend anfingen, darin zu blättern.

 

„Gentlemen, ich möchte um einen Augenblick Geduld bitten, sie können die Akten später noch in Ruhe durchlesen“, unterbrach Caine die eifrigen Aktionen. „Alles, was für den Moment wichtig ist, sind die Fotos, die Sie in den Dossiers finden werden. Bitte studieren sie diese auf das genaueste! Es sind sowohl Fotos von den beiden Gesuchten, aber fast noch wichtiger sind momentan die Bilder der beiden Entführer.“

 

„Haben wir es tatsächlich nur mit zwei Entführern zu tun?“, meldete sich ein Kollege zu Wort, der das Dossier als einer der Ersten erhalten hatte und daher schon weiter mit dem Blättern gekommen war. „Ich meine, diese Frau…ist das tatsächlich immer dieselbe?“

 

„Agent Gibbs?“, übergab Horatio das Wort an den grauhaarigen Teamleiter, der daraufhin unverzüglich aufstand.

 

„Ja, es handelt sich bei der Frau immer um ein und dieselbe Person. Sie ist Israelin, spricht unsere Sprache aber fließend. Lediglich ein kleiner Akzent ist zu bemerken, den sie zuletzt erfolgreich als irisch verkauft hat. Sie kann – wenn sie will – sowohl freundlich und verbindlich, wie auch hilfebedürftig wirken. Damit erzielt sie eine große Wirkung auf Männer, Was ihr Äußeres angeht, so ist sie extrem wandlungsfähig. Ihre wichtigste Charaktereigenschaft aber ist, dass sie eiskalt ist. Eine ausgebildete Killerin, die keine Sekunde zögert, zu töten. Sollten Sie ihr begegnen, so dürfen Sie sich keinesfalls von ihr blenden lassen. Es könnte ihr Todesurteil bedeuten! Eine einzige Unachtsamkeit und Rebekka Rivkin wird dies zu ihrem Vorteil ausnutzen! Diese Frau geht über Leichen, dabei ist es ihr völlig gleichgültig welches Geschlecht sie haben oder wie alt sie sind. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt?“

 

Damit nahm Gibbs wieder Platz. Er hatte gesagt, was gesagt werden musste und für seine Verhältnisse hatte er nun wahrlich genug geredet. Horatio registrierte einmal mehr, dass der NCIS-Teamleiter offenbar nicht gerne viele Worte machte und so übernahm er wieder das Sprechen.

 

„Also gut, ich muss wohl keinen hier mehr darauf hinweisen, dass der Zeitfaktor bei Entführungen eine ungemein wichtige Rolle spielt. Je eher wir die Suche also eingrenzen können, umso besser stehen die Chancen für die beiden Vermissten. Zunächst einmal werde ich via Bildschirm die Labortechnikerin des NCIS zuschalten, Miss Abigail Sciuto. Sie wird uns das Ergebnis der Blutproben mitteilen, die wir gestern auf dem Parkplatz des Naturreservates sicherstellen konnten.“ Horatio betätigte einige Knöpfe und auf dem Bildschirm wurde das Gesicht von Abby sichtbar, die sofort – neugierig wie immer – ihre Augen suchend im Raum herumgeistern ließ, wobei ihre Rattenschwänze unaufhörlich rauf und runter wippten, denn vor lauter Aufregung konnte sie kaum still stehen.

 

Natürlich wollte sie wissen, mit wem sie es hier zu tun hatte, aber noch viel wichtiger war es für sie, ihre Leute dort unversehrt sitzen zu sehen. Seitdem sie quasi mit Ducky und Palmer alleine war, fühlte sie sich extrem einsam und wurde zusehends nervöser. Und Vance, der sie beinahe stündlich mahnte, dass sie schließlich auch für die anderen Teams zuständig war, nervte sie inzwischen ungeheuer. Jetzt entdeckte sie Gibbs und Ziva zwischen all den unbekannten Gesichtern und sprang vor lauter Freude enthusiastisch in die Luft, was bei Eric Delko ein erstauntes Augenbrauenhochziehen zur Folge hatte. Diese Frau dort auf dem Bildschirm schien definitiv…anders zu sein. Doch es kam noch besser.

 

„Gibbs, Ziva, Gott sei Dank, da seid ihr ja! Hallllooo!“ Ein hektisches Winken in die Kamera begleitete ihre Worte. „Ihr ahnt ja nicht, wie ich euch vermisse. Oder doch? Ach, egal, auf jeden Fall vermisse ich euch! Aber…“, suchend wanderten ihre Augen durch den Raum, „… wo ist denn McGee?“ Eine steile Sorgenfalte umwölkte ihre hübsche Stirnpartie. Sie konnte ihren Freund, der in einer für die Kamera nicht einsehbaren Ecke saß, nicht entdecken und umgehend verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck. „Tim? Timmyyyyy? Gibbs, was soll das? Wo ist er?“ Streng guckte sie den Grauhaarigen an, ungeachtet der Tatsache, dass inzwischen einige der ihr fremden Gesichter unverkennbar amüsiert ihrem Schauspiel folgten. „Oh, mein Gott, du hast ihn doch nicht etwa auch verloren? Gibbs, ich schwöre dir, wenn Timmy auch etwas zuge…“

 

Knurrend wandte sich der Grauhaarige an seinen Agent. „Tim…würdest du bitte?“

 

„Wie?“ McGee verstand nicht gleich und Gibbs Miene wurde zusehends wütender. Die Situation war ihm sichtlich peinlich, was Tim allerdings sehr gut nachvollziehen konnte. Schon allein, dass Abby ihn hier vor allen anderen `Timmy´ nannte…

 

„Komm her und zeig dich, verdammt. Heute noch! Sie dreht mir sonst noch durch.“

 

Tim beugte sich vor, so dass die Kamera ihn einfangen konnte und winkte Abby kurz zu. „Keine Sorge, Abs. Ich bin hier.“ Damit zog er sich gleich wieder zurück und wollte am liebsten im Erdboden versinken. Unwillkürlich fragte er sich, ob die Kollegen aus Florida sie jetzt überhaupt noch ernst nehmen würden, was – wenn er in die Gesichter rings herum blickte – sicherlich nicht unbegründet war. Abby hingegen stöhnte erleichtert auf:

 

„Gottseidank! Ich dachte schon…“ sprudelte sie weiter. Dann trat sie einen Schritt beiseite und gab den Blick auf 4 Pappkameraden frei, die unverkennbar ihre Freunde darstellten. Tony war schon da gewesen, bevor sie abgereist waren, aber seine Pappfigur hatte jetzt Gesellschaft bekommen. „Vance will, dass ich sie entferne, aber…“ Die Laborgoth schüttelte entrüstet den  Kopf, dass ihre Zöpfe nur so flogen. „…ich denke nicht daran. Ich fühle mich einfach besser, wenn ihr bei mir seid.“

 

An diesem Punkt wurde sie streng von Gibbs unterbrochen, der es jetzt an der Zeit fand, einzugreifen, bevor Abby noch völlig abhob. „Abs, was hast du für uns?“

 

„Oh, ja, natürlich! Entschuldigt.“ Ein wenig zerknirscht wendete sie ihr Gesicht jetzt Horatio zu, der dem Schauspiel ziemlich überrascht gefolgt war. „Okay – und sie sind bestimmt der Boss. Richtig?“

 

„Richtig“, schmunzelte Caine.

 

„Oh, das habe ich doch gleich gesehen. Sie strahlen so was aus…genau wie Gibbs´. – Übrigens, Gibbs! Ducky hat mir einen Becher CafPow gebracht, weil du ja nicht da bist. Er hat gesagt, ich hätte es bestimmt nötig und damit hat er natürlich Recht!“ Schnell setzte sie den Strohhalm an die Lippen und nahm genüsslich einen großen Schluck. Danach atmete sie einmal tief durch und ihr hübsches Gesicht wurde ernst. „Entschuldigen Sie, ich bin immer so entsetzlich nervös, wenn ich einer solchen Konferenz zugeschaltet werde. Und wenn ich nervös bin, dann…na ja, Sie haben es ja alle erlebt. Also, die Ergebnisse der Blutproben, die Det. Delko mir hat zukommen lassen, waren eindeutig.“ Für alle Anwesenden im Besprechungsraum war es unverkennbar, dass Abby´s Unterlippe deutlich anfing zu zittern, doch für den Moment riss sie sich noch geradezu meisterlich zusammen. „Gibbs…es…es handelt sich um Tony´s Blut – oh, ähm, ich meinte natürlich, es ist das Blut von Senior Field Agent Anthony DiNozzo. Außerdem hat Det. Delko mir später noch eine Reihe von Fingerabdrücken zugeschickt. Aber das waren eher Teilabdrücke und auch größtenteils ziemlich verwischt. Leider keine gute Qualität.“ Bedauernd schüttelte sie mit dem Kopf.

 

„Tut mir Leid“, meldete sich Eric zu Wort. „Aber es war sehr schwierig, überhaupt brauchbare Abdrücke oder Spuren zu finden, bei den vielen Menschen, die tagtäglich auf dem Gelände herumlaufen. Gibt es denn gar nichts Verwertbares?“  

 

„Oh – das sollte keine Kritik sein. Sicher haben sie ihr Bestes getan und es gab auch etwas Brauchbares. Einen dieser Teilabdrücke konnte ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Sam Caulder, diesem Schwein, zuordnen.“ In Sekundenbruchteilen verfinsterte sich ihr hübsches Gesicht und mit unverhohlenem Hass fragte sie: „Von ihm habt ihr nicht zufällig auch Blut gefunden, oder?“, was ihren Boss wieder ein warnendes „Abs!“ abnötigte. Umgehend richtete sich Abby´s Zorn gegen ihn. „Was denn? Gibbs! Caulder arbeitet mit Rebekka zusammen! Außerdem: Er hat Tony verraten! Ich weiß wirklich nicht, warum er nicht auch mal zur Ader gelassen…“

 

„ABBY!“

 

„Mensch, Gibbs, ich versteh´ dich nicht! Und überhaupt: Ist doch wahr…der Typ ist ein Schwein“, grummelte Abby stur vor sich hin und wieder verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck, als sie von jetzt auf gleich einen perfekten Schmollmund zog. „Obwohl…eigentlich sind Schweine ja nette Tiere und wirklich intelligent – von daher passt es vielleicht doch nicht auf Sam Caulder“, stellte sie dann abschließend nachdenklich fest.

 

Selbst über Gibbs´ Gesicht huschte jetzt ein leichtes Lächeln. „Geh´ jetzt heim, Abs. Falls Vance was dagegen sagen will, erklär´ ihm, du hättest von mir die dienstliche Anweisung bekommen. Du warst doch sicherlich wieder die ganze Nacht im Büro?“

 

„Na ja, wenn ich jetzt die Zeitverschiebung zugrunde lege und die Tatsache, dass ich ja schließlich nicht wissen konnte, wann ich etwas von euch bekomme, dann…“

 

„Abs, mach dich auf die Socken. Du musst schlafen. Wir brauchen dich fit, falls wir dich wieder brauchen. Meinetwegen leg dein Handy auf den Nachttisch! Ich melde mich, sobald wir etwas haben?“

 

„Versprochen? Und Gibbs, du…du wirst Tony doch finden, nicht wahr?“

 

„Versprochen! So schnell wie möglich!“

 

„Lebend!“

 

„Versprochen!“ Gibbs zögerte nicht den Bruchteil einer Sekunde und blickte Abby, die inzwischen – ein Bild des Jammers – mit seitlich herunterhängenden Armen vor der Kamera stand, während ihr stumme Tränen die Wangen herunter liefen, fest in die Augen.

 

„Okay!“

 

Mit einem Klick beendete Abby die Videokonferenz und der Bildschirm wurde schwarz. Aus den hinteren Reihen wurde ein unterdrücktes `Wow´ laut, was Gibbs jedoch gekonnt ignorierte. Natürlich war ihm klar, wie Abby auf Uneingeweihte wirken musste, aber er wusste es schließlich besser! „Wie wollen Sie weiter vorgehen?“, lautete stattdessen seine Frage an Horatio.

 

„Nun, wir werden ausschwärmen und die Fotos herumzeigen. Um das ganze etwas einzugrenzen, werden wir im näheren Umkreis der Klinik damit beginnen. Da die Entführer ja offenbar wussten, wo ihr Mann untergebracht war, gehe ich davon aus, dass sie keine allzu weiten Wege in Kauf nehmen wollten. Wenn wir die Unterkunft der Entführer finden sollten, wären wir einen großen Schritt weiter, denn dann wissen wir, ob sie unter Umständen ihr Äußeres wieder verändert haben. Die Suche nach den Vermissten werde ich zu Anfang auf die Gegend rund um das Reservat konzentrieren. Es hilft nichts, im Moment können wir nur hoffen, zufällig auf weitere Hinweise zu stoßen.“

 

„Ich halte nichts von Zufällen“, zischte Gibbs wütend, denn das Gehörte passte ihm gar nicht.

 

„Wenn Sie einen besseren Vorschlag haben – Bitte“, antwortete Horatio freundlich. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie sehr es den Mann aus DC wurmen musste, dass sie vorläufig nicht anders weiterkamen.

 

Gibbs knirschte hörbar mit den Zähnen. „Geschenkt“, knurrte er kurz.

 

„Gut, ich würde sagen, dann machen wir uns an die Arbeit.“ Horatio teilte seine Leute paarweise für die Suche ein, so dass sich ungefähr jeweils die gleiche Anzahl von Leuten auf die Hotels, Motels und Pensionen wie auch auf die Gegend rund ums Reservat konzentrieren sollte. Diejenigen, die im Hauptquartier zurückblieben, bekamen die Anweisung, bei jeder ungewöhnlich scheinenden hereinkommenden Meldung umgehend Lt. Caine zu informieren.

 

Als alles erledigt war und jeder wusste, was er zu tun hatte, löste sich die Besprechung auf und der Raum leerte sich peu à peu. Caine bat die NCIS-Agents noch kurz in sein Büro, da er noch ein paar kurze Telefonate führen musste. Auf dem Weg dorthin trafen sie auf einen Mann, der der Besprechung nicht beigewohnt hatte und dem sie zuvor auch noch nicht begegnet waren.

 

„Frank“, begrüßte Caine ihn wie einen alten Bekannten. „Was war los – ich habe dich vermisst. Wolltest du nicht auch dabei sein?“

 

„Oh ja, wollte ich“, antwortete der Angesprochene. „Aber…“ Er wedelte mit einem Papier durch die Luft und Caine nahm es ihm vorsichtshalber ab, bevor die Anzeige noch zu Schaden kam. Er kannte seinen Kollegen, wenn er wütend war. „Es kam mir leider etwas dazwischen. Diese verfluchten Jugendlichen! Du weißt doch, wie lange ich schon hinter diesem Diebespack her bin. Bis jetzt haben sie sich ja auf Luxuskarossen konzentriert, aber jetzt klauen sie auch schon Airboote. Horatio, ich bitte dich! Was zum Teufel soll das? Ein Airboot? Ich fass es nicht. Sorry, aber ich muss jetzt da hin!“

 

Horatio warf einen Blick auf die Anzeige, während er gleichzeitig seinen Kollegen vorstellte. „Das ist übrigens Det. Sgt. Francis Tripp.“

 

„Frank genügt“, sagte Tripp und nickte Gibbs und den anderen zu. Dann wandte er sich wieder Horatio zu. „He, was ist los? Gibst du mir die Anzeige zurück?“

 

Caine wandte sich indessen an Gibbs. „Was meinen Sie? Halten Sie es für einen Zufall, dass dieses Airboot ganz in der Nähe des Reservates, wo Ihre Leute verschwunden sind, gestohlen wurde?“

 

Gibbs´ Gesichtsausdruck konnte man getrost als grimmig einstufen, als er antwortete: „Ich dachte, ich hätte Ihnen eben klar gemacht, was ich von Zufällen halte.“


76.Kapitel

12.55 h in den Everglades  – Überlebenskampf

 

„Puh, hier drinnen herrscht ja vielleicht `ne dicke Luft“, stellte Rebekka fest, als sie gemeinsam mit Caulder die Hütte betrat und rümpfte gleich darauf angewidert die Nase. Mit einem gehässigen Lächeln baute sie sich dann vor ihrem Opfer auf und stemmte gespielt streng die Hände in die Hüften. „Tony, Tony, und ich dachte immer, du gibst auf dich Acht. War wohl ein Irrtum.“ Die Israelin ließ einen ihrer Finger, ungeachtet der Tatsache, dass er seinen Kopf zur Seite drehte, sanft über Tony´s Kinn gleiten. Dann packte sie unvermittelt fest zu und zwang ihn, ihr in die Augen zu blicken. „Was ist los, du sagst ja gar nichts? Oh, ich verstehe, ihr müsst ja förmlich nach Sauerstoff lechzen! – Wie geht´s dir denn heute, mein Lieber?“

 

Tony gab keine Antwort und blickte seiner Feindin nur hasserfüllt in die Augen, was Rebekka lediglich mit einem amüsierten Lächeln zur Kenntnis nahm. „Ooohhh“, säuselte sie dann. „Ich glaube, ich weiß, was mit dir los ist. Dir ist langweilig. Du hast ganz recht, ich glaube, ich bin dir wirklich ein wenig Abwechslung schuldig“. Sie drehte sich um und betrachtete Anna wie eine im Netz einer Spinne zappelnde Fliege.

 

Der Blick ließ Tony´s Eingeweide verkrampfen, ihm schwante Böses.

 

„Hey, Sam, wie gefällt dir eigentlich unsere Kleine hier?“ wandte sich Rebekka an den ehemaligen NCIS-Agenten. „Wie wär´s? Möchtest du nicht ein wenig Spaß mit ihr haben?“ Aufmunternd war sie neben den blonden Mann getreten und legte ihm ihre Hand auf den Arm.

 

„Die Kleine ist nicht schlecht, aber ich bin kein Exhibitionist und wenn mir jemand beim Sex auf meinen nackten Arsch starrt, törnt mich das nicht gerade an“. Langsam ging er auf Anna zu, die sich mit entsetzt aufgerissenen Augen an die Wand drückte und so klein wie möglich machte. Caulder spürte ihre Angst und genoss das Gefühl der Macht, das ihn wie eine Welle durchströmte. „Allerdings…ich könnte ja mal `ne Ausnahme machen. Muss ja nicht hier drinnen sein!“

 

„Caulder – Nein! Das können Sie nicht tun! – Sie sind NCIS-Agent, das …“

 

Rüde unterbrach Tony´s ehemaliger Kollege den hilflosen Halbitaliener. „NEIN! Das bin ich eben nicht mehr! Ja, wenn du deine Nase nicht in meinen Fall gesteckt hättest, wäre ich das jetzt noch. Aber so …“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause „… So bin ich jetzt ins andere Metier gewechselt. Und mal ehrlich: Das macht auch irgendwie mehr Spaß. Deine Schuld – und das hier geht damit auch auf dein Konto.“ Er zückte den Schlüssel für Anna´s Ketten und schloss sie auf. Dann packte er das sich vehement wehrende Mädchen und riss es hoch. Er packte sie an den Haaren, zwang sie zu sich heran und küsste sie hart auf den Mund.

 

Rebekka stand daneben und klatschte begeistert Beifall. „Ja! Los! Zeig´s ihr! Zeig ihr, was ein richtiger Mann ist!“

 

Die junge blonde Frau begann zu panisch schreien, während sie verzweifelt versuchte, sich aus Caulder´s Umklammerung zu befreien. Aber alles Wehren nützte ihr nichts und so wurde sie schließlich wimmernd von dem viel stärkeren Kerl nach draußen gezerrt.  

 

„CAULDER! NICHT! Tun Sie das nicht! Sie hat nichts damit zu tun…“ Verzweifelt brüllte Tony dem Mann nach, der mittlerweile mit seinem Opfer die Hütte verlassen hatte. Tony konnte nur erahnen, was dieser erneute Übergriff für Anna bedeuten musste und es machte ihn schier wahnsinnig, der jungen Frau nicht zu Hilfe kommen zu können. „CAULDER! CAULDER! Du verfluchter Mistkerl! Ich schwöre, ich bring dich um, wenn du sie anfasst! Lass sie in Frieden!“ Fast rasend vor Wut zerrte DiNozzo wieder an den Handschellen, der brennende Schmerz, der gleich darauf wieder einsetzte, war ihm vollkommen egal. Doch seine Bemühungen waren vollkommen sinnlos – nur Rebekka hatte offensichtlich ihr Vergnügen an dem perfiden Schauspiel, während Caulders hämisches Lachen von draußen in die Hütte drang.

 

„Hol´ mich doch, DiNozzo, wenn du kannst! Na los, komm und hol´ mich!“

 

„Tu´s nicht! Tu ihr das nicht an! Gott, bitte, tu ihr das nicht an!“, flüsterte Tony mit hängendem Kopf leise vor sich hin, wohl wissend, dass er keine Chance hatte, dem furchtbaren Treiben ein Ende zu bereiten.

 

Vor der Hütte, verborgen vor Tony´s Blicken, schrie Anna noch mehrmals verzweifelt seinen Namen, bevor ihre Schreie abrupt abbrachen. DiNozzo´s Kopf ruckte hoch und er musste hart schlucken. Die plötzliche Stille empfand er als noch grauenvoller als die Schreie zuvor. Was war da draußen passiert? Wie ging es Anna? War sie bewusstlos? Tot? Was hatte dieser elende Scheißkerl ihr bloß angetan? Seine Augen irrten ziellos in der Hütte herum, bis sie schließlich den Blick der Israeli kreuzten. Zufrieden lächelnd sah diese ihn ruhig an; sie wusste genau, wie sehr ihr Gefangener darunter litt, was mit seiner Begleitung passierte und seine offensichtliche Verzweiflung war für sie mehr als befriedigend.

 

„Zur Hölle mit dir! Was bist du nur für eine Frau?“, flüsterte Tony mit brüchiger Stimme.

 

Rebekka trat noch näher an den NCIS-Agenten heran und ließ ihre Finger fast zärtlich über sein Gesicht gleiten. „Eine rachsüchtige, Mr. NCIS, eine rachsüchtige. Ich dachte, das hättest du inzwischen begriffen.“ Dann verließ sie die Hütte, während Tony sich fast den Hals ausrenkte, um vielleicht wenigstens einen kleinen Blick auf Anna erhaschen zu können. Doch so sehr er sich auch anstrengte…Rebekka gab nichts preis. In der Tür drehte sie sich lediglich kurz um und warf Tony einen Handkuss zu. „Bis später – und wenn ich dir einen Rat geben darf: Schon deine Kräfte. Du wirst sie noch brauchen.“ Damit blieb er alleine in der Hütte zurück, rasend vor Sorge und Wut.

 

                                                               ********

 

Stunden später, so kam es Tony zumindest vor, war der Braunhaarige fast wahnsinnig vor Sorge und Verzweiflung. Immer wieder hatte er zwischendurch laut nach Anna gerufen, doch weder sie, noch Caulder oder Rebekka hatten ihm geantwortet. Einmal war die Israelin in die Hütte gekommen und hatte ihm mehrmals hart in sein ohnehin schon geschundenes Gesicht geschlagen. „Hör endlich mit diesem Geschrei auf“, hatte sie ihn angeherrscht, dann war sie ohne ein weiteres Wort wieder verschwunden, was für ihn fast schlimmer war, als wenn sie sich weiter an ihm ausgetobt hätte. Er spürte, wie seine Kräfte schwanden und sein Durst wuchs ins Unermessliche. Was hatte sie bloß mit ihm vor? So, wie er Rebekka kannte, war er sich sicher, dass sie ihn nicht so einfach verdursten lassen würde. Das war ihr mit Sicherheit zu wenig Spektakel. Nein, es war noch nicht vorbei – das war ihm klar. Noch lange nicht! Matt ließ er seinen Kopf wieder auf seine durchnässte Brust sinken. „Es tut mir so leid, Anna, so entsetzlich leid“, flüsterte er, wobei er bemerkte, dass mittlerweile auch seine Stimmbänder rebellierten.

 

Plötzlich zuckte er zusammen. Unbemerkt war Rebekka in der Hütte erschienen und hinter ihn getreten. Sie pustete ihm in den Nacken und flüsterte: „Hey, mein Schatz, jetzt bist du an der Reihe...freust du dich? – Sam, wo bleibst du denn, zum Teufel?“

 

Kurz darauf betrat Caulder den Raum und grinste DiNozzo frech ins Gesicht, während er sich provozierend vor seinem ehemaligen Kollegen den Hosenschlitz schloss, was den Braunhaarigen unwillkürlich zusammenzucken ließ. Rebekkas Helfershelfer lachte laut auf und machte sich an die Arbeit. Er hatte ein Seil dabei, mit dem er Tony´s Beine fesselte und dann öffnete die Israelin ihm die Handschellen. Der abtrünnige Agent packte Tony hart am Kragen und zog ihn unvermittelt ruckartig nach hinten. Unfähig, sich im Gleichgewicht zu halten, knallte dieser rücklings heftig auf den Boden. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst und keuchend und nach Luft ringend blieb er liegen. Doch er bekam keine Erholungspause. Caulder packte den am Boden liegenden an den Beinen und zerrte ihn am längeren Ende des Seils einfach wie einen Sack hinter sich her aus der Hütte bis zu einer sandigen Stelle in der prallen Sonne. Rebekka fetzte ihm grob sein Hemd vom Körper, dann griffen Tony´s  Widersacher nach seinen Armen und obwohl er sich wehrte, war er viel zu erledigt, um den beiden ernsthaft Paroli bieten zu können. Seine Hände wurden mit den Handschellen über Kopf an einen im Boden verankerten Pflock gefesselt, an dem ein Stahlring befestigt war; dann ließen sie ihn einfach dort liegen und entfernten sich wortlos aus Tony´s Sichtfeld.

 

Ein paar Minuten rührte sich der Halbitaliener kaum, seine Knie schmerzten tierisch und er war froh, sie im Augenblick wenigstens ein bisschen entlasten zu können. Aber schon nach kürzester Zeit begann er, tief nach Luft zu schnappen. Die Nachmittagssonne brannte unerbittlich auf ihn herunter und kurz über dem Boden waberte die Luft förmlich. Die Temperatur lag mit Sicherheit weit über 40° und er hatte mittlerweile das Gefühl flüssige Lava zu atmen. Bei jedem Atemzug schienen seine gequälten Lungen förmlich aufzuschreien: Lass es! Das tut weh! Dann lieber keinen Sauerstoff! Außerdem quälte ihn die Sorge um Anna. Was war mit ihr passiert? Er hatte sie nicht entdecken können, als sie ihn nach draußen geschleift hatten. Es war alles viel zu schnell gegangen. Mühsam wälzte Tony sich herum, robbte an den Holzpflock heran, an dem seine Hände gefesselt waren, damit er etwas mehr Bewegungsfreiheit hatte und mit großer Anstrengung gelang es ihm endlich, sich aufzusetzen. In sitzender Position konnte er zwar leichter atmen, aber die glühenden Sonnenstrahlen, die er wie Feuer auf seinen Schultern und dem Rücken fühlte, schienen sich bis auf seine Knochen zu brennen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er in den Himmel, aber keine einzige Wolke war zu sehen, die ihm vielleicht ein wenig Schatten hätte spenden können. Langsam sah er sich um, Caulder und Rebekka saßen im Schatten eines Mangrovenbaumes und beobachteten ihn stillvergnügt – unwichtig! Viel wichtiger war: Schräg hinter ihnen saß – Anna!

 

Sie war gefesselt und geknebelt, aber ihre Kleidung schien, soweit er es erkennen konnte, unversehrt. „Anna!“, schrie Tony und sofort ruckte sie aus ihrer zusammengekauerten Haltung hoch und versuchte, trotz des Knebels in ihrem Mund zu antworten. Doch nur unverständliche Laute waren zu hören.

 

„Anna, geht es dir gut?“, wagte der Halbitaliener zu fragen, obwohl er Angst vor der Antwort hatte, doch das vehemente Kopfnicken der blonden Frau ließ ihn erleichtert aufatmen. Ein Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet und wortlos sahen sich die beiden Gefangenen einige endlos scheinenden Momente an. Anscheinend war ihr das Unaussprechliche erspart geblieben und wenigstens dafür war Tony unendlich dankbar.

 

Süffisant grinsend hatten Rebekka und ihr Liebhaber die Szene beobachtet.

 

„Ich war ja dafür, dass Caulder es ihr richtig besorgt, aber er hat einfach ein zu zartfühlendes Gemüt.“ Höhnisch warf sie dem Mann neben ihr einen vielsagenden Blick zu. „Aber deinem Gesicht habe ich angesehen, dass du es trotzdem gedacht hast und das war schließlich die Hauptsache.“ Sie öffnete eine neben ihr stehende Kühltasche, entnahm ihr eine Flasche Wasser, reichte eine weitere an Caulder weiter, und prostete Tony lachend zu. „He, DiNozzo, seid ihr NCIS-Leute eigentlich alle solche Weicheier?“

 

Der ehemalige Agent hatte finster ihren Blick erwidert. „Ich mag alles Mögliche sein, aber ich bin kein feiger Vergewaltiger. Wenn ich eine Frau will, krieg´ ich sie auch so.“ Wütend nahm Sam einen tiefen Schluck aus seiner Wasserflasche und Tony sah ihm mit brennenden Augen dabei zu. Mittlerweile fühlte sich seine Zunge wie ein trockener Fremdkörper in seinem Mund an und der Schweiß lief in Sturzbächen seinen Körper hinunter. Inzwischen hätte er wer weiß was für einen Schluck kühlen Wassers gegeben, aber er gab sich keinen Illusionen hin – er würde keinen bekommen!

 

                                                             *********

 

Tony hatte seinen Kopf auf seine Brust sinken lassen und die Geräusche um ihn herum drangen nur noch wie durch Watte an seine Ohren. Er glaubte fühlen zu können, wie sich Blasen auf seinen Schultern bildeten. Seine Haut spannte und glühte gleichermaßen und wenn er noch die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er seine grenzenlose Verzweiflung laut herausgeschrien, doch nur ein heiseres Krächzen drang aus seiner trockenen Kehle, als er seine Peiniger verfluchen wollte.

 

Immer noch beobachtete Rebekka jede seiner Bewegungen und weidete sich an seinen Qualen. So entging ihr auch nicht, wie sich ihr wehrloses Opfer offenbar in sein Schicksal ergab und langsam zur Seite sank. Mit einem leisen Plumpsen fiel er schließlich mit geschlossenen Augen und weit geöffnetem Mund in den Sand und blieb reglos liegen.

 

Tony konnte nicht mehr und er wollte auch nicht mehr. „Ziva, es tut mir Leid“, dachte er noch, „Aber ich habe keine Kraft mehr, zu kämpfen. Es geht einfach nicht mehr. Ich hab´s versucht, für dich… für uns… aber es... geht… nicht… kann… nicht…“ Er spürte, wie er langsam in die Bewusstlosigkeit hinüber dämmerte und er ergab sich ihr fast dankbar. – Endlich, endlich keine Schmerzen mehr.


77. Kapitel

16.00 h – Erste Hinweise

Die überraschende und alarmierende Neuigkeit durch Det. Sgt. Frank Tripp hatte alle elektrisiert. Umgehend hatte Horatio Caine daraufhin einen Helikopter angefordert, um das Gebiet des Naturreservates, der Airboatstation, sowie auch die nähere Umgebung der Everglades von oben absuchen zu lassen. Es hatte sich jedoch gezeigt, dass sie hier ärgerlicherweise Wartezeiten in Kauf nehmen mussten, da derzeit alle verfügbaren Helis zu Einsätzen unterwegs waren – außerdem wollten die Herren in den oberen Etagen nicht gleich einsehen, dass ein solcher Einsatz nur aufgrund eines vagen Verdachts wirklich relevant war. Es kostete den Mann vom Miami PD einiges an Überzeugungskraft, die Notwendigkeit klarzumachen, doch letztlich bekamen sie die Genehmigung und kurz darauf auch die Zusage, dass der erste wieder verfügbare Helikopter sich so schnell wie möglich auf den Weg in Richtung des Kriminallabors machen würde, wobei leider niemand voraussagen konnte, wann er dort eintreffen würde. Diese Information war zwar insgesamt ziemlich unbefriedigend, aber es war das Beste, was sie derzeit erreichen konnten.

Horatio beschloss daraufhin, dass sie sich aufteilten. Delko sollte zurückbleiben, und gleich nach Ankunft des Helis mit der Suche aus der Luft starten. Ziva, die sich hiervon mehr versprach, als von einer erneuten langen Autofahrt, wollte ihn unbedingt begleiten und nach einigem Hin und Her gab Gibbs seine Zustimmung. Ursprünglich hatte er vorgehabt, den ruhigeren McGee Eric an die Seite zu stellen, denn er hatte die Befürchtung, dass Ziva unter Umständen – falls sie tatsächlich aus der Luft auf etwas stoßen sollten – nicht Herrin ihrer Nerven wäre und sich womöglich zu einer gefährlichen Kurzschlusshandlung hinreißen ließ. McGee wiederum war heilfroh, dass er um den Heliflug herumkam. Stattdessen würde er nun Det. Ryan Wolf begleiten und mit ihm zusammen die Hotels, Motels und Pensionen abklappern. Das gleiche würden Det. Calleigh Duquesne und einige weitere Kollegen des Miami PD tun, wobei sie sich zunächst – wie in der Besprechung zuvor vereinbart – um die Gegend in der Nähe von Dr. Seltwicks Klinik konzentrieren wollten. Gibbs wiederum wollte gemeinsam mit Caine raus zu der Airboatstation fahren, in der Hoffnung, dass sie dort weitere Hinweise erhalten würden. Tripp hatte beschlossen, sich an der Motelsuche zu beteiligen, denn die Everglades waren nicht gerade sein bevorzugter Aufenthaltsort. Dieses gestohlene Airboat war eine wichtige Spur – Gibbs spürte instinktiv, dass sie hier auf etwas gestoßen waren, dass sie weiterbringen würde, daher war es für ihn auch keine Frage, dass er bei der Befragung der Touristenführer dabei sein wollte. Er musste auf jeden Fall als Erster mitbekommen, wenn sich etwas Neues ergab. Auch wenn Horatio Caine womöglich neue Anweisungen an seine Leute gab, wollte der NCIS-Chefermittler sofort darüber informiert sein.

Allerdings stellte ihn die erneute lange Fahrt in die Everglades auf eine harte Geduldsprobe. Im Stillen überlegte Gibbs, ob er nicht doch besser im PD geblieben wäre, wo er permanenten Funkkontakt zu allen an der Suche beteiligten Personen gehabt hätte. Doch einfach nur vor dem Funkgerät zu sitzen und zu warten, was die anderen herausfinden würden, hätte er nicht ausgehalten, er musste sich aktiv an der Suche nach Tony beteiligen. Die Ungewissheit, was mit seinem Agent war, zerrte mehr an seinen Nerven, als er vor dem Fremden bereit war zuzugeben, doch Caine war vermutlich lange genug Polizist zu erkennen, was in ihm vorging und so war er dem Rothaarigen Mann an seiner Seite dankbar, dass er ihn für den Moment in Ruhe ließ. Die Worte, die der Mann vom Miami PD vorhin beim Einsteigen in den Wagen zu ihm gesagt hatte, hallten außerdem immer noch in seinem Kopf nach:

„Ich hoffe, Sie haben sich da eben gegenüber ihrer Labortechnikerin nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt“, hatte er vorgebracht.

„Was hätten Sie denn an meiner Stelle gemacht?“, hatte Gibbs barsch geantwortet.

„Nun ja…Miss Sciuto scheint mir…sehr emotional“, hatte Caine gemeint, während er nach seiner Sonnenbrille gegriffen und den Wagen gestartet hatte.

„Agent DiNozzo ist ihr bester Freund.“ Nach einer Pause hatte der Grauhaarige noch leise hinzugefügt: „Sehr emotional, ja! Glauben Sie mir, Caine: Das beschreibt sie nur annähernd.“ Danach war ein Großteil der Fahrt schweigend verlaufen, bis Caine vor einigen Minuten wieder das Wort ergriffen hatte.

„Wir sind gleich da“, hatte er mit einem Seitenblick auf seinen Beifahrer, der seit geraumer Zeit schweigend aus dem Fenster blickte, gesagt und Gibbs hatte ihm als Antwort lediglich ein knappes Kopfnicken gegönnt.

Caine tolerierte das Schweigen, obwohl er im Grunde eine Menge Fragen an den Mann vom NCIS hatte…zum Beispiel hätte er gerne mehr über den Vermissten erfahren – einfach, um die Person besser einschätzen zu können. Was würde der tun – jede sich bietende Gelegenheit zur möglichen Flucht nutzen oder würde er abwarten und auf Hilfe hoffen? War der Mann impulsiv oder eher ruhig? Erfahren oder ein Heißsporn, der sich noch seine Lorbeeren verdienen wollte oder musste? All das zu wissen würde ihm bei der Sondierung der Situation helfen, doch leider war seinem Begleiter offenbar immer noch nicht nach Kommunikation zumute. Überhaupt schien dieser Gibbs ein sehr schweigsamer Vertreter zu sein – trotzdem verstanden ihn seine Leute offensichtlich auch ohne viele Worte. Eins war auf jeden Fall deutlich erkennbar: Leroy Jethro Gibbs genoss eindeutig den Respekt seiner Mitarbeiter und zusätzlich auch noch deren uneingeschränktes Vertrauen. Tatsachen, durch die Caine in kürzester Zeit von dem grauhaarigen Chefermittler des NCIS eingenommen war.

Jetzt griff Gibbs nach seinem Handy und drückte eine Kurzwahlnummer. Nachdem er einen kurzen Augenblick ungeduldig gewartet hatte, fragte er: „Ziva? Ist der Helikopter schon da? – Nein? – Warum nicht, zum Teufel? – Okay, was glaubst du, wann ihr euch auf den Weg machen könnt? – Gut, du hältst dich an die Anweisungen von Det. Delko, ist das klar? – Ziva…!“ Der letzte Ausruf klang sehr energisch und Caine warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. „Agent David – ich verlasse mich auf dich – habe ich mich klar ausgedrückt?“ Gibbs lauschte noch einmal kurz und beendete dann das Telefonat grußlos indem er sein Handy wütend zusammenklappte und auf die vordere Ablage knallte.

„Alles in Ordnung?“

„Ja!“ Die Antwort kam ein wenig zu schnell. „Alles okay!“

„Wird sie die Nerven behalten?“, erkundigte sich Caine mit ruhiger Stimme und als Gibbs ihn mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite her musterte, setzte er überflüssigerweise hinzu: „Ich rede von Agent David.“

„Schon klar“, schnaubte der Grauhaarige. „Und, ja! Die Antwort lautet ja! Machen Sie sich keine Sorgen. Agent David ist ein Profi.“

„Das habe ich nicht bezweifelt – aber hier geht es um ihren Geliebten, nicht wahr? Sie steht unter starker emotionaler Anspannung. Das ist ohne Zweifel etwas, was die Professionalität beeinträchtigen kann – sind wir uns da einig?“

„Normalerweise sicher, aber nicht bei Ziva. Sie kennen sie nicht. Sie wurde vom Mossad ausgebildet – sie ist stärker als andere – das hat sie in der Vergangenheit schon oft bewiesen“, erläuterte Gibbs.

„Nun, ich hoffe, Sie behalten Recht. Aber bei Eric Delko ist sie gut aufgehoben –
machen Sie sich keine Sorgen. Auch er kennt diese … besonderen Situationen. Er kann damit umgehen.“

„Na, dann ist es ja gut“, fauchte Gibbs und verwünschte sich mal wieder, dass er eine seiner eisernen Regeln gelockert hatte. Er würde es nie zugeben – schon gar nicht vor einem Fremden – aber er machte sich tatsächlich Sorgen. Große Sorgen! Um Ziva! Um Tony! Und auch um Anna, die Frau, die mit Tony in den Sog von Rebekka Rivkin´s kranker Rache geraten war! Das, was Dr. Seltwick ihnen von Anna berichtet hatte, machte ihn nicht gerade zuversichtlich, dass Anna seinem Ziehsohn hilfreich sein könnte. Was letztlich bedeutete, dass Tony durch sie noch mehr gehandicapt war, als er es ohnehin schon war. Und er würde sicher nichts unternehmen, was die junge Frau an seiner Seite in Gefahr brachte.

Caine lenkte seinen Wagen auf einen Parkplatz. Endlich! Im Hintergrund waren mehrere Anlegestege und einige Airboats erkennbar. Ein Stück weiter seitlich befand sich eine größere Holzhütte, die offenbar als Verkaufsraum von Souvenirs an die Touristen diente, denn auf der vorgelagerten Veranda standen diverse Ständer mit Postkarten, Ketten und ähnlichem, Gibbs´ Meinung nach unnützem, Zeug. Noch weiter seitlich – fast vom dichten Schilf verdeckt – sah er eine deutlich kleinere Holzhütte. Dies musste der Aufenthaltsraum der Bootsführer sein, denn Caine hielt nach dem Aussteigen zielsicher darauf zu. Gemeinsam betraten die beiden Männer die Hütte, nachdem Caine Gibbs kurz zuvor auf der Veranda noch schnell zugeraunt hatte: „Überlassen Sie mir das Reden, okay?“ Ohne eine Antwort abzuwarten stellte er sich und Gibbs dann vor und begann mit der Befragung der anwesenden Bootsführer, die um einen runden Tisch in der Mitte der Hütte saßen, an dem sie ihre Pausen zwischen den einzelnen Fahrten verbrachten, während sie auf das Eintreffen der zahlreichen Touristenbusse warteten, die jeden Tag Kundschaft hier raus brachten. Sie erzählten, dass sie dies auch am Tag des Diebstahls getan hätten. Weiter berichteten sie, dass sie die Schlüssel der Airboate tagsüber zwischen den einzelnen Fahrten zumeist beim Boot ließen. Schließlich war es gar nicht so einfach, mit den Booten umzugehen und so ein Diebstahl war in der Vergangenheit noch nie vorgekommen.

Caine ersparte sich die Vorwürfe über solchen Leichtsinn und kam statt dessen auf die gesuchten Entführer und ihre Opfer zu sprechen. Die Männer betrachteten ausgiebig die Fotografien, die Caine ihnen zeigte und jeder einzelne von ihnen schüttelte bedauernd mit dem Kopf. Dabei berichteten sie nebenbei weiter, dass einzelne Führungen eher selten vorkamen, da die meisten Kunden in fest gebuchten Ausflugsgruppen hier erschienen. Doch plötzlich richtete sich einer der Männer auf und sah seine Kollegen fragend an.

„He, Leute, hat Joe nicht letzte Woche irgendwas von einem Pärchen erzählt, dass ihn gebucht und sich von ihm quer durch die Glades hat kutschieren lassen. Danach war er ziemlich sauer, denn angeblich haben sie ihm versprochen, wenn sie einen dauerhaften Platz für ihre Arbeit gefunden haben, dass er sie dann täglich fahren dürfe. Doch er hat nie wieder was von ihnen gehört.“

Gibbs konnte kaum noch an sich halten, so vielversprechend klang das, doch da er bemerkte, dass auch Caine aufmerksam geworden war, hielt er sich zurück. Eingreifen konnte er schließlich immer noch. Außerdem klingelte in diesem Moment sein Handy und so gab er Horatio ein kurzes Handzeichen und zog sich auf die Veranda zurück, in der Hoffnung, dort besseren Empfang zu haben. Er hatte sein Telefonat kaum beendet und wollte gerade wieder die Hütte betreten, als Caine auch schon herauskam. Er setzte seine Sonnenbrille wieder auf und blickte mit schiefgelegtem Kopf kurz in die jetzt tiefer stehende Sonne. Als er Gibbs fragende Blicke bemerkte, bedeutete er dem NCIS-Mann ihm zu folgen und ging in Richtung Anlegestelle. Unterwegs erklärte er:

„Die Männer haben Joe´s Kunden nicht zu Gesicht bekommen – offenbar war er allein in der Hütte, als sie ihn anheuerten. Und er hat ein großes Geheimnis um sie gemacht, da er Angst hatte, dass die Kollegen ihm die regelmäßig zahlende Kundschaft wegschnappen. Der Mann ist noch mit einer Ausflugsgruppe draußen, aber sie werden ihn jetzt anfunken, damit er schnellstmöglich abbricht und zur Anlegestelle zurückkommt. – Was haben Sie?“

„Das war McGee. Es kann sein, dass er und ihr Mann das Motel gefunden haben, wo die beiden abgestiegen sind. Die Verbindung war sehr schlecht, aber wenn ich alles richtig verstanden habe, dann kümmert sich Det. Ryan schon um den Durchsuchungsbeschluss für die Zimmer, da der Portier nicht dazu bereit war, die beiden ohne Beschluss in die Zimmer sehen zu lassen. Scheint `ne ziemliche Spelunke zu sein.“

„Wo?“

„Ungefähr eine Viertelstunde Fahrtzeit von der Klinik entfernt – in der Nähe des Highway.“

„Das würde passen, oder was meinen Sie?“

„Ja, allerdings.“ Gibbs nickte grimmig, trotz des vagen Gefühls der Erleichterung. Endlich schien es vorwärts zu gehen. „Wie lange dauert das mit dem Durchsuchungsbeschluss?“

Caine blickte auf seine Armbanduhr: „Nun, es wird knapp, aber wenn sie Glück haben finden Sie noch einen Richter vor Feierabend.“

„Feierabend?“ Gibbs blickte Horatio entrüstet an. „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder?“

„Keine Sorge! Meine Leute werden einen Weg finden. Wir kommen sicher noch heute an diesen verdammten Wisch!“

„Ich verlasse mich darauf!“ Gibbs knirschte mit den Zähnen. Feierabend! Nicht zu fassen, dass so etwas profanes sie jetzt – an diesem entscheidenden Punkt – womöglich zeitlich wieder zurückwarf. Mittlerweile hatten sie den Anlegesteg erreicht und er starrte erbost in die Ferne: „Himmel, wie lange braucht dieser Typ denn noch…?“

Horatio gab keine Antwort, sondern folgte nur stumm den Blicken des Grauhaarigen.

78. Kapitel

16.30 h – Bei den Gefangenen - Psychoterror

Als Tony erwachte, lag er im Schatten eines Baumes. Er war hoch geschreckt, als ein Schwall brackiges Wasser über ihn geschüttet wurde. Verständnislos sah er einige Augenblicke um sich, bevor ihn die Realität einholte. Seine linke Hand war nach oben gestreckt und mit den Handschellen, die ihn seit eineinhalb Tagen quälten, an einen Ast des Baumes gekettet. Rebekka betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf, wie eine Gottesanbeterin ihre Beute. In der Hand hielt sie eine kleine Wasserflasche, die sie bereits halb geleert hatte. Still genoss sie für einige Augenblicke Tony´s begehrliche Blicke auf die für ihn so kostbare Flüssigkeit.

„Ich nehme an, du hast Durst“, stellte sie dann mehr fest, als das sie fragte. Lächelnd nahm sie einen weiteren tiefen Schluck und beobachtete belustigt, wie ihr Opfer sehnsüchtig, mit aufgesprungenen Lippen auf die Flasche starrte. Doch plötzlich, ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie neben Tony in die Knie und hielt ihm auffordernd die Flasche hin.

Skeptisch ließ der Braunhaarige seinen Blick zwischen der Flasche und ihrem Gesicht hin und her wandern. Was sollte das? Wieso bot sie ihm so überraschend etwas zu trinken an? Langsam drehte er sich so, dass er einen Blick auf Anna´s Gesicht werfen konnte.

„Haben sie dir auch was gegeben?“, fragte er mit einer Stimme, die ihm selber fremd vorkam.

Obwohl Anna bestätigend nickte, zögerte Tony noch. Was bezweckte Rebekka mit dieser vermeintlich freundlichen Geste? Mit Sicherheit war sie noch nicht fertig mit ihm. Sie wollte ihn noch weiter quälen, daran zweifelte er nicht eine Sekunde, also warum tat sie das jetzt? Wenn sie ihn weiter dursten ließ, dann konnte sie sicher sein, dass seine Kräfte weiter schwinden würden und sie leichtes Spiel mit ihm hatte. Warum also? Vielleicht gerade deshalb, um ihn länger am Leben zu halten: Je länger er durchhielt, desto länger konnte sie ihn quälen. Aber als er soweit mit seinen Gedanken gekommen war, verwarf er unversehens alles von einem Moment auf den anderen. Sein Durst war übermächtig und er wollte das Wasser in diesem Augenblick mehr als alles andere! Also überwand er alle Vorbehalte und griff hastig nach dem Objekt seiner momentanen Träume.

Bevor er sie jedoch greifen konnte, zog die Israelin die Flasche ruckartig zurück, so dass der Halbitaliener schwankend ins Leere griff. Mit bebenden Lippen ließ er seine Hand enttäuscht kraftlos sinken. Was zum Teufel hatte er auch erwartet? Dass sie gnädig sein würde? Mitleid mit ihm hatte? Das war wohl das Letzte, womit er rechnen durfte. Doch dann, für ihn völlig überraschend, gab Rebekka Caulder ein Zeichen, woraufhin der eine weitere volle Flasche Wasser aus der Kühltasche holte und sie schweigend an Rebekka weitergab. Sie warf einen kurzen Blick auf die Flasche, bevor sie diese langsam öffnete und Tony dann das Gefäß erneut hinhielt und meinte:

„Na los, nimm schon – ein kleiner Joke wird doch wohl noch erlaubt sein. Was denkst du denn von mir – ich werde dich doch hier nicht verdursten lassen.“

Tony dachte nun gar nicht mehr nach, als er wiederum überstürzt nach der Flasche griff. Er hatte keinen Blick für das erwartungsvolle, listige Grinsen, das Rebekka nicht unterdrücken konnte, als sie ihm das Gefäß dieses Mal tatsächlich überließ.

Er hatte Durst, unbändigen Durst und er wollte in diesem Augenblick nichts anderes, als endlich etwas trinken! Die Gier nach Flüssigkeit war der einzige Gedanke, der noch sein Gehirn beschäftigte. Immerhin hatte er seit mehr als 30 Stunden keinen Tropfen mehr zu sich genommen – und das bei den vorherrschenden Temperaturen. Mit zitternden Händen setzte er die Flasche an den Mund…


16.45 h – Bei der Airboatstation

Noch immer standen Caine und Gibbs am Anlegesteg der Airboatstation und warteten darauf, dass Joe mit seinem Airboat von seiner Tour zurückkehrte. Ungeduldig blickte der Grauhaarige zum wiederholten Male auf seine Armbanduhr.

„Verdammt“, murrte er dann schlecht gelaunt vor sich hin. „Sind Sie sicher, dass die anderen den Mann auch wirklich angefunkt haben?“

Horatio konnte die Ungeduld des Teamleiters sehr gut nachvollziehen und doch wusste er, dass sie hier etwas Geduld brauchten. Daher erklärte er mit dem Kopf nickend besänftigend: „Ich war dabei.“

„So? Und wo bleibt der Typ dann?“, fauchte Gibbs.

„Die Everglades sind sehr weitläufig“, antwortete Caine mit ruhiger Stimme. Er nahm dem Mann vom NCIS seinen Ton nicht übel, denn vermutlich würde er genauso reagieren, wenn es um einen seiner Mitarbeiter ginge. „Er wird kommen, aber vermutlich war er weit draußen; dann braucht er eine Weile für den Rückweg. Geben Sie ihm etwas Zeit!“

Missmutig beobachtete der Teamleiter, wie ein kleiner Alligator vor dem Anlegesteg ins seichte Wasser glitt und ruhig davonschwamm. „Mein Mann hat aber keine Zeit“, knurrte er. „Nicht solange er in den Händen dieser Rivkin ist!“

„Ich weiß“, sagte Caine. „Ich weiß.“ Was sollte er auch sonst antworten? Zu seiner Erleichterung war in diesem Augenblick ein leises Motorengeräusch aus der Entfernung zu hören. Er blickte voraus und wies dann mit einer Hand nach vorn: „Sehen Sie, dort kommt er.“

Als Antwort erhielt er lediglich ein unwilliges Grunzen. Doch auch Gibbs blickte inzwischen gespannt voraus, wo sich ein vollbesetztes Airboat nun rasch dem Anlegesteg näherte. Schon kurz darauf legte es an und der Indianer mit den blauschwarzen dichten Haaren sprang von seinem erhöhten Sitz aus geübt rüber auf den Steg, vertäute sein Gefährt und reichte gleich darauf dem ersten seiner Insassen helfend die Hand, damit dieser gefahrlos das Boot verlassen konnte. Dabei warf er den beiden wartenden Männern am Steg einen neugierigen Blick zu.

„Sind Sie die Männer von der Polizei?“, erkundigte er sich dann und als Horatio bestätigend nickte, fügte er hinzu, „Ich bin gleich für Sie da.“

„Geht das nicht schneller?“, fragte Gibbs unfreundlich. „Können die Leute nicht selber aussteigen?“

„Nein, können Sie nicht“, antwortete Joe, während er dem nächsten seiner Kunden mit einer Hand aus dem Boot half und mit der anderen routiniert das ihm bei dieser Aktion zugesteckte Trinkgeld in seine Tasche wandern ließ. „Wenn dabei etwas passiert bin ich schuld“, setzte er dann hinzu und fuhr ruhig mit seiner Arbeit fort.

Gibbs sah so aus, als wollte er dazwischen funken, doch ein warnender Blick von Caine hielt ihn im letzten Augenblick zurück. Also wartete er grimmig darauf, dass Joe endlich auch den letzten seiner Ausflügler aus dem Boot befördert hatte. Dann erst wandte sich der Indianer wieder den beiden Polizisten zu.

„Was kann ich für Sie tun?“, erkundigte er sich mit ruhiger Stimme. „Meine Kollegen meinten, es sei eilig – ich habe wegen Ihnen den Ausflug früher abbrechen müssen und kann von Glück reden, dass die Leute Verständnis dafür hatten. Wissen Sie, dass unser Verdienst hier unter anderem maßgeblich davon abhängt, dass wir die Kunden zufrieden stellen? Nur dann geben die Leute nämlich auch Trinkgeld.“

Der Mann aus DC glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können und bevor Caine etwas sagen konnte, zischte er wütend in Richtung des Indianers. „Nun, von uns werden Sie kein Trinkgeld erwarten können.“

Joe warf ihm aus zusammengekniffenen schwarzen Augen einen beleidigten Blick zu und wiederholte seine Frage an Caine gerichtet. „Was liegt an?“

Caine zückte die Fotos von Rebekka und Caulder und reichte sie an den Bootsführer weiter. „Sind Sie den beiden schon einmal begegnet?“, fragte er.

Joe warf einen kurzen Blick auf die Bilder und nickte dann. „Ja, klar. Die Frau sieht zwar etwas anders aus, aber das sind eindeutig die beiden Naturforscher, die sich vor einiger Zeit von mir haben durch die Glades fahren lassen.“

„Pfffhhh, Naturforscher…“, schnaubte Gibbs leise, was ihm wieder einen beleidigten Seitenblick des Indianers einbrachte.

„Ja, Naturforscher“, wiederholte er. „Es gab für mich keinen Grund an ihren Angaben zu zweifeln. Sie waren auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen. Angeblich hatten sie den Auftrag, Tieraufnahmen für einen Bildband zu machen.“

„Und?“, mischte sich Caine ein, bevor Gibbs den Mann noch weiter verärgern konnte. „Haben Sie einen geeigneten Platz gefunden?“ Nicht nur er erwartete gespannt die Antwort.

„Ja, nachdem ich stundenlang mit ihnen unterwegs war schien ihnen ein Platz für ihre Zwecke geeignet zu sein. Sie wollten sich daraufhin um die entsprechenden Genehmigungen kümmern und sich danach wieder bei mir melden. – Darauf warte ich allerdings heute noch“, setzte er nach einer Pause knurrig hinzu. „Wahrscheinlich hat ihnen ein Kollege einen besseren Preis gemacht.“

Caine, der sehr gut wusste, wie hart die Konkurrenz unter den Airboatführern war und dass diese tatsächlich oftmals auf das Trinkgeld der Kunden mehr als angewiesen waren, da die meisten auf eigene Rechnung arbeiteten, ging darauf nicht näher ein, sondern antwortete: „Glauben Sie, dass Sie diesen Platz wiederfinden und uns zeigen könnten?“

„Ja, klar. Aber nicht mehr heute.“ Joe wies in den Himmel. „Es wird jetzt sehr schnell dunkel werden – da fahre ich nicht mehr so weit raus. Das ist viel zu gefährlich.“

Caine erkannte, dass Gibbs schon wieder wütend auffahren wollte und kam ihm zuvor: „Gut, das sehe ich ein. Treffen wir uns morgen früh um 8.00 h hier am Steg? Wir werden Ihnen die Fahrt natürlich bezahlen.“

„In Ordnung.“ Joe wandte sich zufrieden über die Tatsache, dass er für den nächsten Tag schon wieder für eine Fahrt fix gebucht war, zum Gehen. „Morgen früh um 8.00 h – ich werde da sein.“ Damit verschwand er in Richtung Hütte.

Gibbs blickte dem Mann sprachlos hinterher. Das war definitiv anders gelaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Jetzt hatten sie endlich wieder eine Spur und sollten sie heute nicht mehr weiter verfolgen können? Er konnte es nicht fassen und warf Horatio Caine einen entrüsteten Blick zu.

„Sagen Sie nichts“, bat der. „Der Mann hat Recht – es ist wirklich zu gefährlich – und in der Dunkelheit können wir sowieso nichts ausrichten. Fahren wir zurück. Vielleicht haben ja Delko und David im Heli von oben ja mehr Erfolg.“

79. Kapitel

16.50 h – In den Everglades – Neue Grausamkeiten

Tony trank hastig und in großen Schlucken – wer wusste schon, ob ihm das Miststück die Flasche nicht schon im nächsten Augenblick wieder entreißen würde…

Doch schon nach wenigen Sekunden stockte er abrupt, als er realisierte, dass da etwas absolut nicht stimmte. Er hustete, prustete und spuckte verzweifelt die ätzende Flüssigkeit in seinem Mund wieder aus. Keuchend schnappte er nach Luft, während seine Speiseröhre brannte wie Feuer. Blut lief von seinen verschorften Lippen, das sich mit weißen Schlieren vermischte, die die Flüssigkeit auf seiner Haut hinterlassen hatte. Hilflos krümmte er sich zusammen und starrte seine Peinigerin mit weit aufgerissenen Augen an, während sich sein Gesicht langsam bläulich verfärbte. Die Essigessenz, die sich in der Flasche befunden hatte, hatte seine ganze Speiseröhre verätzt, die sich unter grässlichen Schmerzen nun krampfartig zusammenzog und Tony kaum mehr atmen ließ.

„Tony?“, rief Anna bestürzt aus, die das Schauspiel aus dem Hintergrund angstvoll mitverfolgt hatte. „Was ist los mit dir?“

Immer noch würgend und keuchend versuchte der Agent, etwas zu sagen, doch kein Ton kam ihm über die Lippen. Längst hatte er die Flasche fallen lassen und griff sich hektisch mit seiner freien Hand an den Hals und versuchte pfeifend, Luft zu holen.

Rebekka, die ihn bislang mit einem schon beinahe irren Lachen auf den Lippen beobachtet hatte, richtete sich plötzlich auf, als sie bemerkte, dass Tony in akuter Gefahr schwebte, zu ersticken. Die Essigessenz war wohl doch aggressiver als sie gedacht hatte. „Caulder! Eine Flasche Wasser, schnell!“ herrschte sie ihren Kumpan an, als sie realisierte, dass ihr übler Spaß drohte, in tödlichen Ernst umzuschlagen. Sicher, Tony sollte sterben, aber keinesfalls schon jetzt. Sie war noch lange nicht mit ihm fertig.

Der Ex-NCIS-Agent beeilte sich, der Israelin eine Flasche zu reichen. Sofort öffnete sie diese und beugte sich über Tony, dessen Augen bereits flimmerten und der im Begriff war, bewusstlos zu werden. Unverzüglich kippte sie ihm die Flüssigkeit in den Mund und hieb ihm auf die Brust. „Du stirbst mir hier nicht weg, verstanden“, schrie sie ihn an. Unterdessen verschluckte sich Tony an dem Wasser, das ihm so plötzlich in den Hals geschüttet wurde. Er hustete wie wild und bäumte sich auf, mit letzter Anstrengung nach Luft schnappend. Doch langsam zeigte das Wasser seine Wirkung, die Verkrampfung in seiner Luftröhre ließ nach. Noch einmal goss Rebekka ihm Wasser in den Mund und diesmal konnte er es sogar ohne größere Probleme schlucken. Das fürchterliche Brennen in seinem Hals ließ dadurch ein wenig nach und endlich konnte er den ersehnten Sauerstoff wieder in seine Lungen saugen. Völlig erledigt sackte er schließlich in sich zusammen und lehnte mit geschlossenen Augen an dem Baumstamm. Doch plötzlich wisperte er heiser und kaum hörbar: „Selbst wenn ich meinen Job verlieren sollte – ich werde dich töten. Verlass dich drauf! Du bist es nicht wert, leben zu dürfen.“

„Ach, Tony!“ Rebekka kommentierte seine Drohung mit einem erneuten spöttischen Lachen. „Was soll ich dazu sagen…glaubst du wirklich, du bist in der Position, mir zu drohen? Du solltest es doch wahrlich besser wissen!“ Dann hielt Sie ihrem erklärten Feind völlig unvermittelt die Flasche hin.

„Nun nimm´ schon“, sagte sie dabei und beobachtete Tony, dem es offensichtlich schwerfiel, ihren Worten erneut Glauben zu schenken. „Dieses Mal ist es kein Fake, das verspreche ich dir! In der Sonne braten und verdursten ist mit Sicherheit kein schöner Tod, aber leider geht mir das viel zu schnell für dich – ich hab´ mir doch nicht die ganze Mühe gemacht, um dich dann schon nach so kurzer Zeit sterben zu lassen!“

Da war was dran! Mit zitternder Hand griff Tony erneut nach der Flasche und führte sie an den Mund. Am liebsten hätte er zuvor daran gerochen, nur um sicher zu gehen, doch diese Genugtuung wollte er Rebekka, die ihn keinen Augenblick aus den Augen ließ, nicht gönnen.

Noch nie war Tony ein einfaches Getränk wie Wasser so köstlich erschienen. In langen hingebungsvollen Zügen benetzte er seine durch die Essigessenz malträtierte Speiseröhre mit dem kostbaren Nass, bevor er die Flasche schließlich absetzte und mit bedauerndem Blick den kläglichen Rest, der noch übrig war, betrachtete. Er fühlte, wie seine Lebensgeister wenigstens etwas zurückkehrten und überlegte, ob er sich vielleicht die wenigen Schlucke für später aufheben sollte. Allerdings war er sich nicht sicher, ob ihn Rebekka später noch einmal würde trinken lassen, also leerte er die Flasche nach kurzem Zögern endgültig, obwohl im jeder Schluck Schmerzen bereitete. Besser, er versuchte so gut es ging, wieder zu Kräften zu kommen. Matt ließ er sich daraufhin auf den unebenen Boden zurücksinken und erwiderte offen Rebekka´s Blick, der irgendwie beunruhigend prüfend auf ihm ruhte. Okay, sie hatte ihm eine Erklärung gegeben, warum sie ihm die paar Schlucke Wasser gegönnt hatte, aber das war noch nicht das Ende der Fahnenstange, dessen war er sich sicher. Irgendwas plante dieses eiskalte Miststück doch schon wieder und er konnte nur hoffen, dass sie ihm genug Zeit gab, noch ein wenig neue Kraftreserven zu sammeln, was er allerdings stark bezweifelte.

„Hmm, die Sonne wird deinen Narben bestimmt nicht gut tun“ stellte sie prompt im Plauderton fest. „Aber das braucht dich ja nicht mehr zu kümmern. Ich finde so etwas übrigens durchaus reizvoll – Narben meine ich. He, du kennst doch bestimmt diesen Film mit Mel Gibson, wo sie sich gegenseitig ihre Narben zeigen, oder? Du bist doch so ein Filmfreak. Komm schon, rede mit mir! Mich hat das echt angemacht! Dich etwa nicht?“

Tony schnaubte: „Mit dir werde ich mich garantiert nicht über Filme unterhalten!“

Rebekka verzog ärgerlich ihr hübsches Gesicht: „Du bist ganz schön unhöflich, weißt du das?“ Als Tony keine Antwort gab, fuhr sie mit der ungenierten Betrachtung seines entblößten, mittlerweile mit Blasen übersäten, Oberkörpers fort: „Dünner bist du auch geworden, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben. Steht dir gut. Ich habe es dir ja schon einmal gesagt – es ist echt schade, dass wir Feinde sind…Ich würde wirklich zu gerne einmal mit dir…“ Sie ließ das Ende des Satzes offen und stattdessen Ihren Blick so intensiv und begehrlich über Tony´s Körper streifen, dass Caulder einmal mehr eifersüchtig die Lippen zusammenpresste.

Bereits seit einer Weile kam er sich vor wie ein Handlanger. Sobald Tony in der Nähe war, beschäftigte Rebekka sich ausschließlich mit seinem Ex-Kollegen und er war abgemeldet, was ihm zunehmend gegen den Strich ging. Sicher, es freute ihn ungemein, den vermeintlichen Helden Anthony DiNozzo in dieser Lage zu erleben und ihn leiden zu sehen, aber seiner Meinung nach übertrieb Rebekka es extrem, was ihren Umgang mit diesem verdammten Halbitaliener anging. Es war unmissverständlich, was sie eben gemeint hatte und obwohl er wusste, dass Tony freiwillig niemals etwas mit Rebekka haben würde, störte es ihn trotzdem, dass seiner Geliebten so offensichtlich gefiel, was sie sah.

Selbst jetzt noch, wo DiNozzo´s Körper schon mehr als deutliche Spuren ihrer „Behandlung“ davongetragen hatte, konnte sie ihre Blicke offensichtlich nicht von ihm lösen. Im Gegenteil, seine Wunden schienen sie noch zusätzlich scharf zu machen. Soweit er gehört hatte, waren durchaus schon Männer von Frauen vergewaltigt worden, obwohl Caulder sich kaum vorstellen konnte, dass das funktionierte. Das überstieg einfach seinen Horizont. Doch als Rebekka sich jetzt hinkniete und beinahe zärtlich mit leicht kreisenden Bewegungen über Tony´s Brandblasen strich und dabei ihre Hand langsam von oben nach unten wandern ließ, bis sie schließlich urplötzlich ihre Taktik änderte und hart mit ihren schlanken Fingern sein Geschlechtsteil packte und knetete, verstärkte sich Caulder´s Befürchtung und er verzog angeekelt sein Gesicht. Unwillkürlich fragte er sich, wie weit die Israelin wohl gehen würde? Würde sie es wirklich bis zum Äußersten vorantreiben? Vor den Augen ihres Geliebten? Seinem verfluchten Ex-Kollegen hatte ihre abrupte Aktion auf jeden Fall ein überraschtes Stöhnen entlockt, wobei nicht ganz klar schien, ob dies aus Schmerz oder Erregung geschah. Doch ein Blick in Tony´s Gesicht wischte alle diesbezüglichen Zweifel Caulder´s beiseite. Mit entsetzt aufgerissenen Augen hatte dieser nach ihrer Hand gegriffen, um sie wegzureißen, doch Rebekka ließ sich nicht beirren. Scheinbar mühelos drückte sie Tony´s Arm nach unten und fuhr fort, ihn an seinen intimsten Stellen zu berühren. Ein keuchender Laut des Ekels kam über seine Lippen, den die Israelin jedoch völlig falsch deutete.

„Naaaa“, säuselte Rebekka daraufhin und beugte sich nach vorne. Dicht neben Tony´s Ohr hielt sie inne. „Ich wusste doch, dass dir das gefällt. Glaub mir, was Sex angeht, habe ich Ziva einiges voraus!“, raunte sie lasziv in seine Ohrmuschel. „Wollen wir es nicht doch mal miteinander probieren? Was meinst du?“ Die Israelin änderte ihre Position, setzte sich rittlings auf Tony und küsste ihn auf die von der Hitze und dem erlittenen Durst längst aufgesprungenen, porösen Lippen.

Anna, die völlig entsetzt den makabren Schauspiel zugesehen hatte, brachte plötzlich den Mut auf, ihre Verachtung rauszuschreien. „Lass ihn in Ruhe, du Scheusal“, schleuderte sie der Israelin entgegen. Doch dafür erntete sie umgehend eine schallende Ohrfeige von Caulder, die ihren Kopf zur Seite rucken ließ! Er hatte seine ganze Wut über Rebekkas Anzüglichkeit in diesen heftigen Schlag gelegt, denn das Gebaren seiner Komplizin bezüglich Tony ärgerte ihn schon lange. Aufschluchzend machte Anna sich klein und rückte so weit wie möglich von Caulder weg!

Tony wurde es schlecht und er nahm alle Kraft zusammen, um sein Gesicht zur Seite zu drehen, was gar nicht so einfach war, da Rebekka ihre Hände oben in seine Haare gekrallt hatte. Wiederum fing er an zu würgen und als Rebekka seine Lippen endlich wieder freigab und sich halb aufrichtete, handelte er einfach nur instinktiv und spuckte Rebekka seinen Ekel mitten ins Gesicht, was ihr jedoch nur erneut ein spöttisches Lachen entlockte, während sie Tony´s Speichel mit einer nachlässigen, beinahe lasziven, Handbewegung abwischte.

Caulder hatte genug gesehen. Dieses perverse Schauspiel würde er sich keine Minute länger antun! Abrupt erhob er sich. „Was ist bloß los mit dir?“, herrschte er seine Partnerin an. „Hast du immer noch nicht genug mit ihm gespielt? Komm´ endlich zum Ende! Ich will in unser klimatisiertes Hotelzimmer.“ Wütend ging er auf seinen Rivalen – denn es kristallisierte sich mehr und mehr heraus, dass Tony genau dies für ihn war – zu und versetzte ihm einen harten Tritt in die Seite, woraufhin der sich stöhnend zusammenkrümmte. Rebekka, die offensichtlich von der plötzlichen Attacke überrascht war, fiel seitlich von Tony herunter. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht kam sie wieder auf die Füße und baute sich vor Caulder auf, der – obwohl er mindestens einen Kopf größer und viel kräftiger als seine Geliebte war – ein unliebsames Schaudern nicht unterdrücken konnte.

„Was zum Teufel erlaubst du dir?“, schrie sie und hämmerte ihrem Partner mit der Faust auf die Brust. „Noch habe ich hier das Sagen! Ist das klar?“

Caulder kniff die Augen zusammen und war offenbar krampfhaft darum bemüht, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, wie Tony aus den Augenwinkeln vom Boden aus registrierte. Trotzdem er seinen Ex-Kollegen aus vollem Herzen wegen allem, was er ihm angetan hatte, hasste, war er ihm für sein Dazwischenfunken tatsächlich äußerst dankbar gewesen. Sam scheute sich anscheinend nicht nur, selber zum Vergewaltiger zu werden – er wollte auch nicht Zeuge einer sein. Sehr gut für Tony, aber eher schlecht für Caulder, dachte Tony, als er einen Blick auf Rebekka´s Gesicht warf.

Jetzt raunte der Ex-Agent gespielt cool: „Halt den Ball flach und komm mal langsam wieder runter! Es wird bald dunkel – und ich hab´ keine Lust im Finstern mit diesem Scheiß-Airboat durch die Glades zu kurven. Wir müssen es schließlich auch noch zu unserem Versteck bringen und tarnen. Du weißt, dass das wieder einen riesigen Umweg bedeutet, wenn wir sicher gehen wollen, dass niemand das Ding findet. Uns läuft die Zeit weg - morgen ist auch noch…“

„Halt!“ Rebekka brachte ihn mit einer harschen Handbewegung zum Schweigen und schaute nach oben in den sich langsam verdunkelnden Himmel. „Was ist das? Hörst du das?“

Caulder folgte ihren Blicken und lauschte. Dann wurde er plötzlich hektisch. „Los, schnell! Das ist ein Hubschrauber! Scheiße! Wir müssen die beiden in Deckung schaffen – der Typ liegt hier auf der Lichtung wie auf einem Präsentierteller. Na los, mach´ schon.“

Noch während er sprach, war das Motorengeräusch aus der Luft näher gekommen und lauter geworden. ´Das ist Hilfe` schoss es Tony durch den Kopf, doch bevor er Anna dazu auffordern konnte, mit Winken und Schreien auf sie beide aufmerksam zu machen, wurde ihnen zeitgleich von ihren Entführern schmutzige Lappen als Knebelersatz in der Mund gestopft, die jeden Laut im Keim erstickten. Im Gegenteil, in Tony stieg direkt wieder die Galle hoch, als Rebekka ihm sein eigenes blut- und schweißgetränktes, zerfetztes Hemd rücksichtslos in den Rachen schob.

„Wir müssen sie unter die Mangroven schaffen. SCHNELL! Na los, du Loser, mach schon!“ Die Israelin war bereits damit beschäftigt, die sich heftig wehrende Anna weiter unter den Sichtschutz der tief hängenden Mangrovenbäume zu zerren.

Caulder packte unterdessen Tony unter den Achseln und schleppte ihn so schnell er konnte durch den Dreck bis hinüber zu den Mangroven. „Wie nahe ist er?“ keuchte er unter Anstrengung, „hoffentlich sehen sie das Airboat nicht.“ Angespannt starrten sie durch die dichtbelaubten Bäume abwechselnd in die Richtung der Rotorengeräusche und des Airboates, das unter tief hängenden Zweigen getarnt am Ufer lag. Doch wieder war das Glück auf Seiten der Verbrecher. In nur 50 m Entfernung flog der Helikopter an der kleinen Insel vorbei und entfernte sich rasch. Doch alle Anwesenden den großen Schriftzug auf der seitlichen Tür des Helis erkannt: Miami PD!

 

80. Kapitel

17.15 h – In der Luft – Über Gefühle und Instinkt

Der Pilot des Helikopters warf einen kritischen Blick nach draußen bevor er verkündete: „Machen wir Schluss für heute. Ich werde Sie jetzt zurück zur Basis bringen.“

„NEIN!“ Ziva´s Weigerung kam fast einem Aufschrei gleich. Im nächsten Augenblick realisierte sie, dass sie wohl ein bisschen zu heftig geworden war und ruderte zurück. „Kommen Sie…bitte. Nur noch ein bisschen. Es ist doch noch nicht mal Abend. Eine halbe Stunde, okay?“ Dabei ließ sie keinen Augenblick ihre Augen vom Fenster. Bereits seit sie in den Helikopter eingestiegen und mit ihm in die Luft gegangen war, hypnotisierte sie die äußere Umgebung geradezu.

Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte einfach nichts Verdächtiges ausmachen. Mangroven, Wasser und Schilf – großer Gott – so viel Schilf. Wie sollten Sie in diesem riesigen Areal etwas finden. Ihre Augen begannen zu brennen und sie wusste einmal mehr nicht, ob aus Anstrengung oder wegen verdrängter Tränen. Wie viele Punkte hatte der Pilot jetzt schon im Niedrigflug überflogen…immer mit dem gleichen niederschmetternden Ergebnis: Nichts!

Es war zum Verrücktwerden – langsam glaubte sie schon, dass sie hier nur weitere wertvolle Zeit vergeudeten. Es schien immer wahrscheinlicher, dass Rebekka und Caulder einen völlig anderen Weg eingeschlagen und ihre Opfer irgendwo in dieser riesigen Stadt an Land versteckt hielten. Möglichkeiten dazu gab es sicher unzählige – da machte sich die Israelin nichts vor. Trotzdem … irgendetwas zwang sie geradezu dazu, die Suche in diesem Gebiet noch nicht aufzugeben.

„Bitte, wenigstens noch eine Viertelstunde“, bat sie erneut. Betteln lag ihr weiß Gott nicht, aber was sollte sie den Männern im Heli schon als Begründung nennen, warum sie gerade jetzt so vehement noch weitersuchen wollte? Dass sie … so ein Gefühl hatte? Das kam sogar ihr lächerlich vor. Sicher, sie hatte in den Jahren in DC und in Gibbs´ Team gelernt, auch auf ihre Gefühle zu hören, doch ihr war auch klar, dass die beiden Männer im Heli ihre Gefühle in diesem Fall lediglich darauf schieben würden, dass es sich bei einem der Entführten um ihren Verlobten handelte. Sie konnte es ihnen ja noch nicht einmal verdenken – sie würde vermutlich ähnlich denken, wenn sie jemand Fremdes mit so etwas konfrontieren würde.

„Nein, der Pilot hat recht, Agent David“, mischte sich Det. Delko jetzt ein. „Es wird um diese Jahreszeit sehr schnell dunkel in dieser Gegend – wir sollten dafür sorgen, dass wir rechtzeitig zurück zur Basis kommen. Es ist noch ein weiter Weg bis dahin.“

„Ja, und außerdem geht mir langsam der Sprit aus“, meinte daraufhin wieder der Pilot. „Schließlich wollten Sie so schnell wie möglich los – normalerweise hätte ich die Maschine vorher noch aufgetankt, aber Sie haben ja darauf bestanden, dass…“

Der Mann registrierte im Rückspiegel Delko´s leichtes Kopfschütteln und ließ das Ende des Satzes offen, doch Ziva verstand den Vorwurf auch so. Sie seufzte tief und rückte ihre Kopfhörer zurecht, bevor sie niedergeschlagen zustimmend nickte. Gibbs hatte gesagt, sie sollte auf die Männer vom Miami PD hören und sich ihnen nicht widersetzen, also würde sie genau dies auch tun. Schließlich wollte sie nicht riskieren, womöglich doch noch von der allgemeinen Suchaktion ausgeschlossen zu werden. „Okay, fliegen wir zurück! Solange wir gleich morgen früh wieder los können…“

„Klar, wenn Lt. Caine einen erneuten Einsatz autorisiert“, antwortete ihr der Pilot.

Das war schon merkwürdig, schoss es Ziva durch den Kopf. In diesem kleinen wendigen Helikopter saß der Pilot gerade mal eine gute Armlänge von ihr entfernt. Sie konnte deutlich sehen, wie sich seine Lippen bewegten, doch hören tat sie seine Stimme lediglich über den Kopfhörer. Natürlich war sie früher schon geflogen – auch in Hubschraubern. Großen Militärhubschraubern allerdings. Da war es völlig normal, sich mit den Kollegen über Kopfhörer zu verständigen, doch sie hatte eigentlich nicht erwartet, dass auch so ein kleines Teil wie dieser Heli einen derartigen Höllenlärm veranstaltete, dass dieses Procedere nötig war. Wie auch immer, es war ihr lästig.

„Ich bin sicher, dass die Autorisierung eines weiteren Einsatzes kein Problem darstellt“, sagte Det. Delko in diesem Moment und Ziva nickte zustimmend.

„Natürlich wird Lt. Caine seine Zustimmung geben“, sagte sie überzeugt. „Sehen Sie bloß zu, dass die Taube dann vollgetankt bereitsteht.“

Der Kopf des Piloten ruckte kurz zur Seite und gab den Blick frei auf seinen überraschten Gesichtsausdruck. Eric Delko nahm all das mit einem leichten Schmunzeln zur Kenntnis und wunderte sich nicht weiter. Das einzige, was ihn wunderte war, wie schnell er sich doch schon an die merkwürdigen Kollegen aus DC gewöhnt hatte. Bei aller Sorge um die Entführten…er freute sich jetzt schon auf die nächste Videokonferenz mit Abigail Sciuto und er wusste, dass dies allen Kollegen, die der Besprechung am Mittag beigewohnt hatten, ähnlich ging. Aber der Pilot, der sie jetzt zielsicher zurück zur Basis flog, konnte von all dem natürlich nichts wissen, was seine Überraschung durchaus erklärte.

Unterdessen starrte Ziva aus dem Seitenfenster des Helikopters auf die endlose Weite der Everglades – nicht ahnend, wie nahe sie Tony vor wenigen Augenblicken gewesen war …


17.35 h – Bei den Entführten – Die Hoffnung stirbt zuletzt

Verborgen durch den Mangroven-Blätterwald lag Tony gefesselt und geknebelt im Schmutz und musste verzweifelt registrieren, wie sich der Hubschrauber schnell entfernte. Eben war ihm noch das Adrenalin durch die Adern geschossen und er hatte innerlich gejubelt, als er gesehen hatte, dass der kleine Helikopter vom Miami PD war. Dass ausgerechnet jetzt hier ein Polizeiheli auftauchte, konnte kein Zufall sein. Oder, um es mit Gibbs´ Worten zu sagen: Derartige Zufälle gab es nicht! Wer auch immer das in die Wege geleitet hatte: Sie waren auf der Suche nach ihnen. Doch nun traf ihn nun die Ernüchterung umso härter.

Caulder hatte ihn ohne Rücksicht auf seine Wunden über den Boden geschleift, wodurch zahlreiche Brandblasen auf seinem Körper aufgerissen worden waren. Jetzt lag er zusammen mit seinen Peinigern im seichten, salzigen Brackwasser und die Schmerzen kehrten mit voller Wucht zurück. Das Salz brannte in den offenen, blutenden Stellen wie Feuer und Tony begann sich zu krümmen und zu winden. Caulder versetzte ihm einen Hieb in die Seite und herrschte ihn an, er solle gefälligst ruhig bleiben. Doch der grünäugige Agent wehrte sich weiter, er stöhnte und biss in den dreckigen Knebel und war kaum zu bändigen.

Anna starrte weinend mit aufgerissenen Augen auf Tony, wagte es aber nicht, sich zu rühren, aus Angst, dass sie wieder geschlagen wurde.

„Verdammt! Gib endlich Ruhe!“ schrie ihn Caulder erneut an und schlug ihm wütend und so heftig in den Magen, dass Tony sich aufstöhnend in der Embryohaltung zusammenkrümmte.

Inzwischen war Rebekka aufgestanden und hatte die völlig verstörte Anna auf die Beine gerissen. „Zum Teufel, bring ihn zurück zur Hütte, oder wirst du nicht mal mehr mit einem gefesselten, halbtoten Mann fertig?“ brüllte sie den Ex-NCIS-Agenten an. UND DU“, herrschte sie Anna an, die trotz Knebel immer noch schluchzte. „Hör endlich auf zu flennen, sonst schwöre ich dir, dass es das Letzte ist, was du tust! Klar?“

„Du siehst doch, dass der hier vollkommen durchdreht“, fauchte Caulder stinksauer zurück. Mittlerweile hatte er die Schnauze gestrichen voll. „Knall ihn endlich ab, damit wir von hier verschwinden können. Ansonsten tu ich es.“

Nur eine Sekunde lang hielt Rebekka in der Bewegung inne, dann raunte sie fast tonlos: „Das wirst du nicht tun!“ Sie ballte kurz eine Hand zur Faust und unter Aufbietung all ihrer Selbstbeherrschung konnte sie den schier übermächtigen Wunsch, Caulder auf der Stelle abzustechen, nieder ringen. Sie schaffte es sogar, ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern, als sie sich zu ihm umdrehte, eine Hand an seine Wange legte und flüsterte: „Sam, Schatz, so lass mir doch meinen Spaß. Ich schwöre, es dauert nicht mehr lange und dann...“ Sie hauchte ihrem Kumpan noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, der sie allerdings mächtige Überwindung kostete, und wandte sich dann wieder Anna zu. Ihren versteinerten Gesichtsausdruck ließ sie den Ex-Agent besser nicht sehen.

Caulder starrte der Israelin noch kurz hinterher, wie sie die junge blonde Frau rigoros in die Hütte bugsierte, doch der sich immer noch sträubende Tony riss ihn abrupt aus seinen Gedanken. Mittlerweile war es diesem endlich gelungen, den Knebel auszuspucken und unter Aufbietung seiner letzten Kräfte krächzte er seinen ehemaligen Kollegen mit brüchiger Stimme an: „Oh ja Sam – es wird nicht mehr lange dauern, da bin ich mir sicher. Sie hat dich jetzt schon über…“

„Zum Teufel, was muss eigentlich noch passieren, damit du endlich das Maul hältst“, knurrte Caulder, dann packte er Tony unter den Armen und zerrte ihn wie einen nassen Sack hinter sich her zu der Hütte.

DiNozzo war mittlerweile ziemlich ruhig geworden, Die Schmerzen waren so übermächtig geworden, dass sie ihm die Sinne raubten und er halb bewusstlos vor sich hin dämmerte.

Vor dem Stamm in der Mitte der Hütte, an den Tony den letzten Tag gefesselt gewesen war, ließ ihn Caulder einfach auf den Boden fallen und fragte die Israelin, die, nachdem Sie Anna wieder angekettet hatte, neben ihn getreten war: „Und – was soll ich jetzt mit ihm machen? Das Weichei kann noch nicht mal mehr alleine stehen.“ Sein Tonfall ließ keinen Zweifel an der tiefen Verachtung, die er für ihren Gefangenen verspürte.

„Dann lass ihn liegen und fessle ihn mit den Handschellen unten um den Stamm“, folgte umgehend die knappe Anweisung Rebekkas. Anschließend verließ sie für Caulder ziemlich überraschend die Hütte.

„Was ist denn jetzt schon wieder“ murmelte er verwirrt, während er brutal an Tony´s Armen riss und ihn fesselte. „Gott, diese Frau ist wirklich ...“


Draußen lief Rebekka inzwischen zielstrebig zu der Stelle, an der sie vor dem Hubschrauber Schutz gesucht und im seichten Wasser gelegen hatten. Dort angekommen setzte sie vorsichtig einen Schritt vor den anderen und ließ das Dickicht zu ihren Füßen nicht aus den Augen Sie hatte einen ganz bestimmten Grund dafür, denn sie hatte da vorhin nämlich etwas gesehen, das gerade gut in ihre Pläne passte. Doch wenn sie das bekommen wollte, musste sie vorsichtig vorgehen…

 

81. Kapitel

17.55 Uhr – Lagebesprechung

McGee beobachtete, wie der Helikopter auf dem Flugfeld landete und setzte sich unverzüglich in Bewegung. Der Pilot hatte vor etwa 20 Minuten gemeldet, dass sie zur Basis zurückkehren würden. Weiter hatte er nichts gesagt, was Tim zu dem Schluss hatte kommen lassen, dass der Einsatz wohl nicht von Erfolg gekrönt gewesen war. Ansonsten hätte der Mann das mit Sicherheit mitgeteilt.

Außer Reichweite der sich immer noch schnell rotierenden Flügel blieb er stehen und sah, wie sich die Tür des Hubschraubers öffnete und Lt. Delko und danach Ziva aus der Maschine stiegen, noch kurz mit dem Piloten sprachen, bevor sie in gebückter Haltung zu ihm herüber gelaufen kamen.

Schon von weitem erkannte er den fast schon resigniert wirkenden Gesichtsausdruck von Ziva. Wieder hatte sich eine Hoffnung zerschlagen. Sie hatte irgendwie fest damit gerechnet, dass sie etwas finden würden, einen Hinweis, eine Spur, ein Lebenszeichen von Tony, irgendetwas. Obwohl das bei der Weite der Everglades doch eher unwahrscheinlich war, hatte Ziva ihre ganze verzweifelte Hoffnung in diesen Flug gesetzt, umso härter hatte sie nun der Misserfolg dieser Suchaktion getroffen.

Kurz bevor die beiden McGee erreicht hatten, machte Ziva ihm jedoch trotzdem durch ein enttäuschtes Kopfschütteln deutlich, dass es nichts zu vermelden gab. „Aber wir fliegen morgen noch mal los“, sagte sie dann so energisch, als hätte Caine den neuerlichen Einsatz des Helikopters bereits genehmigt. „Ich hätte ja nicht so schnell aufgegeben, aber der Pilot…“

„Agent David“, mischte sich Delko sanft ein. „Es ging nicht mehr – wir mussten zurück. Zum einen wegen des Tanks und zum anderen werden Sie gleich selber erleben, wie schnell hier die Dunkelheit einfällt. Sehen Sie sich nur um, spätestens in einer halben Stunde ist es hier stockfinster und dann wird das Ganze zusätzlich zu einer sehr gefährlichen Aktion.“

„Ja, ja, ich weiß ja“, schnappte Ziva in Delkos Richtung, bevor sie sich an ihren Kollegen wandte. „Was ist mit dem Motelzimmer? War es das Richtige?“ Durch den Funkverkehr hatten sie im Heli diese Neuigkeit mitbekommen und nun brannte sie darauf, mehr zu erfahren.

„Es sieht danach aus“, antwortete Tim, während er Ziva und Delko zum Wagen führte. „Nachdem wir endlich diesen Durchsuchungsbeschluss hatten, sind wir gleich wieder hin. Angetroffen haben wir natürlich niemanden, aber wir konnte jede Menge Spuren sicherstellen, die bereits im Kriminallabor untersucht werden. Der Besitzer der Spelunke meinte, er habe seine beiden Mieter am frühen Morgen zuletzt gesehen, als sie das Motel verlassen haben. Er hat keine Ahnung, wo sie hinwollten – laut seiner Aussage waren die beiden sowieso nicht sonderlich gesprächig – außer Nachts…da ging es in dem Zimmer wohl immer heiß her.“

„Ach, und das hat er bis zu seiner Rezeption gehört? Oder liegt das Zimmer direkt daneben?“, fragte Delko mit vielsagendem Gesichtsausdruck.

„Nein, es liegt ein wenig abseits“, gab Tim Auskunft. „Wie auch immer – dieser schmierige Typ ist wahrscheinlich auch noch ein Spanner. Kann uns letztlich egal sein.“ Er gab die Autoschlüssel an Delko weiter. „Wollen Sie fahren? Sie kennen sich hier besser aus.“

„Natürlich“, antwortete der Latino, nahm die Schlüssel entgegen und setzte sich hinters Steuer, während Tim und Ziva auf dem Rücksitz Platz nahmen. „Hat Horatio etwas gesagt, wie es jetzt weiter geht?“, erkundigte er sich, startete den Wagen und lenkte ihn zügig auf die Straße.

„Wir treffen uns gleich alle noch zu einer kurzen Abschlussbesprechung in der Basis. Alle Fakten noch mal auf den Tisch legen und sondieren – dafür will er morgen früh nicht unnötig Zeit investieren. Danach soll für heute Schluss sein.“

Ziva nickte grimmig, während sie schweigend aus dem Fenster starrte, ohne wirklich etwas von der Gegend, durch die sie fuhren, wahrzunehmen. Diese Anordnung war ganz in ihrem Sinne. Von ihr aus könnten sie sich gleich noch stundenlang besprechen…so lange sie sich nur am nächsten Morgen umgehend wieder auf die Suche nach ihrem Verlobten und dieser Anna machen konnten.

Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, was Tim ein wenig wunderte und er beglückwünschte sich zu der Entscheidung, Delko das Steuer überlassen zu haben. Für einen kurzen Augenblick lang musste er an Ducky und Jimmy denken und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Schnell drehte er seinen Kopf zur Seite, damit Ziva dies nicht sah. Allein die Körpersprache seiner Kollegin verriet ihm, wie angespannt die ehemalige Mossad-Agentin war und jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass man sie dann besser nicht noch zusätzlich reizte.

Als die drei das Kriminallabor betraten, wirkte es auf den ersten Blick fast verlassen, doch ein Mitarbeiter, der an den Ermittlungen nicht beteiligt war, rief ihnen zu, dass die anderen schon alle im Besprechungsraum auf sie warteten und so machten sie sich gleich auf den Weg dorthin. Horatio stand am Kopfende des Tisches, während Gibbs neben ihm auf einem Stuhl saß. McGee versuchte den Gesichtsausdruck seines Chefs zu deuten, was ihm nicht ganz gelang. Er lag irgendwo zwischen „angefressen“ und „stinkwütend“, was ihn aber nicht weiter beunruhigte. Er kannte Gibbs inzwischen lange genug, um zu wissen, wie sehr ihm die Suche nach einem seiner Leute in einer fremden Großstadt unter einem anderen Kommando auf die Nerven ging. Dafür hielt er sich eigentlich noch recht beachtlich, fand Tim.

Caine nickte ihnen auffordernd zu und so suchten sich die drei Nachkömmlinge schnell freie Plätze und ließen sich abwartend nieder. Horatio nickte zufrieden und dankte daraufhin erst einmal allen, die ihre Arbeit zurückgestellt hatten, um sich an der Suche zu beteiligen. Dann fasste er sämtliche Ergebnisse des Tages noch einmal komplett zusammen und setzte so alle an der Suche beteiligten ins Bild. Hierzu griff er zu einigen Notizen, die vor ihm auf dem Tisch lagen.

„Ich habe eben die Ergebnisse der Auswertung der Spuren im Motelzimmer bekommen. Es liegen zwar noch nicht alle vor, aber ich denke, es ist schon einmal sehr wichtig zu wissen, dass es sich bei dem Pärchen, das sich dort eingemietet hat, definitiv um Rebekka Rivkin und den Ex-NCIS-Agent Sam Caulder handelt. Offenbar fühlen sich die beiden ziemlich sicher, denn sie haben sich keine sonderliche Mühe gegeben, in ihrem Zimmer keine Spuren zu hinterlassen. Durch die Beschreibung des Motelbetreibers haben wir nun auch aktuelle Beschreibungen ihres derzeitigen Äußeren.“ Er verteilte einige Zettel zum Weitergeben an die Anwesenden, bevor er fortfuhr. „Losgelöst davon, dass der Betreiber strengstens instruiert ist, sich sofort bei uns zu melden, wenn er etwas von den beiden hört, habe ich zwei Beamte rausgeschickt, die das Motel verdeckt beobachten werden und wenn…“

„Sie wollen Sie hopsnehmen, wenn sie zurückkommen?“, wurde er von Gibbs unterbrochen. „Vergessen Sie´s – Rebekka wird den Braten riechen.“

„Es gibt keine Hinweise darauf, dass die beiden Verdacht geschöpft haben“, wandte Caine ein.

Eine harsche Handbewegung des Grauhaarigen wischte diese These beiseite. „Diese Frau hat einen Instinkt der seinesgleichen sucht. Sie wittert Gefahr schon Meilen im Voraus.“

„Ich denke, einen Versuch ist es wert“, beharrte Caine auf seiner Entscheidung. „Dem Motelbetreiber können wir in der Beziehung nicht trauen.“

„Da gebe ich ihm recht“, meinte Tim an Gibbs gewandt. „Der Typ ist ein windiger Hund und wenn Rebekka es geschickt anstellt, dann macht er genau, was sie will. Wir wissen doch, wie sie ist.“

Das war nicht von der Hand zu weisen und so knurrte Gibbs lediglich. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“

„Es ist das Einzige, was wir diese Nacht noch auf die Beine stellen können“, antwortete Caine. „Und nachdem, was Sie mir erzählt haben, will ich nichts unversucht lassen. Ich will nicht, dass diese Frau meine Stadt für Ihre Mordpläne nutzt.“

„Ich sagte doch schon, dass es in Ordnung ist. Aber jammern Sie hinterher nicht, wenn Ihnen plötzlich ein paar Männer fehlen sollten.“

Ein leichtes Lächeln huschte über Caines Gesicht. Er mochte diesen grimmigen, wortkargen Mann irgendwie und er wusste, dass er im Moment nur ahnen konnte, was in ihm vorging, aber er hielt ihn für einen sehr fähigen Agenten. „Machen wir weiter“, sagte er nach einer Pause. „Ich bin übrigens froh, dass Sie letztlich eingesehen haben, dass wir uns erst morgen früh wieder auf die Suche nach den Vermissten machen können.“

„Geschenkt“, meinte Gibbs knapp. „Es ist Ihre Stadt. Sie kennen sich hier aus.“

„Ganz richtig. Das bedeutet, dass Sie und ich morgen gemeinsam mit Joe die Plätze abfahren, die er diesen vermeintlichen Naturforschern vorgeschlagen hat. Zeitgleich wird auch der Hubschrauber noch einmal in die Luft gehen und das Gebiet von oben absuchen…“

An dieser Stelle atmete Ziva merklich auf und Tim an ihrer Seite drückte beruhigend ihren Unterarm, der unübersehbar zitternd in ihrem Schoß lag, was ihm ein dankbares, zaghaftes Lächeln der Israelin einbrachte.

„…über eins müssen wir aber noch reden und ich möchte Sie abschließend alle bitten, darüber vielleicht bis morgen früh noch einmal intensiv nachzudenken“, riss die sanfte Stimme Caines sie gleich darauf wieder aus ihrer kurzen Ablenkung. „Ein gestohlenes Airboat ist kein Auto, das man einfach umlackieren und mit neuen Kennzeichen versehen erst einmal einigermaßen gefahrlos weiter benutzen kann. So ein Gefährt fällt auf und da wir nun ziemlich sicher sein können, dass sich die beiden Gesuchten mit dem gestohlenen Airboat von A nach B und zurück bewegen, müssen sie es nachts auch irgendwo unauffällig verstecken. Macht euch bitte Gedanken darüber, wo das sein könnte. Und sie müssen sich Sprit hierfür besorgen – vermutlich werden sie diesen in Kanistern transportieren. Ryan, du und Natalia, ihr werdet morgen alle Tankstellen abklappern, um herauszufinden, ob einer oder beide dort aufgefallen sind. Fangt mit denen an, die sich einigermaßen in Reichweite der Glades befinden. Ich weiß, dass das ein sehr großes Areal ist, aber es muss sein. Wenn wir die richtige Tankstelle finden, dann ist vermutlich auch das Versteck nicht allzu weit entfernt. Calleigh, du wirst dich weiter im Labor um die Auswertung der im Motelzimmer gefundenen Spuren kümmern. Wer weiß, vielleicht finden wir ja darüber noch mehr raus. Eric, du wirst Agent David wieder mit dem Heli begleiten. Frank, Agent Gibbs und ich werden mit Joe in die Glades fahren – zu dritt können wir alle Seiten im Auge behalten.“

„Was ist mit mir?“, fragte McGee verwirrt, dass ihm keine Aufgabe zugeteilt wurde.

„Oh, ich möchte, dass Sie hier im PD bleiben und Calleigh zur Hand gehen…“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er weiter sprach. „…und ich brauche Sie zur – nennen wir es zur Beruhigung – ihrer Labortechnikerin, Miss Sciuto. Mir ist zu Ohren gekommen, dass unsere Mitarbeiterin an der Telefonzentrale bereits mit Kündigung droht, sollte sie Miss Sciuto noch einmal am Telefon haben. Eine jahrelange verdiente Mitarbeiterin steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch und genau das möchte ich verhindern. Dazu brauche ich Sie und dazu müssen Sie hier erreichbar sein. Ist das ein Problem für Sie?“

„Nein, ist es nicht“, mischte sich Gibbs wieder ein. „Tim?“

„Nein, Boss. Alles in Ordnung. Kein Problem – ich bleibe hier und kümmere mich um Abby“, nickte Tim, der insgeheim froh darüber war, dass er nicht dazu verdonnert worden war, mit einem dieser ihm suspekten Airboate durch die Glades zu hetzen oder noch schlimmer, mit diesem doch sehr kleinen Heli mit zu fliegen.

„Gut, dann ist ja erst einmal alles klar“, beendete Caine die Besprechung und nickte den Anwesenden verabschiedend zu. „Wir sehen uns morgen.


82. Kapitel

18.00 Uhr – Der letzte Sonnenuntergang

Ein Geräusch an der Tür ließ Sam Caulder über die Schulter zurückblicken. Er hatte Tony gerade wieder an den Balken gebunden und wollte nun eigentlich noch einmal nach Anna´s Fesseln schauen, doch Rebekka´s Anblick, wie sie lässig am Türbalkon lehnte und sich langsam mit der Zunge über die Lippen leckte, ließ ihn in seiner Bewegung innehalten. Ihren Körper hatte sie leicht zur Außenseite abgewandt, aber ihre Augen fixierten seinen Blick und ließen ihn nicht mehr los.

„Was ist?“, fragte Sam mürrisch. Die Behandlung, die ihm die Israelin kurz zuvor noch vor ihren Gefangenen hatte zuteil werden lassen, wurmte ihn nach wie vor. „Warum kommst du nicht rein? Du könntest mir durchaus auch mal ein bisschen behilflich sein.“

Rebekka schluckte den durch Sam´s Bemerkung aufkommen Ärger gekonnt wieder runter und lächelte lediglich geheimnisvoll. „Du machst das schon, Schatz. Ich weiß doch, wie gewissenhaft zu arbeitest.“ Sie legte eine kleine Pause ein und ließ ihren Blick ein wenig schweifen, dann fuhr sie fort: „Nun … wie sieht´s aus? Bist du bereit?“ Sie verlieh ihrer Stimme einen rauchigen Klang und ließ, während sie sprach, beinahe unmerklich ihr Becken leicht vor und zurück kreisen.

„Bereit? Wofür? Fahren wir endlich zurück?“ Sam drehte sich um und richtete seine Aufmerksamkeit jetzt vollends auf seine Geliebte.

„Was glaubst du denn?“, hauchte Rebekka.

„Keine Ahnung – ich weiß ja nicht, ob du dich für heute genug ausgetobt hast“, antwortete der Ex-Agent, der sich fest vorgenommen hatte, es Rebekka dieses Mal nicht wieder so einfach zu machen. Er war es leid, sich von ihr schlecht behandeln zu lassen. Das hatte er, seiner Meinung nach, nicht verdient. Ohne ihn wäre sie nie so schnell so nah an Tony herangekommen.

„Die Sonne geht unter.“ Rebekka blickte angelegentlich nach draußen und wartete gleichzeitig gespannt auf seine Reaktion. „Komm her, das musst du gesehen haben. Es ist einfach unvergleichlich.“

Erwartungsvoll setzte Caulder sich in Bewegung. „Gut, wenn du unbedingt willst, genießen wir eben erst noch diesen verdammten Sonnenuntergang. Aber dann…dann will ich endlich wieder in unser klimatisiertes Motelzimmer zurückkehren. Baby, diese scheiß Hitze hier macht mich echt fertig. Ich freu´ mich total auf ein kaltes Bier und danach… Hey, hörst du mir überhaupt zu?“ Er hatte Rebekka nun fast erreicht und beugte sich vor um einen Blick auf den Sonnenuntergang zu werfen. In diesem Augenblick schnellte Rebekka ganz zu ihm herum und schleuderte ihm urplötzlich ein kleines buntes Etwas an den Hals. Sam riss zwar noch instinktiv die Arme hoch, doch er war viel zu überrascht von der Aktion, um rechtzeitig reagieren zu können. Er zuckte erschrocken zurück, doch noch in der Rückwärtsbewegung spürte er einen schmerzhaften Stich an seiner Kehle. Er keuchte auf und griff sich an den Hals, doch bevor er das Ding zu packen bekam, rutschte es in seinen Hemdausschnitt bis hinunter zum Hosenbund. Er hatte sein Hemd in die Hose gesteckt, so dass das Ding dort aufgehalten wurde und begann, sich wild an seinem Bauch zu winden. Caulder stieß einen Entsetzensschrei aus, als er erneut einen Biss spürte und riss sich hektisch das Hemd aus der Hose, so dass eine kleine bunte Schlange, wie er gleich darauf mit panikartigem Grauen feststellte, auf den Boden fiel. Sofort schlängelte sich das Tier so schnell es konnte von ihm fort und war schon wenige Augenblicke später in einer Spalte verschwunden.

„Was …“ stammelte der Ex-Agent, während er mit grotesk weit aufgerissenen Augen auf die Bisswunde starrte, die die Harlekinschlange an seinem Bauch hinterlassen hatte. An den kleinen runden Punkten, die dort zu sehen waren, wo die Schlange ihre Zähne in seine Haut geschlagen hatten, bildeten sich winzige Blutstropfen – zu wenig, um eine Spur nach unten zu ziehen und doch genug, um seine Panik ins unermessliche wachsen zu lassen. Nur langsam verarbeitete Caulders Verstand das eben Geschehene, doch dann hatte er die grausame Tatsache bewusst erkannt und ahnte nun, was ihm in Kürze blühen würde. Langsam blickte er zu Rebekka auf, die nur zwei Meter von ihm entfernt stand und offensichtlich fasziniert das Schauspiel beobachtet hatte. Ihre Augen glänzten vor Erwartung und ihre Lippen hatten sich zu einem stillen Lächeln verzogen.

„Du … du elendes Miststück“, kreischte Caulder hysterisch auf und wollte sich auf die Frau, die noch vor wenigen Augenblicken seine Geliebte gewesen war, stürzen. Doch die Israelin hatte damit schon gerechnet. Sofort, nachdem sie ihm die Schlange entgegengeworfen hatte, hatte sie ihre Waffe aus dem Hosenbund gezogen und mit dieser schoss sie dem Ex-NCIS-Agenten nun ohne zu zögern treffsicher ins rechte Schienbein, bevor er sie erreichen konnte. Aufheulend stürzte Caulder zu Boden, krümmte sich vor Schmerzen und hielt sich das Bein, bei dem durch den Schuss der Knochen gebrochen war. Die Schwarzhaarige hingegen agierte so, wie sie es seinerzeit beim Mossad gelernt hatte und noch bevor der Verletzte an seine Waffe dachte, hatte Rebekka diese bereits an sich gebracht und wieder einen Sicherheitsabstand zwischen sich und Sam hergestellt. Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht lehnte sie sich daraufhin entspannt an die Bretterwand und blickte auf ihren ehemaligen Partner herunter.

Dieser kroch leise vor sich hin wimmernd zur gegenüberliegenden Seite der Hütte, setzte sich mühsam auf und lehnte sich mit dem Rücken an die unebenen Holzbohlen. Die beiden Schlangenbisse hatten sich bereits rot verfärbt und schmerzten ungemein. Der hektische Angriffsversuch und der Schock durch Rebekkas Schuss hatten das Gift nur noch schneller in Caulders Blutkreislauf gepumpt und nun glaubte er, bereits zu spüren, wie das Gift sich unaufhaltsam in seinem Körper ausbreitete und ihn zusätzlich schwächte.

Anna hatte der Szene mit blankem Entsetzen zugesehen und biss mittlerweile in ihre geballte Faust, die sie sich vor den Mund gedrückt hatte, um nicht laut aufzuschreien. Sie hatte Angst, Rebekkas unberechenbare Wut eventuell damit auf sich zu lenken.

Tony, der halb bewusstlos auf dem Boden gelegen hatte, realisierte erst durch Caulders Geschrei, dass etwas passiert sein musste. Sein benebelter Verstand hatte Probleme, das Geschehene richtig zu analysieren, doch Rebekkas nächste Sätze lieferten ihm die Erklärung, während er noch versuchte, alles auf die Reihe zu bekommen.

„Tja, Sam, du hast mich eben einmal zu oft wütend gemacht. Du hast doch nicht ernsthaft daran geglaubt, wir würden so etwas wie ein Paar werden, Liebling?“ Das letzte Wort spie sie ihm förmlich entgegen. „Hmm, sag schon, was hast du geglaubt? Dass wir Tony erledigen und uns dann glücklich irgendwo niederlassen. Oder wolltest du wie Bonny und Clyde durch die Lande ziehen?“ Sie lachte hämisch auf: „Du warst ein praktischer Helfer und hin und wieder ein ganz guter Fick – nicht der beste, dass das mal klar ist, aber manchmal hat Frau eben keine Wahl und muss nehmen, was sie kriegen kann...“ Sie blickte versonnen auf ihre Fingernägel und pustete eine nicht vorhandene Dreckspur weg. „Mal ehrlich, nach all´ dem, was du von mir weißt – hast du wirklich geglaubt, dass du diese Chose hier überlebst?“ Sie kicherte leise vor sich hin. „Nein, dass du sterben wirst, war von Anfang an klar. Nur der Zeitpunkt stand nicht von vorneherein fest. Aber jetzt ist es so weit. Du wirst sterben, ich will dir da keine falschen Hoffnungen machen. Diese süße kleine Schlange war nämlich die böse Ausführung, nicht die harmlose Variante, die es hier auch gibt. Ich habe sie vorhin zufällig gesehen, als wir draußen im Dreck lagen und uns vor dem Heli versteckt haben. Mir fiel auf, dass bei ihrer Zeichnung gelb auf rot folgt, und das ist die giftige Sorte. Als ich erfahren habe, dass Tony in Florida ist, habe ich mich über Land und Leute und auch über die Tierwelt hier informiert. Man kann schließlich nie wissen - und das war offensichtlich gar nicht mal so verkehrt. Weißt du, dich einfach über den Haufen zu knallen, erschien mir nicht besonders originell; was die Todesarten meiner Opfer angeht, bin ich durchaus ein wenig…na ja, nennen wir es experimentierfreudig. Du kannst mir glauben, ich habe schon viel angestellt, aber ich habe tatsächlich noch nie einen Menschen an einem Schlangenbiss sterben sehen. Aber das wird sich ja nun glücklicherweise gleich ändern.“ Mit dem rechten Zeigefinger zeichnete sie einen imaginären Haken in die Luft. „Abgehakt und erledigt. Das kann ich von meiner To-do-Liste streichen. Dafür bin ich dir übrigens wirklich dankbar. Die hübsche Schlange hat sich eigentlich ganz einfach fangen lassen, ich war wirklich überrascht. Aber hey, sie wusste ja nicht, dass sie jemanden wie dich beißen muss, sonst hätte sie sich womöglich mehr gewehrt.“ Sie unterbrach ihren Monolog und trat interessiert ein wenig näher an Caulder heran, der bereits ziemlich schwer atmete und dessen Gesichtszüge mittlerweile schweißgetränkt waren.

Die Schlange hatte bei den beiden Bissen anscheinend extrem viel Gift abgesondert, so dass Caulder bereits nach kurzer Zeit ziemlich heftig reagierte. Der Ex-Agent wusste ganz genau, dass das Adrenalin, das gerade in Rekordgeschwindigkeit durch seine Adern rauschte, seinen Zustand eher noch verschlimmern würde, doch so sehr er auch versuchte, sich zu beruhigen – es wollte ihm einfach nicht gelingen. Er keuchte und Tränen der Verzweiflung liefen über seine Wagen, als ihm mehr und mehr klar wurde, dass sein Tod wohl nur noch eine Frage von Minuten und noch nicht einmal mehr von Stunden war. „Der Teufel soll dich holen, du verfluchte Hexe“, quetschte er mühsam heraus. Dann blieb sein Blick an Tony hängen, der sich mittlerweile ein wenig gedreht hatte, so dass er seinen früheren Kollegen ansehen konnte.

„Ich hatte dich gewarnt, aber dass du noch vor mir abtrittst, das hatte selbst ich nicht erwartet“, flüsterte der Braunhaarige und hustete gleich darauf unkontrolliert, denn er litt noch immer an den Folgen des Essigessenzattentates. Er empfand kein Mitleid mit dem Mann, der ihn im Job denunziert und ihn mit Vergnügen gequält hatte und ihn auch ohne Skrupel umgebracht hätte, aber die Genugtuung, die er eigentlich erwartet hatte, blieb merkwürdigerweise aus. Wahrscheinlich war er einfach viel zu fertig. Die ständigen Schmerzen benebelten seine Sinne und so beschloss er, nicht weiter über seine Gefühle nachzudenken. Er blieb einfach stumm liegen und blickte ohne weitere Worte in Caulders Richtung.

Bei Tony´s Worten schluchzte der blonde Mann erneut auf, nichts war mehr übrig von dem harten Typen, den er noch vor kurzem nach außen gegeben hatte. Tony´s Leben hätte er kaltlächelnd genommen, aber sein eigenes wollte er nicht verlieren. Eine halbe Stunde später registrierte er panisch, dass ihm das Atmen immer schwerer fiel. Seine Lippen fühlten sich bereits taub an, genauso wie seine Zunge, die ihm außerdem merkwürdig geschwollen vorkam. Schwer und dick lag sie in seinem Rachen und ermöglichte ihm das Atmen nur noch mit weit geöffnetem Mund. Er wollte etwas sagen, aber er brachte kein verständliches Wort mehr heraus. Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln und verzweifelt krallte er seine Finger in sein aufgerissenes Hemd. Auch diese fühlten sich mittlerweile pelzig an. Die Bisswunden schmerzten entsetzlich und die interessierten Blicke von Rebekka, die ihn betrachtete wie ein Medizinstudent, der einen Frosch seziert, ließen sein Herz noch wilder pochen als ohnehin. Er kam sich vor wie eine Laborratte beim finalen Versuch. „D…d…lu…“ lallte er. Er wollte die Israelin verfluchen, aber seine Zunge versagte ihm vollends den Dienst. Langsam bemerkte er eine gewisse Atemnot, die seine Furcht ins Unermessliche steigerte. Er versuchte, tief einzuatmen, doch die Lähmungserscheinungen waren mittlerweile bis zu seinen Lungen vorgedrungen. Entsetzt riss er den Mund weiter auf und sog den kostbaren Sauerstoff ein, doch er konnte nur noch ganz flach atmen und so schnappte er schließlich nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er wollte aufstehen, weglaufen, dem Tod, der ihn bereits angrinste, entfliehen, doch seine Gliedmaßen gehorchten ihm nicht mehr. Japsend hockte er auf dem Boden und stierte Rebekka mit rotgeäderten Augen an. Immer weniger Sauerstoff gelangte in seine Lungen, bis seine Atemwege schließlich gänzlich gelähmt waren. Seine Augen traten fast aus den Höhlen, als er bei vollem Bewusstsein gewahrte, dass er jetzt ersticken würde. Seine Arme und Beine begannen zu zucken, während er blau anlief, bis schließlich sein Blick brach und seine toten Augen ausdruckslos in Richtung Tür starrten, während sein Kopf haltlos zur Seite fiel.

`So muss ich ausgesehen haben, als mir Rebekkas Schlinge im Keller die Luft abgeschnürt hat´, schoss es Tony unwillkürlich durch den Kopf und ein Schauer schüttelte ihn, als er daran dachte, was Ziva in diesen schrecklichen Momenten durchgemacht haben musste, denn immerhin hatte Rebekka damals dafür gesorgt, dass seine Verlobte das Seil, das über Leben und Tod entscheiden sollte, in ihren Händen gehalten hatte.

„Nun sieh´ sich das einer an“, lachte Rebekka unvermittelt lauthals los und stieß die Tür auf, so dass alle Anwesenden einen Blick nach draußen werfen konnten, wo gerade in einem prachtvollen Farbenspiel die Sonne am Horizont der Everglades in einem Flammenmeer unterzugehen schien. „Tony, Tony, nun guck doch. Er sieht es sich an! Ich habe Sam tatsächlich noch einen letzten Sonnenuntergang geschenkt“, sagte sie offenbar höchst zufrieden mit ihrer Tat. Sam Caulder war Geschichte und schon wenige Augenblicke später verschwendete sie keinen Gedanken mehr an ihren Ex-Lover! Schließlich gab es noch viel zu tun, aber für heute würde sie Feierabend machen. Den hatte sie sich nach einem solchen Tag wahrlich verdient!

83. Kapitel

19.45 Uhr – Zurück nach Miami

Schon mehrfach hatte Rebekka sich verwünscht, dass sie so lange mit der Rückfahrt gewartet hatte. Caulder hatte wirklich Recht gehabt – die Fahrt im Dunkeln durch die Everglades war wirklich für Ortsunkundige alles andere als einfach. Sie hatte zwar einen Scheinwerfer dabei, aber der beleuchtete nur eine geringe Strecke vor dem Boot. Sie konnte nur relativ langsam fahren, denn wenn sie einen vermodernden Baum übersehen und dagegen fahren sollte, könnte das Boot ernsthaften Schaden nehmen und im schlimmsten Fall würde sie dann manövrierunfähig durch das unwegsame Gelände treiben. Ein Gedanke, der selbst bei der hartgesottenen Terroristin Unbehagen hervorrief. Außerdem hatte sie keine Lust am nächsten Morgen von irgendwelchen Touristenführern aufgegriffen zu werden und in Erklärungsnot zu geraten. Zum wiederholten Male hielt sie den Motor an und warf im diffusen Licht ihrer Taschenlampe einen Blick auf den Kompass, den sie dabei hatte. Die Richtung stimmte noch und Rebekka nickte befriedigt. Dank ihrer erstklassigen Ausbildung konnte ihr die Dunkelheit egal sein: Sie würde an der richtigen Stelle landen, dessen war sie sich absolut sicher! Die Israelin hielt noch einen Augenblick inne und lauschte fasziniert der Geräuschkulisse, die jetzt – wo kein lautes Motorengedröhn sie mehr störte – noch viel stärker auf sie einwirkte und sie wider Willen stark beeindruckte. In unmittelbarer Nähe – gerade noch im schwächer werdenden Schein der Taschenlampe zu erkennen – drückte sich ein Alligator kräftig mit seinem Schwanz von einer Uferböschung ab und glitt danach beinahe majestätisch ins seichte Wasser hinein. Langsam schwamm er vor ihrem Boot vorbei und verschwand gleich darauf aus ihrem Blickfeld. Rebekka wartete noch einen Augenblick, bis auch das letzte Plätschern seiner Schwimmbewegungen verstummt war, dann drückte sie entschlossen den Hebel nach vorne und beschleunigte das Boot wieder. Sie musste – nein, sie wollte hier weg! So schnell wie möglich. Inzwischen war sie müde, hungrig und lechzte nach einer Dusche. Aber noch musste sie sich gedulden. Eins nach dem anderen…


20.10 Uhr – Bei Tony und Anna


Es war still in der Hütte geworden, seitdem Rebekka gegangen und die beiden Gefangenen mit dem toten Caulder zurückgelassen hatte. Den toten Körper ihres ehemaligen Geliebten hatte sie einfach achtlos in der Hütte liegen gelassen. Anna wirkte nach der neuerlichen Demonstration von der Skrupellosigkeit ihrer Entführerin völlig apathisch und Tony ging es nicht besser. Er lag auf der Erde, kaum noch dazu fähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Er zitterte wie Espenlaub, während sein Körper gleichzeitig zu verbrennen schien, so sehr glühte er. Anna´s zaghafte Versuche, ihn aus seiner Lethargie zu holen, schien er gar nicht mitzubekommen.

„Tony? – Bitte, Tony. So rede doch mit mir“, versuchte sie es immer wieder mit zitternder Stimme, doch seine Antworten blieben unverständlich.

Plötzlich schreckte er unvermittelt auf. „Ziva“ schrie er laut. „Ziva. Komm doch her zu mir! Warum kommst du denn nicht?“ Er verstand nicht, was gerade passierte. Warum kam Ziva nicht zu ihm? Dort stand sie doch – keine fünf Meter von ihm entfernt – und winkte fröhlich zu ihm herüber. Fröhlich? Wie konnte sie denn in dieser Situation fröhlich sein? Sie musste doch bemerken, wie schlecht es ihm ging? Tony wollte aufspringen und die paar Schritte zu seiner Verlobten laufen, als ihn eine zu heftige Bewegung abrupt in die traumatische Wirklichkeit, in seine aussichtslose Lage, in sein Tal der Schmerzen, zurückholte. Er brach mitten in der Bewegung zusammen und krümmte sich auf dem Boden – lautloses Schluchzen malträtierte seine verletzte Speiseröhre. Wurde er vielleicht verrückt? Er wusste es nicht, doch Ziva´s Bild war genauso plötzlich verschwunden, wie es vor ihm aufgetaucht war. Das musste doch etwas zu bedeuten haben, oder vielleicht doch nicht?

Anna war bei Tony´s Ausbruch heftig zusammengezuckt und begann wieder, leise vor sich hin zu weinen. Tony ging es schlechter und schlechter und sie wusste nicht, was sie tun sollte, um ihm zu helfen. Konnte sie ihm überhaupt helfen? War ihm noch zu helfen? Er halluzinierte bereits und sein Allgemeinzustand schien sich zusehends zu verschlechtern. Die Situation erschien ihr auswegloser als je zuvor und die Leiche auf dem kargen Holzboden der Hütte trug auch nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. In ihrem früheren Leben – vor den Misshandlungen, die ihre damaligen Angreifer ihr zugefügt hatten und mit denen diese ihr Leben so völlig aus der Bahn geworfen hatten – war sie Medizinstudentin gewesen. Zwar hatte sie noch nicht viele Semester absolviert, aber so viel wusste sie. Eine Leiche, bei den hier herrschenden Temperaturen, ohne jegliche Chance auf Kühlung, würde schnell, sehr schnell in den Zustand der Verwesung übergehen, was bedeutete, dass sich hier vermutlich in rasender Geschwindigkeit, Fliegen, Maden und noch so einiges mehr tummeln würde. Von dem Gestank, den Caulder in Kürze verbreiten würde, mal ganz abgesehen… Anna zwang sich, an etwas anderes zu denken und ihr Blick wanderte von der Leiche zurück zu Tony, während sie sich verzweifelt den Kopf zermarterte, wie sie ihm wohl helfen könnte.

DiNozzo war inzwischen merkwürdigerweise wieder etwas ruhiger geworden. Anna wusste nicht, dass die Gedanken an seine Leute…seine Familie und an Ziva dafür verantwortlich waren! Seine Ziva! Komisch…eben – als sie noch draußen gewesen waren…da hatte es einen Moment gegeben, einen kurzen Augenblick, da hatte er sich seiner Verlobten ganz nahe gefühlt. Wahrscheinlich hatte Ziva auch genau in diesem Moment an ihn gedacht. Andere mochten ja darüber lachen, aber es hatte schon häufiger in ihrer beider Beziehung diese kurzen Momente der Seelenverwandtschaft gegeben. Momente, in denen sie beide wussten, was der jeweils andere dachte – selbst wenn sie kilometerweit voneinander entfernt gewesen waren. Warum sollte das eben nicht auch solch ein wertvoller Augenblick gewesen sein? Außerdem glaubte er ganz fest daran, dass Ziva sich ebenfalls bereits auf die Suche nach ihm gemacht hatte. Mit Sicherheit befand sie sich bereits in Miami und sie würde nicht aufgeben, bis sie ihn gefunden hatte. Eher würde die Hölle zufrieren, soviel stand fest! Doch, ja, er musste einfach daran glauben! Sie würden gefunden werden! Bald schon! Sehr bald! Ziva würde dafür sorgen – sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen und nicht eher ruhen, bis…ja, bis was? Bis seine und Anna´s Leichen gefunden wurden? Nein, soweit würde sie es sicher nicht kommen lassen. Aber was, wenn sie keinen Einfluss nehmen konnte? Quatsch! Wenn es um ihn ging, würde sich Ziva nicht von irgendwelchen Obrigkeiten oder Gesetzen bremsen lassen! Doch was, wenn sie schlicht zu spät kam? Dann…dann…nein, das ging gar nicht! So durfte er nicht denken! Schließlich wollten sie heiraten! Eine große Hochzeit mit allem Pipapo! Vielleicht sollte er sich einfach Gedanken über die Hochzeit machen – wo sie stattfinden sollte? In DC oder in Israel? Komisch, darüber hatten sie noch nie gesprochen, dabei war das doch durchaus eine wichtige Frage. Er nahm sich vor, das sofort mit Ziva zu klären, sobald er zurück sein würde …

Als Tony an diesem Punkt mit seinen Gedanken angekommen war, merkte er selber, dass seine Gedanken immer irrationaler und verworrener wurden und er sich selber kaum noch folgen konnte. Vielleicht sollte er das Denken für den Moment einfach einstellen und sich vielmehr um den Dauerschüttelfrost kümmern, der ihn seit einigen Minuten immer wieder durchschüttelte. Wie gerade jetzt! Schauernd fuhr er einmal mehr zusammen und klapperte dabei laut mit den Zähnen. Doch die Gedanken an sein Team und an Rettung hatten ihm geholfen und ihn aus seiner Lethargie gerissen. Er durfte sich jetzt nicht wieder fallen lassen – so schwer dies auch war. Er musste sich zusammenreißen! Für sich! Für Ziva! Und auch für Anna! Anna! Großer Gott, der machte er bestimmt gerade eine Menge Angst durch sein verrücktes Gehabe! Das musste aufhören! Sofort! Mühsam setzte er sich auf und ballte dabei die Hände zu Fäusten, als würde ihm das bei der Konzentration helfen. „Anna“, krächzte er mit rauer Stimme, bevor er sich räusperte und sich erneut an das blonde Mädchen wandte. „Anna, hörst du mich? Geht es dir gut?“

„Tony? - TONY! Ich … ich hatte schon Angst, du wirst gar nicht mehr wach! Ich bin so froh. Mir geht es …“ Sie schluckte schwer, das Wort „gut“ wollte ihr fast nicht über die Lippen kommen, doch sie raffte sich auf und fuhr mit fester Stimme fort: „…soweit ganz gut, aber wie geht es dir? Du siehst … krank aus.“ Die leichte Euphorie, die sie eben noch empfunden hatte, als Tony einigermaßen klar zu ihr gesprochen hatte, verpuffte so schnell wie sie gekommen war.

„Kann schon sein…ich habe mich schon mal besser gefühlt“, flüsterte er leise. „Aber noch sind wir am Leben und das wollen wir doch auch bleiben. Nicht wahr, Anna?“ Er versuchte, so aufmunternd wie möglich zu klingen und seine Mitgefangene nickte heftig zustimmend mit dem Kopf.

„Genau, wir geben nicht auf! Wir nicht! Wir kommen hier raus!“ Der Braunäugige lächelte zu der jungen Frau hinüber, obwohl ihm wirklich nicht zum Lachen zumute war. „Hey, du hast doch gestern den Haken aus der Wand gelöst und das haben die beiden nicht bemerkt.“ Er warf einen kurzen Blick auf Caulder´s Leichnam, dann wandte er sich wieder Anna zu. „Zieh´ ihn heraus und dann komm rüber zu mir, okay?“

Anna nickte wiederum und begann sofort, mit all ihrer Kraft an dem Haken zu zerren, der sich dieses Mal schon nach wenigen kurzen Rucken wieder lockerte und kurz darauf ganz aus der Wand brach. „Ich hab´ es geschafft“, jubelte sie auf und kroch sofort auf allen Vieren zu Tony hinüber, immer bemüht, so weit wie möglich von dem Toten in der Ecke weg zu bleiben.

Tony lehnte an dem Balken, die Arme hinter sich gefesselt und hielt die Augen geschlossen, während er darauf wartete, dass Anna ihn erreichte. Schon die wenigen Sätze hatten ihn unglaublich angestrengt und er fragte sich ernsthaft, wie er in diesem Zustand Rebekka gegenüber treten sollte - vorausgesetzt, er wurde seine Fesseln los. Er war deprimiert, verletzt an Leib und Seele und das Schlimmste war, dass er förmlich spürte, wie der letzte Rest Kraft seinen Körper zu verlassen schien. Langsam, aber unaufhaltsam. Er ergab sich nicht in sein Schicksal – nein, ganz sicher nicht, aber sein geschundener Körper wollte einfach nicht mehr so, wie sein Geist, der noch deutlich wacher schien. Wenn es nach seinem Geist ging, dann würde er sich befreien und auf Rebekka warten. Sie würde zurückkommen, da war er sich sicher und wenn sie das nächste Mal die Hütte betrat, würde er sie überraschen und überwältigen. Er würde seine Hände um ihren schlanken Hals legen und erbarmungslos das letzte Fünkchen Luft aus ihren Lungen pressen – so lange, bis ihr Teint sie gräuliche Farbe der Leblosen annahm und sie endlich tot vor ihm zusammenbrach. DAS wollte sein Geist – aber sein Körper wäre derlei Anstrengungen wohl nicht mehr gewachsen, also musste er sich etwas anderes überlegen…Nur was, verdammt noch mal?

Plötzlich zuckte Tony zusammen und riss erschreckt die Augen auf, als er eine leichte Berührung an der Schulter spürte. Mühsam öffnete er die Augen und erkannte Anna, die vor ihm kniete und ihn besorgt ansah.

„Was soll ich jetzt tun?“ fragte sie, nachdem sie ein wenig an den Handschellen herumgefingert hatte. „Sag mir, was ich tun soll? Ich kriege diese Dinger doch so nicht ab – weißt du da vielleicht einen Trick oder so? Komm schon, Tony, du bist doch Agent – du musst doch… Plötzlich hielt sie unvermittelt inne und versteifte sich einen Moment.

Überrascht fragte Tony: „Was ist los? Was hast du? Wenn du nicht gerade eine Büroklammer zur Hand hast, musst du es einfach weiter probieren. Wir dürfen nicht aufgeben. Mach weiter!“


84. Kapitel

20.38 Uhr – Rebekka!

Vor wenigen Minuten hatte die Israelin zielsicher in der kleinen Bucht angelegt, in der sie am Morgen noch gemeinsam mit Sam ihren Wagen gut getarnt versteckt hatte. Sie war extrem schlechter Laune, denn sie hatte wesentlich länger für den Rückweg gebraucht, als sie gedacht hatte, aber immerhin war sie wenigstens zurückgekommen, ohne eine längere Pause einlegen zu müssen. Offen würde sie das vor niemandem zugeben, aber die Everglades im Dunkeln waren definitiv etwas anderes als bei Tageslicht. So war sie froh, als sie wieder festen Boden unter ihren Füßen spürte. Das Airboot hatte sie zuvor langsam unter die tief hängenden Äste der Mangroven manövriert, die bis ins Wasser hingen. Zudem war in dieser Region der gesamte Uferbereich mit dichtem Schilf bewachsen. Das Boot würde unerkannt bleiben, selbst wenn jemand nur 10 m entfernt davon vorbeifahren würde. Das Versteck war einfach ideal Genauso für den Wagen. Der stand ebenfalls von meterhohem Schilf gut verborgen am Rande einer kleinen Lichtung. Nachdem Rebekka das Boot sicher vertäut hatte, griff sie nach dem Rucksack und ging das kleine Stück Weg hinüber bis zum Auto, welches sie kurz darauf vorsichtig aus dem Schilf fuhr. Als sie die Straße erreicht hatte, vergewisserte sie sich schnell, dass niemand in der Nähe war, bevor sie den Wagen am Straßenrand parkte, ausstieg und eilig zum Versteck zurücklief, um dort die umgeknickten Halme wieder aufzurichten, so dass die Stelle wieder völlig natürlich und unversehrt aussah. Während sie arbeitete verfluchte sie in Gedanken Sam Caulder, dass er ihr diese niedrigen Arbeiten überließ. Unter anderem, damit er ihr so etwas abnahm, hatte sie sich schließlich mit ihm eingelassen. Dabei übersah sie in ihrer stummen Wut völlig, dass sie selber dafür verantwortlich war, dass der Ex-Agent ihr jetzt nicht mehr zur Hand gehen konnte.

Wieder fluchte Rebekka leise vor sich hin, als sie sich aufrichtete, eine Hand in ihr Kreuz legte und einen letzten Kontrollblick auf die Lichtung vor dem Versteck warf. Gut, das würde ausreichen. Wer hier vorbeikam würde auf den ersten und auch auf den zweiten Blick nie vermuten, dass hier tagsüber ein Auto und ein Stückchen weiter am Ufer nachts sogar ein Airboat versteckt wurden. Die Arbeiten waren lästig, aber nötig – allerdings nicht mehr lange, tröstete sie sich. Bald war es vollbracht. Aber Morgen brauchte sie das Versteck noch einmal. Deshalb musste sie auf der Hut sein und sorgfältig arbeiten – so lästig das auch sein mochte. Sie waren auf der Suche nach ihr, das wusste sie spätestens, seitdem der Hubschrauber vom Miami PD so niedrig über die Insel, wo sie ihre Opfer verborgen hielt, hinweg geflogen war. Das Letzte, was sie wollte, war so kurz vor dem Ziel noch abgefangen zu werden. Ganz kurz kam ihr der Gedanke, dass sie DiNozzo und diese kleine blonde Schlampe vielleicht doch besser noch an diesem Abend hätte töten sollen, um anschließend in Ruhe für immer zu verschwinden, aber das ständige Herumgenörgel von Caulder hatten diese Option einfach nicht zugelassen. Nein – sie pustete sich energisch eine ins Gesicht gefallene Haarsträhne zurück – es war gut, dass sie diesem Schlappschwanz das Licht ausgeblasen hatte. Seine ständiges Gelaber und seine Eifersucht hatten ihn mehr und mehr zur Gefahr werden lassen. Hoffentlich kam DiNozzo über Nacht wieder etwas zu Kräften – sie hatte absolut keine Lust, sich am nächsten Tag alleine mit der Beseitigung von Caulders Leiche abzumühen. Ihr Rücken brachte sie jetzt schon um. Genug sinniert, beschloss sie dann und ging ruhig zurück zum Wagen. Es war nicht gut, wenn sie sich zu lange mit solchen Überlegungen aufhielt. Es würde sich finden. Alles würde sich finden – so wie immer. Am nächsten Morgen würde sie früh raus zur Insel fahren, Caulders Leiche verschwinden lassen – genau: Sie würde Tony und Anna in der sengenden Sonne ein Grab in den harten Boden buddeln lassen – und sich dann um Tony und diese Schnepfe kümmern. Denn so viel war mal klar: Für diese beide begann morgen ihr letzter Tag auf Gottes schöner Erde. Sie war nicht so vermessen anzunehmen, dass sie mit den beiden in ihrem Zustand die Insel verlassen und sie in ein neues Versteck bringen konnte – ein Versteck, dass sie noch nicht einmal ausgekundschaftet hatte. Nein, die beiden mussten sterben – das stand fest. Sie wusste nur noch nicht wie, aber darüber konnte sie sich später noch Gedanken machen. Unter einer heißen Dusche zum Beispiel. Ein kleines Lächeln der Vorfreude umspielte Rebekkas Lippen, als sie in den Wagen stieg und ihn startete. Es gab noch einiges für sie zu tun, bevor es vorbei war. Ihre Flucht musste auch noch organisiert werden. Das würde selbst in einer so großen Stadt wie Miami sicher nicht einfach werden, denn vermutlich waren längst alle Bullen der Stadt im Besitz ihres Fotos. Egal! Sie war ihren Verfolgern schon so oft entwischt, es würde ihr auch dieses Mal wieder gelingen, etwas anderes war schlichtweg unmöglich.

Langsam lenke Rebekka den Wagen auf die Straße zurück und machte sich auf den Rückweg zum Motel. Es tat gut, endlich mal wieder selber am Steuer zu sitzen…

 


Etwa zeitgleich – Bei Tony und Anna – Ein erster Durchbruch

Langsam drehte die Blondhaarige ihren Kopf zu dem NCIS-Agenten um. „Als … als … er…“ Sie deutete zaghaft mit dem Kopf in Richtung Caulder. „… dich gefesselt hat, habe ich gesehen, dass … dass er danach die Schlüssel für die Handschellen eingesteckt hat.“

„Was? Anna! Was sagst du da? Ich dachte, Rebekka hätte sie ihm abgenommen.“

„Nein!“ Anna schüttelte energisch den Kopf. „Das glaube ich nicht, die Frau hat sie nicht genommen – das wäre mir aufgefallen. Ich denke…sie…sie müssten noch in seiner Hosentasche sein.“ Sie wusste sehr gut, was sie mit diesen Worten anrichtete – was nun gleich auf sie zukommen würde und es graute sie fürchterlich davor. Aber ihr war klar geworden, dass Tony es nicht alleine schaffen würde, sie hier rauszubringen. Er brauchte ihre Hilfe und sie wollte verdammt sein, wenn sie nicht wenigstens versuchte, über ihren Schatten zu springen. Sie pustete einmal tief durch, bevor sie mit fester Stimme wiederholte: „Ich bin sicher, dass er die Schlüssel zu den Handschellen in seiner Hosentasche hat.“

Tony benötigte einen Augenblick, um das Gesagte zu realisieren, doch dann kam wieder Leben in ihn. „Anna – Anna, verdammt, das ist unsere Chance. Du musst die Schlüssel holen. – Hör zu, ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist, aber er kann dir nichts mehr tun. … Anna …Caulder ist tot, Anna. Er wird dich nicht angreifen. Bitte, Anna, hol´ die Schlüssel – tu es! Für uns!“ Tony sah sie mit fiebrig glänzenden Augen an und das Mädchen erwiderte seinen Blick, wobei sich ihr Brustkorb in schneller Folge hob und senkte. Schließlich gab sie sich einen Ruck, nickte und kam dann langsam auf die Beine. Zögernd ging sie zu dem toten Mann hinüber und ging schließlich zitternd neben ihm in die Knie. Um an seine Hosentasche zu kommen, musste sie seinen Arm zur Seite legen, was bei der beginnenden Totenstarre gar nicht so einfach war. Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, als sie ein leises Knirschen hörte, doch dann hatte sie den Arm soweit bewegt, dass sie dem Toten in die Hosentasche greifen konnte. `Reiß dich zusammen!` befahl sie sich selbst. `Du wolltest doch mal Ärztin werden und zitterst hier vor einem Toten`. Ihr Selbstbewusstsein von früher war jedoch von den geifernden Männern, die sie missbraucht hatten, genauso vernichtet worden, wie ihr Lebenswille. Aber jetzt musste sie dieses Trauma hinter sich lassen. Für sich und für Tony! Vorsichtig fingerte sie mit abgewandtem Blick nach den Schlüsseln und nachdem sie sie gefunden hatte, schloss sie ihre schweißnassen Finger krampfartig um das Metall und zog dann ruckartig ihre Hand wieder heraus. Sie schnellte hoch und taumelte einige Schritte rückwärts, während sie sich vor Grauen schüttelte. Doch gleichzeitig verspürte sie auch ein merkwürdiges Gefühl von Stolz, als sie Tony schweratmend anblickte: „Ich hab´ sie, Tony! Ich hab´s geschafft!“

„Gut gemacht, Kleines, sehr gut gemacht.“ Tony meinte das wirklich ehrlich, denn in Anbetracht dessen, wie labil Anna´s Gemütszustand generell und durch diese Tage der Gefangenschaft im Besonderen war, hielt sie sich wirklich außerordentlich tapfer. Nach dem, was er von ihr wusste, wollte er lieber gar nicht näher darüber nachdenken, was er der jungen Frau mit dieser kleinen Aufgabe zugemutet hatte.

Die junge Frau warf einen letzten gehetzten Blick auf den Toten, bevor sie ihre Augen von ihm losriss und hinüber zu Tony eilte. Wenige Augenblicke später hatte sie die Handschellen aufgeschlossen und zum ersten Mal seit Tagen war der Agent die quälenden Stahlbänder los. Er stieß ein erlöstes Seufzen aus, als er endlich seine Arme nach vorne nehmen konnte. Er versuchte seine schmerzenden Schultern zu lockern und fuhr sich mit tauben Fingern über die aufgerissenen Handgelenke. Dann beugte er sich vor, nahm Anna´s Hände sanft in die seinen und sah ihr erleichtert in die Augen. „Ich bin so stolz auf dich!“

„Ja?“, fragte Anna zaghaft und zog überraschenderweise ihre Hände nicht weg.

Tony ließ eine Hand los und klopfte einladend auf den staubigen Boden neben sich: „Komm her, setz´ dich ein wenig zu mir. Ich muss mich noch ein bisschen erholen und wäre dafür, dass du etwas auf mich aufpasst. Ich glaube, ich habe Fieber und will nicht, dass sich mein Zustand weiter verschlimmert. Okay?“

„Ja, ja, sicher. Mach dir keine Sorgen – ich passe auf.“

„Und wenn ich ein wenig geschlafen habe, dann machen wir uns ein paar Gedanken, wie wir am besten von hier wegkommen. Was hältst du davon?“

Umständlich rückte Anna an Tony´s Seite und lehnte sich dann wie selbstverständlich mit dem Kopf an seine Seite. „Was ich davon halte?“, fragte sie leise. „Eine Menge – ehrlich, davon halte ich eine ganze Menge.“ Sie schenkte dem Mann an ihrer Seite ein kleines Lächeln und wunderte sich über sich selber. Sie fürchtete sich seit Monaten vor Nähe, aber vor Tony´s Nähe hatte sie keine Angst. Sie fühlte sich sogar zu ihm hingezogen – nicht sexuell, nein, ganz sicher nicht – mehr so, wie zu einem großen Bruder. Das hatte schon in der Klinik angefangen und das Gefühl hatte sich während ihres schrecklichen Abenteuers noch verstärkt. Bei Tony fühlte sie sich einfach wohl – so grotesk das einem auch angesichts ihrer momentanen Situation vorkommen mochte. Sie warf einen Seitenblick auf Tony, dessen regelmäßige Atemzüge ihr verrieten, dass er wohl tatsächlich eingeschlafen war. Ein stolzes Lächeln erschien auf ihren Lippen und sie strich schnell einmal unbeholfen über seine von Bartstoppeln gespickte raue Wange. „Schlaf“, sagte sie dabei leise. „Schlaf wird dir gut tun – ich kann ja inzwischen schon mal nachdenken.“


Etwa 21.30 Uhr – In der Nähe des Motels

Eine dreiviertel Stunde nachdem Rebekka die Weitläufigkeit der Everglades verlassen hatte, befand sie sich bereits im Stadtgebiet von Miami, nur noch zwei Straßen von ihrer schäbigen Unterkunft mit dem schmierigen Motelbetreiber entfernt. Ihr war nicht entgangen, dass er sie beobachtet hatte, aber das hatte er getan, um sich aufzugeilen, nicht weil er einen Verdacht gegen sie hatte. Hmm, vielleicht sollte sie ihn auch umbringen – nur so zum Vergnügen – überlegte sie. Sie könnte ihm seine Genitalien abschneiden und ihn so für seine ekelhafte Geilheit bestrafen. Natürlich bevor sie ihm dann endgültig den Garaus machte. Wenn schon, denn schon! Die Gedanken daran jagten der Israelin einen wohligen Schauer über den Rücken, der sich jedoch unvermittelt in ein eisiges Gefühl verwandelte, als sie in die Straße einbog, in der sich das Motel befand. Irgendetwas stimmte hier nicht, ganz und gar nicht, dieses untrügliche Gefühl ließ sie plötzlich nicht mehr los und versetzte sie in einen Zustand allerhöchster Alarmbereitschaft. Langsam lenkte Rebekka den Wagen in eine Parklücke und schaltete Motor und Licht aus. Aufmerksam ließ sie ihren Blick über die ganze Straße schweifen. Das Motel lag noch mindestens 150 m weiter hinten und es war nichts Verdächtiges zu sehen, trotzdem war sie nach wie vor stark beunruhigt. Sie rutschte auf den Beifahrersitz, öffnete leise die Tür und glitt geschmeidig nach draußen. Die Tür drückte sie vorsichtig wieder zu. Dann schlug sie sich in die Büsche am Rande der Straße und verschmolz mit der Dunkelheit. Langsam pirschte sie sich vorwärts – Meter für Meter.

Und da war er! Plötzlich sah sie ihn. Nur schemenhaft konnte sie die Umrisse einer Gestalt im Schatten eines Gebäudes ausmachen. Die Gestalt stand genau so, dass sie den Eingang zu ihrem Motelzimmer beobachten konnte. Regungslos kauerte Rebekka zwischen den Büschen und suchte die weitere Umgebung ab. Fast 10 Minuten später hatte sie damit wiederum Erfolg. Ein zweiter Mann hatte sich in einer Wandnische versteckt und beobachtete die Rezeption und den Platz vor ihrem Zimmer. Sie hatte ihn nur entdeckt, weil er sich einmal kurz gedehnt hatte. Anscheinend stand er schon ziemlich lange da und seine Gelenke waren steif geworden.

Sie hatten sie also gefunden und wollten ihr nun eine Falle stellen. Was glaubten diese Idioten denn? Dass sie sie einfach so einkassieren könnten, wenn sie zurück zum Motel käme? Ein böses Grinsen huschte über ihr Gesicht. Gott, wie naiv waren diese Bullen denn? Sie würde in keine Falle tappen, nicht sie, Rebekka Rivkin! Ein unbändige Wut packte sie – nicht, weil man ihr Versteck gefunden und sie enttarnt hatte, sondern vielmehr, weil dieses Bullenpack sie für so entsetzlich naiv hielt. Wie konnten sie nur? Wussten die denn, verdammt noch mal, immer noch nicht, mit wem sie es zu tun hatten?

Rebekka zog sich noch ein wenig weiter zurück und verschmolz völlig mit der Dunkelheit. Jetzt galt es zu überlegen, ob sie die beiden dämlichen Cops ausschalten und in ihr Zimmer zurückkehren sollte. Ihre ganzen Sachen waren dort! Doch das war nicht risikolos! Es wäre möglich, dass noch mehrere Polizisten irgendwo lauerten und sie wollte nicht unnötig die Pferde scheu machen. Außerdem wusste sie nichts über deren Anweisungen. Vielleicht mussten sich die Männer ja stündlich bei einer Zentrale melden und wenn eine Meldung ausblieb, würde womöglich eine ganze Einheit antanzen. Ob der Motelbesitzer sie wohl verzinkt hatte? Rebekka schüttelte ungehalten über sich selbst den Kopf. Es war müßig, sich darüber jetzt den Kopf zu zerbrechen. Sie schickte noch einen bitterbösen Blick in Richtung der beiden Gestalten: „Ihr hab Glück, seit heute könnt ihr zweimal im Jahr euren Geburtstag feiern“, raunte sie, dann drehte sie sich vorsichtig um und schlich zu ihrem Auto zurück. Eine größere Summe Geld, Ausweise und Waffen hatte sie bei sich, getreu ihrem Motto, immer auf alles vorbereitet zu sein. Alles andere war ersetzbar. Das war zwar lästig und kostete Zeit, aber es war nicht zu ändern. Ihr Entschluss stand fest: Sie würde diesen Kerlen ihr armseliges Leben lassen und lieber unbemerkt verschwinden. Sicher war sicher! Sie war so kurz davor – vor ihrem phänomenalen Triumph. Sie brauchte nur noch einen Tag – einen lächerlichen Tag. Nichts, aber auch rein gar nichts, sollte sie jetzt noch an ihrem geplanten Finale hindern!

 

85. Kapitel

22.18 Uhr – Bei Ziva – Verzweiflung

Ziva lag auf ihrem Bett und starrte im Zwielicht des durch das Fenster einfallenden Mondlichtes an die Decke. Sie war erschöpft und müde und doch wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Ihre Gedanken kreisten um die Geschehnisse des Tages. Warum nur schien sich alles gegen sie verschworen zu haben? Warum nur konnte sie keine Spur des Mannes finden, den sie liebte? – Tony!? Wo bist du nur?, dachte sie einmal mehr verzweifelt und blinzelte energisch die aufsteigenden Tränen zurück. Wenn sie hier nur herum lag und heulte, half sie Tony ganz sicherlich nicht. Nein, sie musste Fassung bewahren und versuchen, logisch und rational zu denken. Sie war ihm doch heute schon einmal ganz nah gewesen – emotional nah. Doch war es wirklich logisch und rational anzunehmen, dass diese Emotionen sie zu seinem Versteck führen würden? Nein, die anderen würden sie mit Sicherheit auslachen, wenn sie damit ankäme. Also, Ziva, überleg gefälligst, befahl sie sich. Was können wir noch unternehmen, um Tony und diese Anna zu finden?

Die Israelin atmete einmal tief durch und schloss die Augen. Ihre Gedanken glitten wiederholt zurück zu einem Geschehnis während der Besprechung vor zwei Stunden. Sie hatte ganz plötzlich das untrügliche Gefühl gehabt, Tony würde nach ihr rufen. Fast wäre sie aufgesprungen und hätte sich nach ihm umgeblickt, aber sie hatte sich zur Ruhe gezwungen und nur verstohlen umgeschaut. Und doch hatte sie diese Stimme überdeutlich in ihrem Kopf vernommen. In Gedanken hatte sie geantwortet, gerufen: `Ja, ich bin da! Liebling – wo bist du? Sag mir, wo du bist!´, aber eine Antwort auf ihre Frage hatte sie natürlich nicht bekommen. Doch in diesem Moment hatte sie sicher gewusst, dass Tony noch lebte – dass er auf sie wartete! Einen Augenblick lang hatte sie eine Woge des Glücks überrollt, doch gleich darauf hatte sie eine unbändige Angst gepackt, weil sie fühlte, dass die Stimme, die so verzweifelt nach ihr rief, total am Ende war. Es bliebt ihnen nicht mehr viel Zeit…

Irgendwo da draußen in den endlosen Everglades war Tony - er wartete auf sie, hoffte mit aller Macht darauf, dass sie ihn finden und retten würde. Und sie lag hier in ihrem Zimmer und war absolut machtlos. Vor Verzweiflung hieb sie mit ihrer Faust auf die Matratze und setzte sich ruckartig auf. Sie griff nach einem Glas Wasser, das auf ihrem Nachttisch stand und trank es in einem Zug aus. Dann drehte sie es langsam hin und her und betrachtete es gedankenverloren, ohne es jedoch bewusst wahrzunehmen. Morgen – ja morgen mussten sie endlich einen Durchbruch erzielen. Sie mussten ihn finden – sie mussten einfach! Bevor es womöglich für alle Zeit zu spät war…


23.05 Uhr – Bei Rebekka – Genialität oder Wahnsinn?

Langsam mit abgeblendetem Licht rollte der Wagen auf die kleine Lichtung, die sie in den letzten beiden Tagen stets als Versteck benutzt hatten. Nur fuhr Rebekka dieses Mal einfach in das dichte Schilf hinein, in der Hoffnung, dass sie die niedergedrückten Halme gleich wiederum aufrichten und so das Auto tarnen konnte. Gestern noch hatte Caulder das Röhricht zur Seite gedrückt, aber er war ja nicht mehr da. Etwas widerstrebend stieg Rebekka aus dem Fahrzeug und begann, den Bereich, in dem sie gleich beginnen musste, das Schilf aufzurichten, mit einer Taschenlampe auszuleuchten. Der Gedanke, hier unfreiwillig mit irgendeinem, womöglich giftigen oder gefährlichen Tier Bekanntschaft zu machen, behagte ihr gar nicht. Schließlich hatte sie es geschafft, der Wagen war wieder so gut wie unsichtbar. Mit einem unwilligen Prusten reagierte sie auf das nachhaltige Knurren ihres Magens und setzte sich zurück in ihr Auto. Ärgerlich betrachtete sie die Schoko- und Müsliriegel, die sie aus einem Automaten bei einer kleinen Tankstelle kurz außerhalb Miamis gezogen hatte. Etwas Handfestes wäre ihr bedeutend lieber gewesen, aber sie wollte nicht riskieren, dass sie bei einem Einkauf in einem Geschäft womöglich auf einem Fahndungsfoto erkannt werden würde, von denen mit Bestimmtheit schon welche im Umlauf waren, dessen war sie sich sicher. Nicht dass sie vor einem lächerlichen Verkäufer Angst hätte, aber bis zur Beendigung ihrer Mission wollte sie dann doch lieber unsichtbar bleiben und ein Mord würde zum jetzigen Zeitpunkt – wo die Bullen sowieso schon auf der Suche nach ihr waren - mit Sicherheit eine Menge überflüssiges Aufsehen erregen und das konnte sie im Moment überhaupt nicht brauchen. Nein, es war sicherlich besser, wenn sie sich noch zurückhielt – schließlich wollte sie das Gefühl der Genugtuung, dass ihr DiNozzo´s Tod bescheren würde, nicht riskieren. Wenn sie diesen Schwächling erst einmal in die ewigen Jagdgründe geschickt hatte, dann…ja, dann konnte sie nichts mehr zurückhalten. Dann würde sie dem Miaimi PD schon zeigen, mit wem sie sich da angelegt hatten. Dann kam es ihr auf ein Feuergefecht mehr oder weniger auch nicht mehr an. Nach wie vor hegte sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie mit heiler Haut davonkommen würde.

Rebekka schälte den ersten Müsliriegel aus seiner Verpackung und aß ihn mit wenig Begeisterung. Nach wie vor war es ihr ein Rätsel, wie man sich von so einem Zeug ernähren konnte. Nun gut, zumindest würden ihr die Süßigkeiten genug Energie liefern, dass sie am nächsten Tag ihr Werk vollenden könnte. Sie war in der Vergangenheit schon mit wesentlich weniger an Nahrung ausgekommen. Hauptsache, sie hatte genügend zu trinken, denn Flüssigkeitszufuhr war bei den Temperaturen, die hier sogar nachts herrschten, unerlässlich. Aber was das anging, brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, denn sie hatte sich neben den Snacks auch gleich noch ein paar Flaschen Diät-Cola und Wasser aus dem Automaten besorgt. Im Augenblick musste sie einfach noch ein bisschen die Zähne zusammenbeißen – sie war bereit, alles der Vollendung ihrer Mission unterzuordnen. Was bedeutete, dass es ihr nicht schmecken musste – es musste einfach nur den Umständen genügen.

Nur dass sie nach diesem heißen langen und anstrengenden Tag nicht ausgiebig duschen und sich den staubigen Schweiß vom Körper waschen konnte, machte sie entsetzlich wütend. Noch mehr, als die Tatsache, dass sie die Nacht hier im Auto verbringen musste und sich nicht in einem bequemen Bett für die Aufgaben des kommenden Tages ausruhen konnte. Tief atmete Rebekka die Luft durch die Nase ein und schnaubte gleich darauf angewidert, als sie dabei ihren eigenen Körpergeruch wahrnahm. Sie stank und es gab kaum etwas, was sie mehr hasste. Sie schwor sich, dass sie das alles noch mit auf DiNozzo´s Rechnung setzen würde und bei Gott, die würde nicht nur Tony allein bezahlen – nein – wenn sie mit ihm fertig wäre, würde sie sich den anderen Mitgliedern seines Teams widmen, an erster Stelle natürlich Ziva. Das war – nach all dem, was sie hier gerade erdulden musste – nicht mehr wie recht und billig. Selbst wenn Tony davon nichts mehr mitbekommen würde. Zu schade eigentlich, aber anders würde es sich wohl kaum regeln lassen.

Die Gedanken daran, was sie mit ihrer erklärten Feindin alles anstellen wollte, ließ Rebekka böse lächeln. Ziva David würde noch bitter bereuen, sich mit ihr angelegt zu haben – bald schon würde sie sich wünschen, den Namen Rebekka Rivkin nie gehört zu haben. Eine verweichlichte Verräterin an ihrem Vaterland war sie – und Eli David sollte sich eigentlich ihr gegenüber dankbar zeigen, wenn sie ihn von dieser Schmach von Tochter befreite. Wer weiß…vielleicht war er das ja sogar – auch wenn er das natürlich offen nie zugeben würde, wie das Verhalten gezeigt hatte, das er an den Tag gelegt hatte, als sich seinerzeit die Situation in DC zugespitzt hatte – letztlich hatte er sogar Gibbs und seinen Leuten geholfen. Unglaublich, wenn man bedachte, welche Position der Mann innehatte … vielleicht sollte sie sich langfristig sogar um ihn kümmern??? Rebekka seufzte tief, während sie sich mit einem Schluck Wasser einige Krümel aus dem Mund spülte und sich danach provisorisch mit dem Zeigefinger über die Zähne fuhr, um wenigstens ein Mindestmaß an Körperhygiene zu absolvieren. Du meine Güte, erkannte denn niemand außer ihr wo das hinführte? DiNozzo, der Mörder ihres Bruders! Ziva David, eine miese, feige Vaterlandsverräterin! Eli David, ein gefühlsduseliger, verweichlichter Mann in wichtiger Position, der seine Tochter über seine Aufgaben stellte! Dazu eine ganze Horde fehlgeleiteter Agents und Polizisten – jetzt sogar noch vom Miami PD! Himmel, musste sie sich wirklich um alles kümmern? Nur gut, dass sie Niemandem Rechenschaft schuldig war und eine Menge Zeit zur Verfügung hatte. Doch jetzt musste sie erst einmal die angefangene Mission zu Ende bringen – dann konnte sie Pläne für die Nächste schmieden. Etwas zu überstürzen hatte noch nie etwas gebracht. Alles zu seiner Zeit – immer schön eins nach dem anderem – damit war sie bislang immer hervorragend gefahren und genauso würde sie auch weiter machen.

Schon weitaus zufriedener kletterte Rebekka umständlich auf die Rückbank des Kleinwagens und machte es sich so bequem wie möglich. Sie stellte den Alarmknopf an ihrer Armbanduhr auf vier Uhr morgens. Da würde es zwar noch dunkel sein, aber sie wollte unbedingt noch vor dem Morgengrauen mit dem Boot unterwegs sein, denn mit Sicherheit würde das Miami PD auch am nächsten Morgen wieder aus der Luft nach ihr suchen, da machte sie sich nichts vor. Egal! Mochten sie ruhig glauben, dass sie es schlau anstellten – sie war schlauer. Sie würde da bereits am Ziel sein, und zwar noch bevor der Hubschrauber bei Tageslicht vom Boden abhob!

86. Kapitel

23.10 Uhr – Auf der Insel

Ein Geräusch hatte Tony geweckt und erschrocken und im ersten Moment verständnislos blickte er sich um. Anna kniete vor ihm und sah ihn besorgt an. „Entschuldige, ich wollte dich nicht aufwecken“, murmelte sie schuldbewusst. „Tut mir Leid.“

Nur mühsam gelang es dem Grünäugigen seine wirren Gedanken zu ordnen. Das Fieber, das er mittlerweile eindeutig hatte, verschlechterte sein Befinden noch zusätzlich. Stöhnend setzte er sich ein wenig auf, bevor er heiser antwortete: „Nicht … nicht so schlimm. … Aber … wir haben doch geschlafen, oder? Ist etwas passiert?“ Ein eiskalter Schreck durchfuhr ihn und er riss panisch die Augen auf: „Kommt sie etwa schon zurück?“

„Nein! – Nein, bleib ruhig, du musst dir keine Sorgen machen.“ Mit einem kleinen triumphierenden Lächeln reichte Anna Tony eine volle Wasserflasche. „Hier – etwas zu trinken!“ Als Tony nur zitternd den Kopf schüttelte, drückte sie ihrem neugewonnenen Freund die Flasche überraschend energisch in die Hand. „Doch! Du musst trinken – schon allein wegen des Fiebers. Du verlierst sonst zu viel Flüssigkeit. – Hör zu: Während du geschlafen hast, habe ich nachgedacht. Wie wir von hier wegkommen – wie du gesagt hast.“ Sie griff nochmals nach der Flasche, drehte den Verschluss auf und gab sie Tony wieder in die Hand. „Bitte“, bat sie leise. „Du hast doch gesagt, wir müssen uns jetzt zusammenreißen und dürfen nicht schlapp machen. Also trink bitte. Wenigstens ein bisschen“, forderte sie mit strenger Stimme, während sie Tony´s flackernden Blick versuchte zu fixieren. Sie ahnte, wie schlecht es ihm gehen musste, aber sie wusste auch, dass sie ihm jetzt nicht seinen Willen lassen durfte. Erleichtert registrierte sie gleich darauf, wie Tony klein beigab, matt die Flasche an die Lippen setzte und zwei, drei kleine Schlucke zu sich nahm, wobei ihm das Schlucken offensichtlich immer noch schwer fiel, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Instinktiv spürte die Blonde, dass jetzt sie gefordert war. Im Augenblick musste sie die Starke von beiden sein und Tony wieder aufbauen. Also tat sie so, als hätte sie sein Zögern gar nicht bemerkt und fuhr anscheinend unbeeindruckt fort: „Wie wir hier fortkommen sollen, weiß ich leider nicht, aber ich habe mich plötzlich daran erinnert, dass … er…“ Sie deutete kurz mit abgewandtem Gesicht auf den Leichnam von Caulder, bevor sie weiter sprach. „…am Nachmittag, als sie dich beobachtet haben, wie du in der Sonne …“

Anna stockte und ließ das Ende des Satzes offen, doch Tony wusste auch so, was sie meinte. „Du meinst, als sie mich beim „Braten“ beobachtet haben“, resümierte er bitter, wobei die Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme deutlich hervortrat.

Anna blickte zu Boden, dann sah sie ihm wieder in die Augen: „Ja, … dabei…“, bestätigte sie leise, doch dann straffte sie sich. „Die beiden haben ziemlich oft etwas zu trinken aus einer Kühltasche geholt. Nachdem du fest eingeschlafen warst, war ich kurz draußen und stell´ dir vor – die Bestie hat die Tasche nicht mitgenommen, als sie mit dem Boot weggefahren ist! Sie hat sie tatsächlich vergessen! Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ihre Absicht war. Ich wollte fast meinen Augen nicht trauen, als ich die Box da im Gestrüpp stehen sah. Eigentlich hatte ich ja darauf gehofft, wenigstens eine Flasche mit einem Rest Wasser drin zu finden, aber gleich die ganze Box! Es waren noch drei volle Flaschen drin und zwei angetrunkene habe ich auch noch draußen herumliegend gefunden. Also trink! Es ist erstmal genügend da und du brauchst die Flüssigkeit dringend!“ Glücklich sah sie Tony an, der sich ergebend nickte und langsam Schluck für Schluck das wertvolle Nass seine schmerzende Kehle hinunterlaufen ließ. Er hatte die Augen geschlossen und umklammerte die Flasche mit beiden Händen wie einen kostbaren Schatz – der die Flasche in ihrer Situation ja auch wirklich war – auch wenn jeder Schluck für ihn eine Qual bedeutete wusste er, dass Anna Recht hatte mit dem, was sie sagte. Plötzlich wurde ihm mit einem Mal klar, was seine Leidensgefährtin ihm da gerade offenbart hatte. Mühevoll öffnete er die Augen und musterte die blonde Frau überrascht.

„Anna! … Du warst tatsächlich ganz allein da draußen und hast im Gebüsch nach den Flaschen gesucht? Hattest du denn keine Angst vor … Schlangen oder anderem Viehzeug?“ Ungläubig starrte er sie an.

Fast scheu erwiderte sie seinen Blick. „Doch – natürlich hatte ich Angst. … Aber ich musste es tun. Du … du brauchst doch meine Hilfe…“ Zögernd legte sie eine Hand auf seine Stirn und fühlte, wie heiß sie war, während es Tony gleichzeitig schon wieder durchschüttelte. „Du hast ziemlich hohes Fieber, deine Wunden haben sich entzündet – du musstest unbedingt etwas zu trinken bekommen, damit du wieder ein bisschen zu Kräften kommst. Ich hatte keine Wahl. Ich konnte doch nicht zulassen, dass du morgen…wenn sie wiederkommt…du weißt schon…“, schloss sie leise. „Ich brauche dich doch. Ohne dich haben wir keine Chance.“

„Tapferes Mädchen“, flüsterte der Agent mit immer noch rauer Stimme, doch sein Hals fühlte sich, nachdem er endlich ausgiebig hatte trinken können, gleich viel besser an. „Das war sehr mutig von dir – besonders, wo du wusstest, dass die Schlange, die Caulder umgebracht hat, immer noch irgendwo dort draußen ist. Ich bin stolz auf dich!“

Glücklich sah ihn Anna an: „Diese Bestie hat deinen Ex-Kollegen umgebracht – die Schlange war lediglich ihr Werkzeug. Ich denke, das arme Tier hat für heute auch genug Aufregung gehabt“, schloss sie lächelnd. Tony´s Lob bedeutete ihr sehr viel, denn es hatte sie doch eine Menge Überwindung gekostet, dort draußen im Dunkeln alleine nach dem Wasser zu suchen, aber sie hatte es geschafft und ihren inneren Schweinehund, der sie zwischendurch immer wieder hatte zum umkehren zwingen wollen, überwunden. Und wenn sie das geschafft hatte, schaffte sie vielleicht sogar ja noch mehr. Nach der kurzen Pause, in der sie ihren Gedanken nachgehangen hatte, deutete Anna auf die halbleere Flasche: „Du kannst sie ruhig austrinken, Tony. Das solltest du sogar! Es sind ja noch zwei Flaschen da. Du brauchst die Flüssigkeit, glaub mir.“

„Und was ist mit dir?“, fragte DiNozzo mit fiebrig glänzenden Augen. „Du musst doch auch was trinken.“

Er war so lieb zu ihr – so fürsorglich. Anna zog es das Herz schmerzhaft zusammen, als sie sich einmal mehr bewusst machte, was Tony für ein Glücksfall für sie war. Trotzdem log sie ihn in diesem Moment ohne jegliches schlechtes Gewissen an: „Ich habe schon getrunken – eben draußen.“ Als sie seinen zweifelnden Blick bemerkte, setzte sie mit fester Stimme hinzu, „Doch, ehrlich. Ich habe eine der angetrunkenen Flaschen leer gemacht. – Und nun trink – aber mach langsam, sonst wird dir schlecht. Die anderen können wir uns ja für später aufheben.“

„Okay – Doc!“, antwortete Tony mit einem kleinen Lächeln und nahm zum ersten Mal seitdem er wach geworden war, einen genüsslichen Schluck zu sich. „So…“, sagte er dann …jetzt wird es aber Zeit, dass wir an unserem Fluchtplan arbeiten. Ich hätte da schon eine Idee. Hör zu…“



1.25 Uhr – Im Hotel der NCIS-Agents

Seit geraumer Zeit hoffte der Barkeeper des Hotels, in dem das Miami PD die NCIS-Agents untergebracht hatte, endlich Feierabend machen zu können, doch der grauhaarige Mann, der sich zu später Stunde noch einsam an seinem Tresen eingefunden hatte und seitdem grüblerisch mit grimmiger Miene stumm seinen Gedanken nachhing, bestellte stur einen Bourbon nach dem anderen, stierte auf die goldgelbe Flüssigkeit in seinem jeweiligen Glas und machte nicht den Eindruck, dass er sich bald zur Nachtruhe begeben wollte. Von Natur aus ein höflicher Mensch wartete der Barkeeper darauf, dass der Mann mitteilsam wurde, denn jahrelange Erfahrung in seinem Job hatten ihn gelehrt, dass dies für gewöhnlich der Fall war. Im Laufe der Zeit war der Mann Mitwisser vieler privater und intimer Geheimnisse geworden und hatte Anteil an einer Menge persönlicher Katastrophen genommen, doch der schlanke Mann in den 50-ern strafte alle seine Vorgänger an der Bar Lügen, der er schwieg hartnäckig.

Nachdem der Barkeeper schließlich fast alle Gläser hinter seinem Tresen auf Hochglanz poliert hatte, tauchte zu seinem großen Entsetzen tatsächlich noch ein zweiter, deutlich jüngerer Mann, in seiner Bar auf. Er betrat den Raum und wandte sich eigentlich zunächst in Richtung des Kaffeeautomaten, der links an der Wand stand und für alle da war, denen die Minibar in ihren Zimmern nicht genügend Abwechslung oder nicht das Richtige bot, aber als er aus den Augenwinkeln den Grauhaarigen an der Theke bemerkte, änderte er schlagartig die Richtung und bewegte sich ebenfalls auf die Bar zu. Zunächst schweigend setzte er sich auf den Barhocker neben den Älteren und blickte stumm und mit frustriertem Gesicht einfach nur nach vorne in den Spiegel, wo sich seine Blicke mit denen des Älteren trafen. Ein leichter Rippenstoß mit dem Ellbogen traf ihn von rechts, woraufhin der Jüngere schließlich fragte:

„Kannst du auch nicht schlafen, Boss?“

„Sieht so aus, Elfenkönig“, war die kurze Antwort. Ein leichtes Nicken in Richtung Glas folgte: „Auch einen?“

„Bourbon?“

„Was sonst?“

„Warum nicht…“

Der Barkeeper, der still abgewandt an seiner Spüle stand und mit einem Tuch wienerte, wo es schon längst nichts mehr zu wienern gab, verstand die Aufforderung und gleich darauf stand ein zweites Glas gefüllt auf dem Tresen. Der mit Elfenkönig titulierte junge Mann griff danach und ließ die Flüssigkeit im Glas nachdenklich ein paar Mal hin und her schwenken, bevor er das Glas schließlich einfach wieder abstellte.

„Das, McGee, ist ein Getränk! Ich muss dir ja wohl kaum sagen, wie man das zu sich nimmt, oder?“, kam prompt der bissige Kommentar von rechts.

„Nein.“

„Na also, dann trink endlich!“

„Nein.“ McGee schob das Glas zur Seite und forderte dann leise: „Boss, sag mir, dass wir es dieses Mal auch wieder hinbekommen!“

Gibbs drehte sich jetzt ein wenig, so dass er McGee genau ins Gesicht blicken konnte. „Das kann ich nicht und das weißt du sehr gut.“

„Hmm…“ McGee griff jetzt doch nach seinem Glas und stürzte den Inhalt in einem Zug seine Kehle hinunter. Gleich darauf bekam er einen mittelprächtigen Hustenanfall, den sein Boss mit heftigem Klopfen auf den Rücken seines Agents unter Kontrolle zu bekommen versuchte, wobei ein winziges Lächeln über sein Gesicht huschte. „Verdammt!“, prustete der Jüngere und schnappte nach Luft. „Ehrlich, am Liebsten würde ich dieses Miststück umbringen. Einfach abknallen und das war´s dann!“

„Dazu müssten wir sie erst einmal vor die Mündung bekommen“, konstatierte der Ältere trocken.

„Ach, das ist doch Scheiße!“

„Da wiederum gebe ich dir völlig recht.“

„Okay, warten wir also bis sie uns vor die Mündung läuft, oder wie?“, schnappte Tim. Es gab Momente, da regte ihn die Einsilbigkeit seines Chefs total auf und dies war mit Sicherheit ein solcher Augenblick!

Der Barkeeper verharrte mit hochgezogenen Augenbrauen regungslos vor der Spüle und wartete gespannt auf die Antwort. Das war mit Abstand die abgedrehteste Unterhaltung, die er in seiner langjährigen Laufbahn in diesem Hotel mitbekommen hatte. Was ging hier bloß ab? Planten die beiden womöglich einen Mord, oder was?

„Nein“, antwortete da der Grauhaarige zur grenzenlosen Erleichterung des Barkeepers und legte einen Geldschein auf den Tresen, bevor er schließlich aufstand und den Jüngeren am Arm packte. „Wir werden zur Abwechslung einmal genau das tun, was andere uns sagen. Glaub mir, es gefällt mir genauso wenig wie dir, aber es ist unter den gegebenen Umständen einfach das Vernünftigste. Und Lt. Caine weiß offenbar was er tut. Du bist schließlich derjenige, der den Mann gegoogelt und mir bestätigt hat, dass er gut ist, in dem, was er tut.“

„Jaaa, das ist er ja auch! Es ist nur…“ Tim strich sich verzweifelt die Haare nach hinten.

„Was, McGee? Was ist los?“

„Abby! Sie macht mich wahnsinnig!“, gestand der jüngere Agent seinem Boss. „Ich weiß einfach nicht mehr, was ich ihr sagen soll!“

„Dann lass dir gefälligst was einfallen!“

„Aber…aber Boss…!“

„Los, McGee, ab ins Bett – wir brauchen Schlaf – morgen könnte ein harter Tag werden.“

„Was ist mit Ziva?“

„Ziva macht es richtig, oder siehst du sie hier? Sie liegt schon lange in ihrem Bett und schläft – und genau das werden wir jetzt auch tun. Komm jetzt!“

Der letzte knapp gebellte Befehl des Grauhaarigen gab zur Erleichterung des Barkeepers den Ausschlag. Der jüngere Mann setzte sich endlich in Bewegung und folgte seinem Chef mit hängenden Schultern. Endlich! Gott bewahrte ihn davor, dass hier womöglich noch eine dritte völlig durchgeknallte Person auftauchte und sich ihrem Frust hingab. Feierabend!

 

87. Kapitel

5.29 Uhr – Aufbruch zum Showdown

Rebekka erwachte früh und quälte sich mühsam und mit steifen Gliedmaßen aus dem Wagen. Nach einem herzhaften Fluch reckte sie die Arme über den Kopf und streckte sich erst einmal ausgiebig, bevor sie sich schließlich zähneknirschend daran machte, die durch das Bewegen der Autotür in Mitleidenschaft gezogene Tarnung des Wagens wieder korrekt herzustellen. Nach wie vor musste sie darauf achten, dass das Auto von der Straße aus nicht direkt auffiel. Die Fahndung nach ihr lief auf Hochtouren, da machte sie sich nichts vor und sie wollte verdammt sein, wenn ihr irgend so eine dämliche Streifenwagenbesatzung so kurz vor dem Finale noch dazwischenfunkte.

Als sie schließlich ein paar Schritte vom Wagen zurücktrat, um die Ergebnisse ihrer Arbeit zu überprüfen, war ihre Laune denkbar schlecht. Nach der unbequemen Nacht, die sie auf der Rückbank ihres Autos hatte verbringen müssen, spürte sie jetzt sämtliche Knochen in ihrem Körper – und das, obwohl sie doch wirklich durchtrainiert war. Zum wiederholten Male rollte die Israelin ihren Nacken hin und her, aber das verspannte, steife Gefühl wollte einfach nicht weichen. DiNozzo! Daran war bloß dieser verdammte Mistkerl von Anthony DiNozzo schuld, soviel war mal klar. Dafür würde sie ihm ein paar extra Foltereinheiten zukommen lassen, bevor sie ihn heute endlich in die ewigen Jagdgründe schicken würde. Mit einem bösen Lächeln auf den Lippen dachte sie an das Päckchen Salz, das sie gestern auf dem Weg nach Miami noch schnell in einem dieser 24-Std.-Supermärkte erstanden hatte. Oh ja, das würde ihr heute noch gute Dienste leisten und eins war mal sicher: Sie brauchte das Salz nicht zum Kochen! Es würde ihr andere, sehr gute, und für DiNozzo mit Sicherheit sehr schmerzhafte, Dienste leisten.

Leider war das im Moment noch der einzige Lichtblick, den dieser Tag ihr bislang bot und als Rebekka an die Tour dachte, die sie nun gleich vor sich hatte, erstarb das böse Lächeln und verwandelte sich eine hassverzerrte Grimasse. Sie hätte doch auf der Insel übernachten sollen – es war ein Fehler gewesen, nur wegen des Verlangens nach Essen und einer heißen Dusche, das sichere Versteck zu verlassen und ihre Geiseln sich selber zu überlassen. Gut, dass es bald überstanden war – sie lief schon Gefahr, genauso verweichlicht zu werden, wie diese Amerikaner. Sobald sie ihre Mission erledigt hatte und außer Landes war, würde sie sich zuallererst einmal selber einer strengen Tortur unterziehen. Gott bewahre, dass sie so wurde, wie diese verdammten Amis! Caulder, dieses Weichei, war definitiv nicht gut für sie gewesen. Sie hatte sich von ihm allzu leicht dazu verleiten lassen, sich den Bequemlichkeiten, die einem das Leben bieten konnte, hinzugeben. Das hatte sie nun davon – wäre sie auf der Insel geblieben, dann könnte sie sich jetzt ohne weitere Verzögerung ihren Opfern widmen, aber dank Sam Caulder war dies leider nicht möglich. Gut, dass er tot war – er hatte es verdient! Tot??? Plötzlich drängte sich Rebekka ein äußerst unwillkommener Gedanke auf und ließ sich zu ihrem allergrößten Ärger nicht mehr abschütteln. Ihre Geiseln…was sollte sie tun, wenn…? Verdammt! Wenn sie die Geschehnisse von gestern noch einmal vor ihrem geistigen Auge Revue passieren ließ…DiNozzo hatte gar nicht gut ausgesehen, als sie ihn und dieses Flittchen gestern verlassen hatte. Was, wenn er die Nacht nicht überlebt hatte? Wenn er ihr schlicht und ergreifend zuvorgekommen und einfach gestorben war? Nicht auszudenken! Nein, das durfte einfach nicht sein! Sie! Nur sie alleine wollte bestimmen, wann dieses Arschloch seinen letzten Atemzug tun durfte!

Ein ärgerliches Grunzen kam über die Lippen der Israelin, während sie sich umschaute. Ihre Gedankengänge hatten ihr eines glasklar vor Augen geführt. Ihr ursprünglicher Plan bedurfte dringend einer Nachbesserung. Ursprünglich hatte sie ja vorgehabt, den Morgen und somit das erste Tageslicht abzuwarten, damit sie sich in diesem für sie gefährlichen und unbekannten Sumpfterrain besser zurechtfand. Doch der Gedanke, dass DiNozzo sich ihrer Rache womöglich feige entzog, trieb Rebekka auf einmal hektisch an. Es galt! Sie durfte keine weitere Sekunde vergeuden! Was bedeutete schon ein wenig Gefahr, wenn sie dafür später so unendlich belohnt werden würde. Und bei Gott: DiNozzo würde sie belohnen, dafür würde sie schon sorgen. Er würde schreien, um Gnade winseln und sich im Staub wälzen, aber es würde ihm alles nichts nützen. Schon jetzt zitterte sie beim bloßen Gedanken daran, wie er seinen letzten Atemzug tat. Wie das Leben in seinen grünen Augen erlosch und sie gleich darauf nur noch tot und seelenlos vor sich hin starrten. Wie seine Gliedmaßen in sich zusammenfielen und schlaff wurden. Wie der Mörder ihres geliebten Bruders endlich, endlich seine gerechte Strafe erhielt. Und wenn sie jetzt schon vor Vorfreude zitterte, dann war im Grunde klar, was passieren würde, wenn sie das alles wirklich live miterlebte und ihr Schärflein dazu beitrug. Dieses Erlebnis würde besser werden, als jeder Orgasmus, der ihr bislang zuteil geworden war. Lüstern leckte Rebekka sich über die durch die Sonne etwas spröde gewordenen Lippen und strich sich die verschwitzten Haare zurück. Verdammt, sie musste sich unbedingt auf den Weg machen – sie bekam das Zittern ihrer Hände ja kaum noch unter Kontrolle und sie wusste aus Erfahrung, dass sich das erst wieder legen würde, wenn sie sich ruhig und besonnen ihren Opfern widmen konnte.

Noch immer war es stockdunkel im Uferbereich, wo das Airboot versteckt im seichten Wasser lag, aber im Osten war schon ein dünner hellerer Streifen erkennbar, wo in ca. einer ¾ Stunde die Sonne aufgehen würde. Im Schein ihrer Taschenlampe teilte Rebekka das Schilf und sprang auf das kleine Boot. Die letzten Tage hatte sie ihr Beförderungsmittel immer zusammen mit Caulder, diesem Looser, vorsichtig aus seinem Versteck geschoben, aber allein war diese Aktion zu schwer für sie. Sie würde langsam und vorsichtig losfahren müssen und darauf hoffen, dass die Schilfhalme, die sie dabei unweigerlich umknicken würde nicht zu auffällig und von der Straße aus im Vorbeifahren nicht zu erkennen waren. Ihr Magen gab ein unüberhörbares Knurren von sich und der Gedanke daran, dass ihr Frühstück lediglich aus einem vom feuchten Klima pappig gewordenen, widerlich süßen Müsliriegel bestanden hatte, dämpfte ihre Vorfreude ein wenig und ließ ihre Laune wieder tiefer sinken. Wenn Sie gestern, als sie das Salz gekauft hatte, geahnt hätte, dass sie nicht in ihr Hotelzimmer zurückkehren könnte, wo genügend Vorräte für mehrere Tage lagerten, hätte sie auch noch ein paar Lebensmittel besorgt. So aber musste sie sich mit den Gegebenheiten abfinden. Mit verbissenem Gesichtsausdruck startete sie das Airboot und lenkte es so behutsam wie möglich aus dem Schilfgürtel heraus. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es mittlerweile fast 6.oo Uhr morgens war. Mindestens eine Stunde würde die Fahrt zu der kleinen Insel bestimmt dauern, da sie, solange es noch dunkel war, äußerst bedacht fahren musste. Aber dann – dann würde sie ihre Rache endlich vollenden und die Art und Weise, wie sie dies tun würde, hatte sie sich während der mehr oder weniger schlaflosen Stunden in ihrem Auto akribisch ausgemalt. Doch irgendetwas fehlte noch…ein i-Tüpfelchen sozusagen und während sie sich sehr langsam vom Uferbereich entfernte, sann sie darüber nach, was das wohl sein konnte. Knüppeln, Treten, Auspeitschen, Aufhängen, die Ratten, seelische Grausamkeiten…man sollte meinen, dass sie das ganze Repertoire an Foltermethoden bereits ausgereizt hätte. Sie hatte Nägel in seine Finger getrieben, hatte ihm die Knochen gebrochen und sie hatte ihn schweren Durst erleiden lassen. Ja, sie hatte ihn sogar sexuell bedrängt. All das hatte er schon überstanden, also…was konnte sie ihm noch bieten, das auch wirklich neu für ihn war. Schließlich sollte es ihm nicht langweilig werden und auf gar keinen Fall sollte er die Möglichkeit haben, sich auf etwas einstellen zu können.

Schlafentzug, schoss es ihr durch den Kopf, den sie gleich darauf enttäuscht schüttelte und den Gedanken wieder verwarf. Sicher, Schlafentzug war grausam und es war eine allseits anerkannte Foltermethode, doch um diese richtig ausschöpfen zu können, fehlte ihr leider, leider die Zeit. Nein, es musste etwas anderes sein. Gut, sie hatte das Salz, okay, aber das konnte doch wohl nicht das Ende der Fahnenstange sein? Sie hatte auch ein Messer und vielleicht sollte sie ihm peu a peu einzelne, natürlich zunächst einmal unwichtige Gliedmaßen abschneiden. Das wäre nicht gleich tödlich – schließlich wollte sie ja heute den Tag noch auskosten – aber es bestand natürlich die Gefahr, dass sie einen Schnitt zu tief oder falsch ansetzte und dieses Weichei ihr dann einfach unter den Händen verblutete oder am Schock starb. Nein, entschied die Israelin in Gedanken, die Amputationsmethode würde sie nur im äußersten Notfall anwenden…falls ihr gar nichts anderes mehr einfallen sollte.

Sie blickte über die Schulter nach hinten, um zu sehen, ob dort alles ruhig blieb, oder ob sie womöglich doch die Aufmerksamkeit eines Rangers in Frühschicht auf sich gelenkt hatte. Auf dem Wasser war alles still und auch am Ufer rührte sich nichts. Gut so! Rebekka wollte sich gerade wieder nach vorn wenden, als ihr Blick plötzlich auf eine alte, durch die andauernde Feuchtigkeit bereits leicht angerostete Zange fiel. Sie zuckte zusammen und es durchfuhr sie wie ein Blitz. JA! Das war es! Das war genau das, was sie brauchte – und wonach sie die ganze Zeit über gesucht hatte. Nachdem sie das Salz zum Einsatz gebracht hatte, würde sie den geschwächten DiNozzo in der Hütte auf einen Stuhl fesseln und dann…dann würde sie ein fröhliches Filmeraten mit ihm veranstalten. Er – der Filmfreak – sollte ihr den Titel des Films nennen, den sie mit ihm nachspielen würde. Nur, leider, leider…da DiNozzo ja den Hauptdarsteller ersetzen musste – einen kleinen jüdischen Darsteller namens Dustin Hoffmann – hätte er keine Chance ihr auch nur ein verständliches Wort zu vermitteln und solange sie ihn nicht verstand …ein teuflisches Lächeln huschte über Rebekkas Gesicht…würde sie einfach weitermachen und ihm mit dieser wunderhübschen Zange einen Zahn nach dem anderen aus seinen verfluchten Kiefern graben. Das würde ihn nicht umbringen, aber die Qualen wären sicher schier unerträglich. Oh ja – das, was ihr da eingefallen war, war an Ironie und Grausamkeit fast nicht mehr zu überbieten – genau das Richtige für einen wie DiNozzo! Sie würde mit ihm die legendäre Szene aus dem „Marathon-Mann“ nachstellen und sie war überzeugt davon, dass seine Darstellung die von Dustin Hoffmann bei weitem in den Schatten stellen würde. Immerhin hatte es seinerzeit Nominierungen für den Oscar und den Golden Globe gegeben – das hatte die Ansage zumindest gesagt, als sie damals den Film gesehen hatte. Das musste einem Filmfreak doch gefallen, oder etwa nicht. Rebekka zog ihr Handy aus der Tasche und prüfte mit einem schnellen Blick den Stand des Akkus. Na ja, ganz voll war es nicht mehr, aber es würde schon noch reichen, um einen Teil des Spektakels für die Nachwelt festzuhalten und wenn sie ihre Mission beendet hatte, würde sie das Gerät einfach auf der Leiche zurücklassen. Manchmal war ein Remake besser, als das Original und sie würde dafür sorgen, dass es dieses Mal der Fall war! Schade, dass sie nicht dabei sein konnte, wenn dieser Gibbs und die David-Schlampe sich später das Filmchen anschauten und dabei sicherlich vor Wut und Entsetzen platzten, aber man kann ja leider nicht alles haben, tröstete die Israelin sich. Wie gerne sie das Ganze auch live miterleben würde, das war schlichtweg zu riskant und sie war ja nicht irre – auch wenn das der eine oder andere von ihr durchaus behaupten würde.

Ein zweiter kurzer Blick über die Schulter reichte aus, um festzustellen, dass das Ufer inzwischen kaum mehr auszumachen war…außerdem wurde es heller. Der neue Tag setzte sich mehr und mehr durch. Rebekka beschloss, dass sie lange genug so langsam vor sich hingetuckert war und gab, nach einem Kontrollblick auf die Karte, mehr Gas. Ein nachsichtiges Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie darüber nachsann, was für perfide Gedanken Drehbuchautoren doch manchmal so aushecken – aber in diesem Fall konnte es ihr nur recht sein! Es war geradezu perfekt!

Zügig glitt das Airboat durch das seichte Wasser. Hier und da stob ein aufgescheuchter Vogel lauthals meckernd aus dem Dickicht, weil der Motorenlärm zu so früher Zeit ihn geweckt hatte, und ein mächtiger Alligator wuchtete sich aus dem Wasser auf einen dicken Stein, der bereits in der Sonne lag. Rebekka bemerkte die Tiere nicht einmal. Sie stand voll konzentriert auf der erhöhten Steuerkanzel, ihr Haar flatterte im Fahrtwind nach hinten und die einzige Bewegung, die sie außer dem steuern des Bootes noch tätigte, war, dass sie nach ihrer Sonnenbrille griff und sie sich vor die Augen zog. Jetzt konnte sie nichts und niemand mehr aufhalten! Sie war dem Ziel ihrer Träume nah – sehr, sehr nah…

 

88. Kapitel

6.18 Uhr – Im Hauptquartier der Miami Police

Der grauhaarige Chefermittler des NCIS saß schon seit geraumer Zeit im Besprechungsraum der Miami Date Police und studierte mit gerunzelter Stirn eine Karte der Everglades. Obwohl er nach seinem Besuch in der Hotelbar und dem Gespräch mit McGee sehr spät zu Bett gegangen war, hatte er dennoch kaum Schlaf gefunden. Die Sorge um seinen Ziehsohn hatte ihn schon nach knapp 3 Stunden wieder aus dem Bett getrieben, und so hatte er sich nach einer schnellen Dusche angezogen und sich auf den Weg gemacht, um erst einmal einen einigermaßen brauchbaren Kaffee aufzutreiben. Zum Glück war ihm am Vortag ein 24 Stunden geöffnetes Lokal aufgefallen, im dem es leidlich vernünftigen Kaffee zu kaufen gab. Zwei Becher hatte er tief in Gedanken versunken noch gleich vor Ort getrunken, zwei weitere hatte er mitgenommen und nun wartete er ungeduldig darauf, dass sie endlich loslegen konnten. Als er gerade zum wiederholten Male einen ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr warf, ging plötzlich die Tür auf und Lt. Horatio Caine betrat den Raum.

„Agent Gibbs!“, begrüßte ihn der rothaarige Polizist überrascht. „Sind Sie schon lange hier?“

„Lange genug“, war die mürrische Antwort. „Wann trudeln endlich ihre Leute ein? Die Sonne geht bereits auf!“

Horatio legte seinen Kopf auf die Seite, was scheinbar eine Eigenart von ihm war und antwortete lächelnd: „Nur die Ruhe. Natalia und Ryan haben sich vor ein paar Minuten auf den Weg gemacht, damit sie schon vor Ort sind, wenn die meisten Tankstellen aufmachen. Eric Delko hat bereits mit Agent David telefoniert. Er ist unterwegs, um sie abzuholen und mit ihr zum Hubschrauberplatz zu fahren. Der Pilot erwartet die beiden schon. Und Det. Sgt. Frank Tripp hat bereits mit den Polizisten gesprochen, die das Motelzimmer bewacht haben. – Sie sehen also, dass wir durchaus nicht untätig sind.“

Gibbs hob sofort gespannt den Kopf und fixierte den rothaarigen Ermittler scharf. „Sie hat sich nicht blicken lassen, oder?“, stellte er mehr fest, als das er fragte. Wenn Rebekka aufgetaucht wäre, würde Caine mit Sicherheit nicht so ruhig vor ihm stehen, da war er sich absolut sicher – dann hätte es Tote gegeben.

„Nein – sie war nicht da“, musste der Lieutenant zugeben. „Glauben Sie mir, wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich Sie umgehend benachrichtigt.“

„Da bin ich mir nicht so sicher“, warf Jethro in Gedanken ein und als er daraufhin Caine´s Blick bemerkte, fiel ihm auf, wie sein Gegenüber seine Worte interpretieren musste und er ruderte zurück. „So war das nicht gemeint. Ich meinte, dass sie vielleicht doch beim Motel war und ihre Leute lediglich Glück hatten, dass sie keine Lust auf eine Konfrontation hatte. Diese Frau hat einen 7. Sinn und verdammt noch mal, sie ist ein strategisches Genie. Ich denke, sie war da, aber das ist jetzt unerheblich da wir ihrer nicht habhaft werden konnten.“ Er warf noch einmal einen Blick auf die Karte, die vor ihm lag und ihm erneut die ungeheure Größe der Everglades überdeutlich vor Augen führte. Die Aufgabe in diesem Riesenareal das Versteck von zwei Leuten zu finden, war gigantisch und dieses Bewusstsein deprimierte ihn einmal mehr. Bedächtig faltete er die Karte zusammen und steckte sie ein. Es war zwar unwahrscheinlich, dass er sie brauchen würde oder sie ihm irgendwie nützen könnte, aber er wollte sie trotzdem dabei haben. Das gab ihm irgendwie das Gefühl, dass er die Zügel nicht vollständig aus der Hand geben musste.

„Sie werden die Karte nicht brauchen“, wandte da auch prompt schon Lt.Caine sanft ein. „Die Airboatpiloten kennen sich auch ohne Karte bestens in den Glades aus. Wir können also davon ausgehen, dass Joe…“

„Ich werde sie trotzdem mitnehmen“, erwiderte Gibbs bestimmt.

Horatio Caine nickte verständnisvoll. Vermutlich würde er nicht anders reagieren, wenn er sich in einer ihm fremden Stadt auf andere verlassen musste.

„Können wir dann endlich los? Wo zum Henker steckt denn ihr Kollege?“, fragte Jethro da schon wieder ungeduldig. Die sanfte, nachgiebige Art des Kollegen aus Miami entsprach so gar nicht seiner Natur und er war zunehmend genervt – selbst wenn er sehr gut wusste, dass ihn das keinen Schritt weiterbringen würde und eine Konfrontation mit der Ermittlern aus Miami das Letzte war, was er jetzt heraufbeschwören sollte. Aber sein Instinkt sagte ihm überdeutlich, dass die Zeit knapp wurde. Er hatte so ein unbestimmtes Gefühl im Bauch, dass sich heute noch etwas Entscheidendes ereignen würde. Er wusste nur nicht, ob es eine Tragödie oder die Erlösung für sie sein würde, aber er wollte verdammt sein, wenn er nicht bis zum letzten Augenblick alles nur Erdenkliche versuchen würde, Tony und Anna lebend aus den Fängen von Rebekka Rivkin zu retten. Als seine Frau und Tochter damals durch diesen feigen Anschlag sterben mussten, hatte er keine Chance zum Eingreifen gehabt, Kate war quasi direkt neben ihm gestorben und Jenny…auch nach ihrem Tod hatte er das Gefühl von Schuld überdeutlich gespürt, obwohl er nichts an den Geschehnissen hätte ändern können. Doch jetzt…noch gab es eine Chance – auch wenn sie nur klein war. Er wollte alles probieren, sie zu nutzen. Sie waren dicht dran, das spürte er. Sehr dicht! Es durfte nicht sein, dass man ihm nun auch noch Tony nahm… Gibbs war ehrlich genug, vor sich selber zuzugeben, dass er den neuerlichen Verlust einer geliebten Person vermutlich nicht würde wegstecken können. Shannon…Kelly…Kate…Jenny… Jetzt auch noch Tony? Nein, so weit durfte er es nicht kommen lassen!

„Agent Gibbs?“

„Was?“ Der Grauhaarige wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen und blickte verständnislos auf Caine, der ihn fragend anschaute.

„Ich sagte, wir können los. Wir treffen Frank Tripp auf dem Parkplatz am Wagen. Ich wollte sie eigentlich nur abholen kommen.“

„Woher wussten Sie denn, wo ich bin?“

„Als ich eben kam, bin ich Agent McGee begegnet, der mir mitteilte, dass Sie das Hotel schon verlassen hatten, als er sich auf den Weg hierher machte. Da konnte ich mir denken, dass Sie hier auf uns warten.“

„Großer Gott, und warum sagen Sie das erst jetzt?“, fauchte Gibbs, griff nach seinem Jackett und seinem letzten Rest Kaffee, den er in einem Rutsch runter goss, bevor er den Becher gekonnt in einen Papierkorb neben der Tür beförderte. „Na los…“, drängte er dann. „…hier verschwenden wir nur unsere Zeit.“


6.53 Uhr – Flucht oder Konfrontation?

Seit einer guten halben Stunde war Tony wach und grübelte wieder und wieder über ihren Plan nach. Anna und er hatten hin und her überlegt, was sie tun sollten. Kämpfen oder fliehen? In Anbetracht seiner körperlichen Schwäche wäre ein Kampf gegen Rebekka so gut wie aussichtlos. Natürlich, sie waren zu zweit, aber Anna war in diesem Fall keine voll zu rechnende Hilfe. Im Gegenteil, sollte sie im womöglich entscheidenden Augenblick plötzlich Skrupel bekommen, einen anderen Menschen zu attackieren und evtl. sogar zu töten, wenn dies die Situation erforderte, dann wären sie unweigerlich am Ende. Denn eines war klar: Rebekka Rivkin würde jedes noch so kleine Zögern sofort zu ihren Gunsten ausnutzen, und sie war eine Meisterin darin, Situationen im Voraus erahnen zu können.

Aber Flucht? Wohin sollten sie flüchten? Nachts in die Sümpfe? In dieses unwegsame Gelände, in dem sie sich beide nicht auskannten und wo es zusätzlich von Alligatoren und Schlangen und wer weiß was noch nur so wimmelte. Wie weit würden sie da wohl kommen? Und um sich zu verstecken, war die Insel viel zu klein. Egal, von welcher Seite aus er die Sache betrachtete: Sie waren zwar ihre Fesseln los, aber Gefangene waren sie nach wie vor. Tony konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Auch wenn sie gestern beschlossen hatten, nach einigen Stunden Schlaf und wenn er etwas zu Kräften gekommen war, die Flucht durch die Sümpfe zu wagen, so sah er jetzt ein, dass dieser Plan der helle Wahnsinn war und mit Sicherheit ihr Ende besiegeln würde. Also lief letztlich doch alles auf eine direkte Konfrontation mit Rebekka hinaus – etwas, dem er sich eigentlich nie wieder hatte stellen wollen…

Nachdenklich betrachtete Tony Anna, die irgendwann in der Nacht im Schlaf ihren Kopf in seinen Schoß gebettet hatte. Ihr Haar war ihr wie ein seidener Schleier übers Gesicht gefallen; trotzdem konnte Tony erkennen, dass ihre Augenlider im Schlaf unruhig zuckten und zitterten. Tony spürte den Stolz, den er für Anna´s Weiterentwicklung empfand, denn irgendwie war schließlich auch er dafür verantwortlich. Sie hielt sich so erstaunlich tapfer und hatte sich am vergangenen Abend wirklich rührend um ihn gekümmert. Sie wollte ihn unbedingt beschützen – dabei sollte das doch eigentlich seine Aufgabe sein. Aber war er überhaupt in der Lage dazu? Konnte er sie überhaupt beschützen? Ließ seine körperliche Verfassung das zu? Das Wasser, das Anna ihm besorgt hatte, und ein paar Stunden Schlaf in einer halbwegs bequemen Stellung, nach den Tagen, die er gefesselt stehend oder liegend hatte verbringen müssen, hatten tatsächlich seinen Lebensmut wieder ein wenig geweckt – soweit das eben möglich war. Irgendwie hatte er es geschafft, den ständigen Schmerz, der ohne Unterlass in seinem Körper tobte, in den Hintergrund zu drängen und auch wenn ihm immer wieder, aufgrund des sicherlich ziemlich hohen Fiebers, das er mittlerweile hatte, Schauer über den Körper jagten und ihn durchschüttelten, konnte er im Augenblick wenigstens einigermaßen klar denken. Was allerdings gleichzeitig bedeutete, dass ihm auch endgültig klar wurde, wie verschwindend gering ihre Chancen trotz der letzten Erfolge waren.

Ein leiser Seufzer entrang sich seiner rauen Kehle, während er sanft der jungen Frau vor ihm übers Haar strich und mit Genugtuung bemerkte, wie sich daraufhin ihr unruhiger Schlaf deutlich sichtbar beruhigte. Ziva´s Haar fühlte sich auch so an, schoss es ihm durch den Kopf. Ja, genauso fühlte es sich an, wenn sie in seinen Armen lag und er sein Gesicht in ihren dunklen Locken vergraben hatte. Erschöpft und glücklich nach einer nicht enden wollenden Liebesnacht, oder einfach gemeinsam auf der Couch, während sie lebhaft über den Realismus einer Magnum-Folge diskutierten. Wie gerne würde er das wieder tun, aber im Augenblick musste er sich ernsthaft fragen, ob er noch einmal die Gelegenheit dazu bekäme? Einen Funken Hoffnung hatte er jetzt wieder, im Gegensatz zu gestern. Nachdem der Hubschrauber weggeflogen war, ohne sie zu entdecken und er von Caulder unter so grässlichen Schmerzen in die Hütte gezerrt worden war - da hatte er aufgegeben. Da hätte er sogar den Tod willkommen geheißen. Aber jetzt … jetzt wollte er wieder leben und er würde versuchen, zu kämpfen, so gut er eben noch konnte. Für sich…für eine Zukunft mit Ziva und auch für Anna, die nach all dem Furchtbaren, was sie bisher in ihrem kurzen Leben hatte erleben müssen, eine Zukunft verdiente.

Im nächsten Augenblick zuckte er heftig zusammen und wie ein heißer Blitz schoss ein Gefühl von Angst und Grauen durch seine Eingeweide. Anna war durch seine ruckartige Bewegung wach geworden und hoch geschreckt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Tony an und wusste sofort, was seine Reaktion zu bedeuten hatte. Es war soweit! – Das Ende ihres gemeinsamen Martyriums war nah – wie auch immer es aussehen mochte. Schweigend starrten sie sich an und lauschten beinahe ungläubig mit angehaltenem Atem dem Geräusch eines sich rasch nähernden Propellerbootes. Rebekka! Wer sonst konnte es sein?


89. Kapitel

7.09 Uhr – In den Everglades

Als Gibbs, Lt. Caine und Det. Sgt. Frank Tripp bei der Airboat-Station ankamen, hatte der dunkelhaarige Indianer das Boot bereits startklar gemacht, was Jethro ein halbwegs zufriedenes Knurren entlockte. Offenbar gab es hier zumindest einen, der mitdachte. Der junge Mann kam auf sie zu und begrüßte jeden der drei Polizisten mit Handschlag.

„Ich dachte mir schon, dass ihnen 8.oo Uhr zu spät ist. Also wenn sie wollen, können wir gleich los. Ich habe mir nochmal die ganzen Plätze durch den Kopf gehen lassen, die ich mit den beiden abgefahren bin. Ich denke, wir beginnen mit dem, der sie am meisten interessiert hat, was sagen sie? Ich erinnere mich, dass es da eine kleine Insel gab, an der sie wirklich großes Interesse hatten – allerdings ist das ziemlich weit draußen und recht abgelegen – im Grunde genau das richtige, um dort jemanden zu verstecken… Wenn das wider Erwarten doch nicht der richtige Ort sein sollte, müssen wir eben nach und nach die anderen Stellen abklappern. Ich habe genügend Wasser und etwas Proviant eingepackt, so dass wir zwischendurch nicht zurückfahren müssen. Der Sprit reicht auch auf jeden Fall für die ganze Tour.“ Er wies auf 2 zusätzliche Kanister, die er in hinteren Teil des Bootes sicher vertäut hatte. Dann blickte er speziell Jethro an. „Vielleicht haben Sie gestern den Eindruck gewonnen, als wären mir die Touristen und das Geld wichtiger als die Suche nach Ihrem Kollegen. Nun…ich lebe davon – von diesen Fahrten mit Besuchern – aber ein Menschenleben geht auch für mich trotzdem immer vor. Ich möchte, dass Sie wissen, dass wenn wir nur den Hauch einer Chance auf Erfolg gehabt hätten, ich auch gestern Abend noch losgefahren wäre, aber es wäre wirklich sinnlos und nur gefährlich gewesen. Ich hoffe, dass sie das heute – mit etwas Abstand – vielleicht verstehen können. Ich weiß, Sie sind nicht von hier und daher kennen Sie die Glades vermutlich nicht – ich aber kenne sie von klein auf und ich weiß, dass dieses wertvolle Stück Natur schon viele Menschenleben gekostet hat.“ Bei diesen Worten sah er den grauhaarigen NCIS-Agenten offen in die Augen. „Aber selbst, wenn Sie mich nicht verstehen sollten…ich würde heute ganz genauso wieder zu handeln.“

Überrascht erwiderte Gibbs den ruhigen, klaren Blick des jungen Indianers, dann schürzte er ein wenig die Lippen und nickte, beeindruckt von den ehrlichen, aufrichtigen Sätzen, mit dem Kopf. „Okay … ist okay … fahren wir los. Ich will nämlich nicht, dass Ihre Glades noch mehr Menschenleben kosten.“ Im Vorbeigehen legte er Joe die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. Joe konnte das nicht wissen, aber das war seine Art, sich für sein etwas rüdes Verhalten vom Vortag zu entschuldigen. Der Indianer indes deutete die Geste richtig und bekundete Gibbs durch ein kurzes Kopfnicken sein Verständnis, was wiederum der NCIS-Agent auf seine unnachahmliche Art honorierte. „Kommen Sie, wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Damit sprang er auf das Boot und wartete bis die anderen nachgekommen waren. Dann nickte er Joe noch einmal kurz aufmunternd zu und sagte kurz: „Ich verlass mich auf Sie – bringen Sie mich zu den Vermissten.“

„Aber…“ Joe unterbrach sich verblüfft und warf Horatio Caine einen schnellen Seitenblick zu.

Die Lippen des rothaarigen Mannes umspielte ein gutmütiges Lächeln, als er dem Indianer leicht zunickte. „Schon in Ordnung – er hat Recht. Wir sollten uns auf den Weg machen.“

Joe nickte und kurz darauf düste das Boot mit ohrenbetäubendem Lärm los. Gibbs hatte seine Position vorne auf der rechten Seite bezogen. Er war auf die Sitzbank aus Holz gestiegen, hielt sich mit einer Hand an den Eisenstreben, die den erhöhten Sitz des Steuermanns stützten, fest und lehnte sich so weit nach außen, wie er es verantworten konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, bei einem plötzlichen Manöver oder einer Richtungsänderung aus dem Boot zu fallen. Seine klaren blauen Augen waren starr nach vorne auf die unendlich scheinende Wasserfläche gerichtet. Er traute sich kaum einmal zu blinzeln, vor lauter Panik, den entscheidenden Hinweis auf Tony´s Versteck womöglich zu übersehen. Jede Faser in seinem Körper war angespannt und es kribbelte in ihm, wie schon lange nicht mehr. Er war auf der Jagd! Heute ging es drum! Die Entscheidung nahte! Das flüsterte ihm sein Instinkt in immer kürzeren Abständen unmissverständlich zu. Sie mussten nicht nur – nein, sie würden Tony und Anna heute finden. Die Frage war nur, ob dies rechtzeitig geschehen würde?

 

90. Kapitel

7.10 Uhr – In der Hütte

Nach einer schier endlos scheinenden Starre gab sich Tony schließlich einen Ruck. Jetzt galt es! Jetzt musste er Anna motivieren und sie durften keine einzige wertvolle Sekunde mehr vergeuden. Das Motorengeräusch dröhnte mittlerweile schon in ihren Ohren. Außerdem schien das Boot langsamer zu werden, was letztlich bedeutete, dass der Fahrer – oder die Fahrerin – schon nach einem Anlegeplatz Ausschau hielt. Er drehte sich so, dass er Anna bei den Schultern packen konnte und sagte:

„Okay, Anna, es ist soweit. Wir machen alles wie besprochen“. Tony sah der blonden Frau beschwörend in die Augen, woraufhin sie etwas krampfhaft nickte.

Lange hatten sie an ihrem Plan gefeilt, wie sie Rebekka gegenübertreten wollten und es hatte sich nicht leicht gestaltet. Tony´s erste Überlegung war gewesen, dass sich Anna hinter die Tür stellen sollte, während er sich bewusstlos stellend auf den Boden legen würde. Er hoffte, dass die Israelin, wenn sie durch die Tür trat, so auf ihn fixiert wäre, dass sie nicht darauf achten würde, wo Anna war, denn sie nahm ihre Gefangene sowieso nicht für voll. Wenn Tony´s Todfeindin dann durch die Tür treten würde, sollte Anna diese so fest zuschlagen, dass Rebekka ins Taumeln geraten – bestenfalls sogar zu Boden gehen – sollte und Tony so die Chance geben würde, sie zu überwältigen.

Doch obwohl Anna in den letzten Stunden immer selbstbewusster geworden war; sich Rebekka gegenüberzustellen, sich unmittelbar mit dieser gefährlichen Frau anzulegen, überschritt letztlich doch ihren Mut. Tony hatte ihr gut zugeredet. Er hatte versucht, sie zu überzeugen, dass sie das hinbekommen würde…hatte ihr immer wieder vor Augen gehalten, dass Rebekka ihrerseits sicherlich nicht zögern würde, dass dies vermutlich ihre letzte Chance war und es um ihr Leben ging. Er hatte die junge Frau sogar kurz in die Arme geschlossen, in der Hoffnung, dass ihr dies Mut und Zuversicht geben würde, doch Anna hatte am ganzen Körper zu zittern begonnen und kurz davor gestanden, zusammenzubrechen.

Mit fast schon hysterischer Stimme hatte sie geantwortet: „Tony, ich…ich weiß echt nicht, ob ich das kann. Woher soll ich denn wissen, wann der richtige Moment ist? Was, wenn sie eine Waffe hat?“, flüsterte die junge Frau panisch. „Ich…ich kann das nicht. Kannst du nicht…?“

Schließlich hatte der NCIS-Agent eingesehen, dass Anna dieser ihr zugedachten Aufgabe wohl nicht gewachsen war. Er selbst musste Rebekka außer Gefecht setzen. Vielleicht war es sowieso die bessere Variante, denn er hatte auch schon darüber nachgedacht, ob er überhaupt in der Lage sein würde, schnell genug aus einer liegenden Position hoch zu kommen, um Rebekka rechtzeitig zu überwältigen, bevor sie sich vom dem Schlag mit der Tür wieder berappelt hatte - falls dieser überhaupt ausreichen würde, um sie lange genug außer Gefecht zu setzen. So oder so: Es war ein Wagnis, das war klar, aber wie er es auch drehte und wendete…eine andere Chance würde sich ihnen sicherlich nicht mehr bieten.

Tony riss sich aus seinen Gedanken und kam stöhnend, mit Anna´s Hilfe, auf die Beine. Einen Augenblick lang taumelte er, bevor er einmal tief durchatmete und sich mit aller Macht zusammenriss. Jetzt war keine gute Zeit für Schwäche, jetzt musste er alles in die Waagschale werfen, was ihm noch geblieben war. Kondition und Kraft hatte er bestimmt nicht mehr, aber sein Kopf funktionierte noch – auch, wenn er im Moment das Gefühl hatte, sein Schädel würde gleich platzen. Wenn er sich nur richtig konzentrierte, auf seine langjährigen Erfahrungen als Polizist und Field-Agent zurückgriff und auf seine Instinkte hörte, dann würde es schon noch gehen. Danach – wenn alles vorbei war – konnte er es sich erlauben, zusammenzubrechen, aber nicht jetzt, in diesem alles entscheidenden Moment.

Er griff nach dem Stück Holz, mit dem Rebekka ihn vor zwei Tagen so übel zugerichtet hatte und stellte sich mit dem Rücken fest an die Wand gepresst, neben die Tür. Er wog den Balken in den Händen und murmelte dabei leise vor sich hin: „Ich hoffe, du fügst ihr die gleichen Schmerzen zu wie mir.“ Dann nickte er Anna noch mal aufmunternd zu. „Okay, du weißt, was du zu tun hast. Wenn der Motor aus ist, braucht sie ca. zwei, drei Minuten, bis sie hier an der Hütte ist. Achte darauf, ob du ihre Schritte hörst, wenn nicht, fängst du nach 90 Sekunden, an zu schreien. Du musst die Sekunden mitzählen. Anna, hör mir zu…“, versuchte er die totale Aufmerksamkeit seiner jungen Leidensgenossin zu gewinnen, als er bemerkte, dass diese mit angstvoll aufgerissenen Augen auf die geschlossene Tür starrte. „…alles hängt jetzt davon ab, dass du gleich überzeugend rüber kommst. Du musst echt verzweifelt wirken. Du musst ihr durch deine Schreie glaubhaft vermitteln, ich wäre tot. Wenn Rebekka glaubt, ich wäre gestorben, wird sie mit Sicherheit so schnell wie möglich hier reinkommen. Sie will mich schließlich noch weiter foltern und wenn sie glaubt, dass ich ihr diesen letzten Spaß geraubt hätte, indem ich einfach weggestorben wäre, wird sie das hoffentlich total aus dem Konzept bringen. Sie wird die Tür aufreißen und hereinstürzen und dann werde ich sie mit dem Holz niederknüppeln.“

Mit einem – wie er hoffte – zuversichtlichen Nicken blickte er zu Anna, die jetzt nickte und sich neben den Stützbalken legte, an den Tony die letzten Tage gefesselt war. Sie sollte die Blicke der Israelin auf sich ziehen, damit er die Chance bekam, Rebekka außer Gefecht zu setzen und ihr nach Möglichkeit mehr als nur einen Schlag zu verpassen. Mit einem winzigen mühsamen Lächeln erwiderte die Blonde Tony´s Aufmunterungsversuch, bevor sie ihren Kopf auf den Boden sinken ließ.

Noch einmal atmete der so schwer gebeutelte NCIS-Agent tief durch. Hoffentlich würde Rebekka reagieren, wie er annahm, hoffentlich würde sie unvorsichtig werden und ihm somit die Gelegenheit geben, sie niederzuschlagen. `Gott, wenn du grade ein wenig Zeit hast, ich könnte deine Hilfe brauchen´, flehte er stumm gen Himmel.

Mehr Zeit blieb den beiden Eingeschlossenen nicht für ihre Überlegungen, denn der Motor des Airboates erstarb mit leiser werdendem Knattern und kurz darauf näherten sich Schritte der Hütte. Tony nickte und gleichzeitig begann Anna, hysterisch zu schreien: „Tony … nein … bitte … Tony, du darfst nicht sterben! Lass mich nicht allein! NEIN!“

Die Schritte vor der Hütte wurden jetzt deutlich schneller und gleich darauf wurde die Tür mit einem kräftigen Ruck aufgestoßen…

 

91. Kapitel

7.11 Uhr – Am Hubschrauberplatz bei Ziva und Eric

Mit weit ausholenden Schritten rannte Ziva beinahe auf den Piloten zu, von dem im Augenblick nur die Rückenansicht sichtbar war, da er mit dem Oberkörper fast komplett im Helikopter verschwunden war. Lt. Eric Delko hatte, obwohl er wesentlich größer als die Israelin war, Mühe ihr zu folgen. Trotzdem war er bemüht mit ihr Schritt zu halten, denn schon auf der kurzen Fahrt raus zum Hubschrauberlandeplatz hatte er bemerkt, wie sehr die junge Frau heute wieder unter Strom stand und er wollte um jeden Preis gleich schlechte Stimmung in der Enge der Helikopterkabine vermeiden.

„Hey, ich hoffe, heute haben sie genügend Sprit dabei?“, begrüßte Ziva den Piloten knapp, der gerade nach der Checkliste griff und diese mit geübtem Blick überflog. Der Mann blickte kurz auf und sah auf die einen Kopf kleinere, zierliche Frau vor sich hinunter, der man heute deutlich ansah, dass die letzten Tage nicht einfach für sie gewesen waren und die trotzdem noch so viel Power ausstrahlte. Er war natürlich über den Fall informiert und er konnte sie ja verstehen, ihre Angst und die Besorgnis, aber trotzdem…so wollte er nicht mit sich umspringen lassen.

„Ihnen auch einen schönen guten Morgen“, sagte er daher betont freundlich und nickte gleichzeitig Eric Delko zu, der sich gerade etwas atemlos zu ihnen gesellte und sich nicht anders zu helfen wusste, als der Israelin einen leichten Rippenstoß zu verpassen, der bewirkte, dass die Braunhaarige förmlich in sich zusammenzufallen schien und gleich darauf tat ihm seine etwas rüde Geste leid.

Ziva strich sich die Haare aus dem Gesicht und schaute den Piloten ehrlich zerknirscht an: „Es tut mir Leid“, sagte sie dann leise. „Es ist nur…“

„Schon gut“, unterbrach der Pilot, der ihre Reaktion auch mitbekommen hatte, seinen weiblichen Flugpassagier. „Zu Ihrer Beruhigung: Der Tank ist randvoll und wenn sich die derzeit ruhige Wetterlage nicht ändert, sollte das für einige Stunden reichen. Wenn es allerdings windiger wird, brauchen wir auch mehr Treibstoff – dann verringert sich die Zeitspanne entsprechend. Eine genaue Auskunft, wie lange wir unterwegs sein können, kann ich Ihnen also beim besten Willen nicht geben. Sorry.“

„Danke, das reicht mir schon aus als Erklärung“, sagte Ziva leise und kletterte nach einer auffordernden Handbewegung des Piloten auf ihren Platz. „Ich weiß ja, dass Sie alle tun, was Sie können.“ Damit stülpte sie sich die Kopfhörer auf die Ohren und richtete ihren Blick starr aus dem Fenster. Irgendetwas lag in der Luft – heute noch mehr als gestern und es machte sie schier wahnsinnig, dass sie nichts anderes tun konnte, als in ihren Augen einfach nur herumzusitzen…

Nachdem sich Delko und der Pilot einen vielsagenden Blick zugeworfen hatten, meinte Eric: „Wenn Sie fertig mit Ihrem Check-Up sind, könnten wir los…?“

Der Pilot nickte und stieg mit den Worten: „Ich bin fertig – wir können…“, in seine Kanzel. Gleich darauf begann sich die Rotorscheibe auf dem Dach des Helikopters zu drehen. Zunächst noch langsam und dann immer schneller und schneller…


7.13 Uhr – Überprüfung der Tankstellen

Ryan Wolfe und Natalia Boa Vista vom Miami PD waren schon sehr früh zu ihrer Ermittlungsmission gestartet und so hatten sie um 7.00 h morgens schon die ersten Tankstellen als ergebnislos abhaken können. Jetzt waren sie gerade auf dem Weg zur nächsten und Natalia blickte ihren Kollegen am Steuer von der Seite her an.

„Glaubst du, es macht Sinn, was wir hier tun?“ Bislang war eher Calleigh in die Ermittlungen und Suche mit einbezogen worden, da Natalia – als die Agents aus DC eingetroffen waren – noch anderweitig abgezogen war, doch nachdem sie sich am Vorabend zurückgemeldet hatte, hatte Caine nicht gezögert und sie auch gleich mit für den nächsten Tag verplant. Ryan hatte seine junge Kollegin unterwegs darüber unterrichtet, worum es überhaupt ging und wie aktuell der Stand der Ermittlungen war. „Weißt du eigentlich, wie viele Tankstellen es hier in der Gegend gibt? Diese Frau könnte sich das Benzin überall besorgt haben. Wir suchen hier nach der Nadel im Heuhaufen.“

„Natürlich“, stimmte Wolfe ihr zu. „Aber mal ehrlich, Natalia, wie oft tun wir das und wie oft hatten wir auch schon Glück dabei? Außerdem, so weit hergeholt finde ich diese Idee nun auch wieder nicht. Fakt ist, dass diese Frau Benzin brauchen wird, wenn sie jeden Tag von diesem Motel aus hin und her gefahren ist und außerdem noch das Airboat mit Treibstoff versorgen muss. Und vermutlich wird sie sich den auch auf dem Weg besorgen und nicht am anderen Ende der Stadt. Und da liegt es doch nahe, hier in dieser Region mit der Suche zu beginnen.“

„Hmm, wahrscheinlich hast du recht“, meinte Natalia, blinzelte durch die Windschutzscheibe in die aufgehende Sonne und zog sich ihre Sonnenbrille vor die Augen.

„Zuviel gefeiert?“, neckte ihr Kollege.

„Nee, aber einen anstrengenden Fremdeinsatz hinter mich gebracht und gehofft, es jetzt etwas ruhiger angehen zu können. – Ist diese Frau wirklich so gefährlich?“, fragte sie dann. „Auf dem Foto wirkt sie eigentlich recht normal.“

„Oh, ja, nach allem, was ich jetzt von ihr weiß, halte ich sie sogar für brandgefährlich“, antwortete Ryan, während er den Wagen auf ihren nächsten Halt zurollen ließ. „Auf ein Neues“, meinte er dann und stieg aus dem Wagen.

Natalia folgte ihrem Kollegen in den Kassenraum und gemeinsam gingen sie auf den farbigen jungen Mann hinter dem Tresen zu. Der beäugte sie misstrauisch aus schmalen Augenschlitzen und wirkte irgendwie wie das leibhaftige schlechte Gewissen. „Ich vermute mal, dass sie kein Benzin wollen?“, stellte er dann trocken fest.

„Nein…“ Wolfe und Boa Vista zeigten ihre Marken und stellten ich vor. Dann zog Ryan Rebekka´s Foto aus der Tasche und legte es auf den Tresen. „Schon mal gesehen?“, fragte er kurz und beobachtete den jungen Mann genau. Es schien, als würde diesen die Tatsache, dass sie nicht wegen ihm da waren, die Zunge lockern. Seine offensichtliche Erleichterung war schon fast amüsant, und wenn die Zeit nicht so gedrängt hätte, hätte es Wolfe in den Fingern gejuckt, etwas näher mit dem Kassierer zu plaudern. Stattdessen wiederholte er seine Frage: „Was ist jetzt?“

„Hmm, ich bin nicht wirklich sicher, aber es könnte sein. Ist allerdings schon ein paar Tage her.“

„Geht´s auch etwas genauer?“, mischte sich Natalia ungehalten ein. Der Typ ging ihr zunehmend auf die Nerven.

„Hey, Lady, wissen Sie eigentlich, wie viele Leute hier zum Tanken anhalten? Wenn Sie es genau wissen wollen, dann besorgen sie sich einen Beschluss für die Überwachungsvideos.“ Er wies auf zwei Kameras. Eine hing im Tür- und eine im Kassenbereich.

„Ist denn das wirklich nötig“, wandte Ryan besänftigend ein und wollte gerade fortfahren, als eine tiefe Stimme in seinem Rücken ihn davon abhielt.

„Nein, ich denke nicht, dass das nötig ist“, sagte die Stimme und veranlasste Wolfe und Boa Vista, sich umzudrehen. Ein vierschrötiger Mann mit sich bereits lichtendem braunen Haar und deutlichem Bauchansatz griff bereits nach dem Foto, während er weiter sprach. „Gregory, wenn du weiter so unfreundlich zu den Gesetzeshütern bist, werdet ihr wohl nie ein besseres Verhältnis bekommen.“ Er wandte sich wieder den Leuten vom Miami PD zu und erklärte breit grinsend. „Gregory hatte mal Ärger mit der Polizei und ist sehr misstrauisch, aber im Grunde ist er ein guter Junge.“

„Und Sie sind?“

„Jonathan Boyd. Ich bin der Pächter hier. Und wenn Sie diese Frau hier suchen…“ Er wedelte kurz mit Rebekka´s Foto in der Luft herum. „…dann kann ich Ihnen sagen, dass Sie gestern Abend ziemlich spät noch hier war. Sie hat einen Kanister Benzin mitgenommen – wie schon mehrfach in der letzten Zeit – und ein bisschen Süßkram gekauft. Ich fragte sie, warum sie eigentlich immer noch `nen Kanister mitnimmt und sie antwortete mir ziemlich barsch, dass ich mich um meinen eigenen Kram kümmern solle und mich das nichts anginge.“

„Hört sich an, als wären wir hier richtig. Können Sie uns sonst noch was sagen?“

„Na ja, zuerst kam sie immer in Begleitung. So ein blonder unscheinbarer Typ. Ziemlich eingebildet. Gestern kreuzte sie dann zum ersten Mal alleine hier auf.“

„Hmm…“ Ryan dachte kurz nach. Dann griff er zum Handy und drückte eine Kurzwahltaste. „Horatio? Ja, ich bin´s, Ryan. Ich denke, wir haben die richtige Tankstelle gefunden.“ Er berichtete, was der Tankstellenpächter ihnen eben berichtet hatte. Dann lauschte er einen Augenblick, bevor er sagte. „Genau das hatte ich jetzt vor. In Ordnung, wir machen uns gleich auf den Weg.“

„Was ist?“, erkundigte sich seine Kollegin.

„Wir fahren jetzt bis ran an die Glades“, erklärte Ryan Natalia Caine´s Anweisungen. „Und dann meine Liebe, machen wir einen schönen Spaziergang – so lange und so weit, bis wir das Versteck ihres Wagens gefunden haben. Wenn wir ihn dann haben, dann werden wir schon einmal ein paar Spuren sichern und dann werden wir einfach warten, ob sie zurückkehrt. Wie auch immer: Heute kriegen wir sie! Entweder finden die anderen sie oder wir nehmen sie bei ihrer Rückkehr in Empfang!“ Er warf einen Blick nach draußen, wo der Stand der Sonne ihnen inzwischen schon verriet, dass es ein heißer Tag werden würde. „Ich hoffe, du hast Sonnencreme dabei“, grinste er dann.

Natalia stöhnte auf. Ein womöglich langer Fußmarsch in unwegsamem Gelände und – so stand zu vermuten – ein ganzer Tag draußen in der Hitze. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. „Okay, wer trägt den Koffer?“, fragte sie in Hoffnung, dass ihr Kollege sich erbarmen würde. „Hey, ich hab´ noch was gut bei dir. Erinnerst du dich?“

„Nein“, kam ungerührt die Antwort. „Aber wir können ja losen.“ Dann reichte er eine Karte an den Pächter weiter. „Sollten sich der Mann oder die Frau oder auch Beide noch einmal hier sehen lassen, rufen Sie bitte umgehend diese Nummer an. Aber unternehmen Sie auf keinen Fall etwas auf eigene Faust – zu Ihrem eigenen Besten. Die Frau ist äußerst gefährlich.“

Der Pächter nahm die Karte an sich und antwortete: „Sie können sich auf uns verlassen.“

 

92. Kapitel

7.14 h – Endgame – Teil I

Rebekka war vielleicht noch 15 m von der Hütte entfernt, als sie plötzlich hysterische Schreie vernahm – und das, was sie hörte, ließ ihr kurz den Atem stocken.

„Tony … nein … bitte … Tony, du darfst nicht sterben! Lass mich nicht allein! NEIN!“

Was zum Teufel … ! Dieser Mistkerl wollte sich doch wohl nicht wirklich einfach so klammheimlich davonstehlen! Das kam überhaupt nicht in Frage! Er gehörte ihr! Sie alleine sollte bestimmen, wann er seinen unwiderruflich letzten Atemzug tat. Rebekka beschleunigte ihren Schritt und war nur Bruchteile von Sekunden später an der Tür. Ohne lange nachzudenken, stieß sie mit einem kräftigen Ruck die Tür auf und setzte einen Fuß über die Schwelle …

… Plötzlich hielt sie mitten in der Bewegung inne. Die Gestalt dort auf dem Boden war nicht Tony! Ihre Gedanken überschlugen sich … sämtliche Alarmglocken begannen zu schrillen – und noch während sie überlegte, was das zu bedeuten haben könnte nahm sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Vage…es war kaum mehr als ein flüchtiger Schatten. Bevor sie realisieren konnte, um was es sich handelte, krachte es auch schon…

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Tony hatte seine ganze noch verbliebene Kraft in den Schlag gelegt. Sein eigener Schwung holte ihn fast von den Füßen und für eine Schocksekunde lang glaubte er, den Holzkeil nicht festhalten zu können. Schweißnasse Finger klammerten sich wie ein Schraubstock um das Holz. Splitter bohrten sich in seine Haut, doch Tony spürte es kaum. Er legte alle seine Hoffnungen, seine Verzweiflung und seinen zurück gewonnenen Überlebenswillen in diesen einen Schlag. Er wusste, ihnen blieb nur diese eine Chance und er wollte verdammt sein, wenn er es jetzt nicht richtig machte. Es musste ganz einfach funktionieren! Sein Plan war, Rebekka am Kopf zu treffen, damit sie möglichst schon nach dem ersten Hieb zu Boden gehen würde. Doch er hatte ihre Mossad-Ausbildung und ihre instinktiven phantastischen Reflexe verdrängt oder schlicht und ergreifend unterschätzt.

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In dem Moment, als das Holz die Israelin traf, hatte sie den Kopf zur Seite gerissen und den Arm hochgezogen, so dass sie von dem Holzkeil zuerst nur an der Schulter und dann abgeschwächt seitlich am Ohr getroffen wurde, was ihr einen überraschten Zorneslaut entlockte. Sie taumelte herum und versuchte gleichzeitig verzweifelt, auf den Füßen zu bleiben, doch sie musste erkennen, dass der Schlag – auch wenn er sie nicht voll erwischt hatte – noch genug Wucht in sich barg, um sie zu Boden gehen zu lassen. Sie fiel nach hinten und rollte unkontrolliert die drei Stufen vor der Hütte hinunter, wobei sie mehrfach noch zusätzlich auf die Kanten schlug. Trotzdem reichten der Hieb und seine Folgen nicht aus, sie bewusstlos werden zu lassen und so blieb die Israelin schließlich lediglich betäubt und für einen Moment lang orientierungslos liegen. Benommen rappelte sie sich auf die Knie hoch und griff sich an den Kopf. Dabei registrierte sie, dass warmes Blut an ihrem Hals herunter lief und auch die Geräusche um sie herum hörten sich irgendwie seltsam an. `Meine Waffe´ schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, doch als sie hektisch danach greifen wollte, ging ihr Griff ins Leere. Beim Sturz über die kurze Treppe hatte sie sie verloren. Ein Schrei von der Tür her lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder Richtung Hütte. Obwohl sie die Bilder vor Ihren Augen immer noch ziemlich verschwommen wahrnahm, konnte sie Tony erkennen, der langsam stark hinkend auf sie zukam. Normalweise hätte sie ihn sofort angegriffen, aber im Augenblick, fühlte sie sich dazu noch nicht in der Lage. Der Schlag hatte sie doch mehr mitgenommen, als es ihr lieb sein konnte. `Auf dem Boot sind noch Waffen!´ Der Gedanke setzte sich in ihrem Kopf fest. Caulder´s Waffe und ihr Messer waren in der Kiste unter dem Steuersitz verstaut. An die musste sie herankommen. Wenn sie das schaffte, dann hatte sie eine Chance. Und so wie es aussah, hatte Tony massive Probleme mit dem Vorwärtskommen. Rebekka riss sich zusammen und kam schwankend sie auf die Beine. Nicht minder taumelnd als Tony setzte sie sich schwerfällig in Richtung Ufer in Bewegung.

***************

Nach dem ersten Schlag, mit dem er Rebekka nach draußen geschleudert hatte, wollte Tony der Israelin sofort nachsetzen, doch er hatte – vermutlich durch den Adrenalinstoß – tatsächlich für einen kurzen Augenblick seine diversen Verletzungen komplett ausgeblendet. Bei der schnellen Bewegung, mit der er sich umdrehte, jagte der Schmerz wie ein heißer Blitz durch sein Knie und hätte ihn fast stürzen lassen. Im letzten Moment fing er sich an der Tür ab und stieß einen heiseren Schmerzensschrei aus. Wut und Schmerz trieben ihm die Tränen in die Augen, als er sich bewusst wurde, wie schwach er eigentlich war. Die Tränen brannten in seinen Augen und verschleierten ihm den Blick. `Verdammt noch mal! Bring es zu Ende!´, feuerte er sich selber in Gedanken an und mit zusammengebissenen, knirschenden Zähnen humpelte er Schrittchen für Schrittchen auf Rebekka zu; den Holzbalken, mit dem er sie niedergeschlagen hatte, nutzte er dabei als Krücke. Doch noch ehe er die lächerlichen drei Stufen hinunter gekommen war, hatte sich seine Feindin aufgerappelt und entfernte sich jetzt schwankend in Richtung Boot. Tony registrierte diese Tatsache mit Verwunderung. Es war sonst gar nicht Rebekkas Art, einem Kampf aus dem Weg zu gehen. Niemand wusste besser als Tony, dass diese Frau einen geordneten Rückzug als ein Zeichen der Schwäche ansah. Und Schwäche war etwas, dass sie sich selber nie zugestehen würde. Also, was hatte das zu bedeuten? Hatte er sie womöglich doch schlimmer erwischt, als es im ersten Augenblick ausgesehen hatte? Oder plante sie gerade ihren nächsten miesen Schachzug?

Wie auch immer – er musste es herausfinden und dazu musste er ihr unbedingt so dicht wie möglich auf den Fersen bleiben. Er durfte ihr keine Zeit lassen! So schnell es Tony eben möglich war, folgte er ihr mehr vor sich hin stolpernd als gehend und war schließlich nur noch wenige Schritte hinter ihr, als Rebekka merkwürdig ungelenk auf das Boot kletterte und kurz darauf hektisch in einer Kiste zu kramen begann.

***************

Immer noch war Rebekka´s Blick vernebelt. Kopfschmerzen hämmerten unerbittlich wachsend in ihrem Schädel und ließen sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Mehr fühlend als sehend wühlte sie mit beiden Händen fieberhaft in der Holzkiste herum, wobei die Tatsache, dass sie dabei ihren Kopf gesenkt hielt, bewirkte dass ihr das Blut aus der klaffenden Kopfwunde, die Tony ihr zugefügt hatte, ins Gesicht und in die Augen lief, was ihr die Sicht zusätzlich erschwerte. `Zum Teufel! Wo ist diese verdammte Pistole´ fluchte sie innerlich, doch sie konnte sie einfach nicht finden. Aber da! Da war ihr Messer! Das würde, nein, das musste ausreichen! Die keuchenden Atemzüge hinter ihr verrieten der Israelin, dass die Zeit knapp wurde. Tony näherte sich unerbittlich und so wie es sich anhörte, war er bereits in unmittelbarer Nähe. Schnell zog sie das Messer aus der Scheide und drehte sich – immer noch extrem unsicher auf den Füßen – nach ihrem Verfolger um …

 

 

Bei Gibbs und Caine – Irgendwo in den Everglades

Seitdem Joe sein Airboat hinaus auf die Glades gesteuert hatte, hatte Gibbs seine Position seitlich vorne nicht verlassen. Während seine Augen nach wie vor zielgerichtet sowohl Wasserfläche, wie auch Uferregionen – sofern sie sich solchen näherten – beobachteten, fuhren seine Gedanken Achterbahn. Es war merkwürdig. Er verstand es einfach nicht. Joe machte seinen Job gut und das Airboat schoss pfeilschnell immer weiter in die Glades hinaus. Sollte er sich da nicht langsam besser fühlen – zuversichtlicher, weil sie ja Tony auf diese Art womöglich endlich näher kamen? Eigentlich schon, befand er nach wiederholtem Nachdenken. Außerdem hatte sie eben die Nachricht von Wolfe an Horatio erreicht, dass er und Boa Vista die Tankstelle gefunden hatten, wo Rebekka sich in der letzten Zeit mit Benzin eingedeckt hatte. Endlich eine greifbare Spur – etwas wonach sie immerhin lange genug gesucht hatten. Die beiden Beamten würden nun nach dem Versteck des Wagens suchen und ihn auch sicherlich früher oder später finden. Der Tag war schließlich noch jung. Sollte Rebekka die Chance zur Rückkehr noch bekommen, so würde sie bei ihrer Ankunft schon in Empfang genommen. Es ging also voran! Sie würden sie kriegen – heute noch – soviel stand fest. Horatio hatte die entsprechenden weiteren Anweisungen gegeben und eigentlich sollte ihn diese Nachricht, gekoppelt mit der Tatsache, dass sie gerade zu einer Insel unterwegs waren, die selbst der ortskundige Joe als gute Möglichkeit eingestuft hatte, jemanden zu verstecken, doch beruhigen.

Und doch war es nicht so! Eher das Gegenteil war der Fall und das beunruhigte den Grauhaarigen über die Maßen. Je länger sie unterwegs waren, desto mehr bekam er das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Nur was? Himmel, er musste diesen Gedanken zu packen kriegen, bevor es womöglich zu spät war.

Plötzlich – von einer Sekunde zur anderen – hatte er es glasklar vor Augen und wie elektrisiert brüllte er Joe gegen den Fahrtlärm zu. „STOP!“

Offensichtlich verstand der Indianer ihn nicht gleich, denn er drehte sich lediglich mit fragendem Gesichtsausdruck zu Gibbs um, der ihm wilde Handzeichen gab und dabei um Haaresbreite ins Wasser gestürzt wäre.

„STOP! Halten Sie sofort an! Nicht weiterfahren!“

„Was? Aber wieso denn?“

„HAL TEN SIE DEN MO TOR AN! SO FORT!“

Der Indianer zuckte mit den Achseln und stoppte den Motor, der knatternd zur Ruhe kam. Schweigend wartete er dann auf eine Erklärung oder weitere Anweisungen.

Auch Horatio war verwundert über Gibbs´ heftige und plötzliche Aktion. Doch im Gegensatz zu Joe, verlangte er zu wissen, was in den Mann vom NCIS gefahren war. „Haben Sie etwas entdeckt?“, erkundigte er sich vorsichtig.

„Nein! Und das werden wir auch nicht, verdammt! Weder hier noch auf dieser Insel! Wir sind auf dem falschen Weg!“

„Aber wieso! Wie kommen Sie darauf?“

„Caine, sehen Sie das denn nicht? Diese Frau ist mit allen Wassern gewaschen. Die Sache mit dieser Insel, wo sie angeblich ihre Vogelforschungen durchführen wollten, ist ein Fake. Sie hat damals schon weiter gedacht! Sie konnte sich ausrechnen, dass Joe, wenn wir irgendwann auf ihn stoßen würden, sich früher oder später genau an diese Insel erinnern würde. Eben weil sie sie so angepriesen hat. Sie hat ihn von Anfang an manipuliert – wie sie es mit zig anderen Menschen schon x-Mal zuvor gemacht hat. Niemals würde sie so offen einen Ort gutheißen, wo sie vorhat, später Geiseln unterzubringen!“

Caine legte den Kopf schief. „Hmm, das leuchtet ein“, stimmte er Gibbs nach kurzem Nachdenken zu. „Aber das bedeutet jetzt auch, dass wir ein neues Problem haben.“

„Allerdings“, mischte sich Joe von seiner Steuerkanzel aus mit säuerlichem Gesichtsausdruck ein. Offenbar missfiel ihm der Gedanke, dass ihn ausgerechnet diese kleine zierliche Frau so aufs Glatteis geführt hatte, sehr. „Mal losgelöst davon, dass wir hier jetzt völlig umsonst so weit raus gefahren sind…wie soll´s denn jetzt weitergehen? Wo sollen wir hin? Zurück?“

„Nein, natürlich nicht!“, antwortete Gibbs knapp, der inzwischen schon längst weitergedacht hatte. „Joe, denken Sie jetzt mal scharf nach. Wir suchen nach einem Ort hier in den Glades. Vermutlich eine Insel. Einsam, abgelegen, aber nicht zu sehr – immerhin hat sie in Kauf genommen, jeden Tag hin und her zu fahren und sie wird nicht stundenlang unterwegs sein wollen. Es muss außerdem ein Ort sein, der abseits der Touristenrouten liegt. Also nichts, wo die Airboote anlegen, weil dort z.B. seltene Tiere nisten oder lagern. Trotzdem denke ich, dass es dort eine üppige Vegetation gibt – sie muss immerhin das gestohlene Boot tagsüber verstecken.“

„Klingt logisch“, meinte Caine. „Wie sieht es aus, Joe? Fällt Ihnen dazu etwas ein?“

Der Indianer dachte intensiv nach und plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck.

„Was ist?“, fragte Gibbs alarmiert. „Ihnen ist doch was eingefallen, ich seh´s Ihnen an. Los, raus mit der Sprache, Mann! Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

 

93. Kapitel

7.17 h – Endgame – Teil II

Als Tony endlich – nach einer ihm endlos vorkommenden Zeitspanne – das Airboat am Ufer erreicht hatte, sah er die ehemalige Mossad-Agentin vor sich knien und wie wild in einer Holzkiste herumsuchen. Jetzt! Das war seine Chance. Doch just in dem Augenblick, als er zur Tat schreiten wollte, drehte sie sich zu ihm um und das Licht reflektierte die Klinge des Messers, das sie in der Hand hielt. Dieses verfluchte Weibsstück, schoss es ihm durch den Kopf. Es blieb ihm keine Zeit, sich noch besser zu positionieren, also holte er wild entschlossen und mit dem Mut der Verzweiflung zum Schlag aus und ließ das Holz niedersausen…

***************

Mit einem wüsten Aufschrei ließ Rebekka sich reaktionsschnell zur Seite fallen. Trotzdem traf sie Tony´s Schlag hart auf der Schulter und lähmte fast ihren Arm. Zu DiNozzo´s Unglück leider nicht den, mit dem sie das Messer führte! „Du Ratte!“, fauchte sie. „Dich mach´ ich fertig!“ Blindlings stieß sie mehrmals in Richtung ihres Angreifers zu und beim vierten Mal gelang es dem Agent nicht mehr, rechtzeitig auszuweichen und sie erwischte Tony seitlich an der Hüfte.

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Mehrmals war es Tony gelungen, Rebekka´s Klinge auszuweichen, als seine Intimfeindin zum vierten Mal ihre Hand mit dem Messer in seine Richtung schnellen ließ. Aus den Augenwinkeln registrierte er den völlig irrationalen, irren Ausdruck in ihren Augen und hörte das tiefe Grollen, das aus ihrer Kehle aufstieg. In diesem Moment glich sie mehr einem tollwütigen Tier, denn einem Menschen! Keine Zeit! Du hast keine Zeit, hämmerte sein Instinkt ihm ein und Tony tat das, was er in jahrelanger Arbeit von Gibbs gelernt hatte. Spätestens in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er sich nicht den Bruchteil einer Sekunde eine Unaufmerksamkeit erlauben durfte. Wenn es jemals in seinem Leben wichtig gewesen war, zu funktionieren wie ein Roboter, dann jetzt! Für Anna! Für sich! Um ihrer beider Leben willen!

Wieder gelang es ihm reflexartig vor der tödlichen Klinge zurück zu weichen, doch dieses Mal spielte sein verletztes Knie nicht mehr mit und knickte aus heiterem Himmel seitlich weg. In letzter Sekunde fing er sich, doch er konnte nicht verhindern, dass ihn das Messer zumindest oberflächlich erwischte. Ein spontaner heiserer Schrei kam über seine Lippen, der Rebekka dazu veranlasste, kurz hysterisch zu kichern. Automatisch fuhr Tony´s Hand an seine Hüfte und tastete die neue Verletzung ab. Der Schnitt war tief, aber offensichtlich nicht weiter gefährlich. Das Problem war nur, dass er sofort heftig zu bluten zu begann. Tony erkannte aber, dass er ihm keine Zeit blieb, weiter darüber nachzugrübeln, was dieser Blutverlust für seinen ohnehin schon sehr geschwächten Zustand bedeuten konnte, denn schon sauste Rebekka´s Klinge erneut in seine Richtung, doch diesmal erwischte er den Arm seiner Kontrahentin und lenkte ihn grob zur Seite, was diese mit einem unwilligen Schmerzenslaut quittierte. Tony hatte den Holzbalken instinktiv fallen gelassen und klammerte sich nun mit beiden Händen an Rebekkas Arm fest, um zu vermeiden, dass sie ihn ein weiteres Mal erwischte. Bereits jetzt spürte er, wie der Blutverlust ihm zusehends zu schaffen machte. Ihm war schwindlig und er fror. Trotz seiner Kopfschmerzen schüttelte ein paar Mal kräftig seinen Kopf, um wieder klar zu werden, während er gleichzeitig noch fester zupackte um zu verhindern, dass Rebekka wieder frei kam.

Durch diesen kurzen Augenblick der Unachtsamkeit entging ihm, dass Rebekka durch den Schwung, den sie in ihren Angriff gelegt hatte und durch die abrupte unnatürliche Körperhaltung ins Straucheln geriet. Sie riss Tony mit sich und beide stürzten mit lautem Klatschen ins Wasser. Tony glaubte in flüssiger Lava zu baden, als das Salzwasser mit den offenen Wunden seiner Blasen und Striemen in Berührung kam. Er schnappte nach Luft und brüllte laut und unbeherrscht wie ein tödlich getroffenes Raubtier auf. Gleichzeitig ließ er Rebekkas Arm los und taumelte mit schmerzverzerrtem Gesicht rückwärts bis ihn die leicht ansteigende Uferböschung abrupt stoppte und ihn hart auf den Rücken fallen ließ, während Rebekka mit dem Kopf unter das Wasser geriet.

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Die Israelin kam prustend hoch und registrierte, dass der Arm, mit dem sie das Messer führte, plötzlich wieder frei war. Sie schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht und blickte sich schnell nach Tony um. Wo zum Teufel steckte diese kleine miese Ratte? Beim Sturz ins Wasser hatte sie die Orientierung verloren und immer noch sah sie alles um sie herum undeutlich. Sie drehte sich hektisch einmal um die eigene Achse und entdeckte DiNozzo schließlich nur wenige Meter von sich entfernt… Offensichtlich taten die zahlreichen Verletzungen, seine Schmerzen, der Blutverlust und das Salzwasser in den Wunden endlich seine Wirkung. DiNozzo wirkte wie gelähmt. Zur Salzsäule erstarrt lag er zitternd im seichten Wasser der Uferböschung und fixierte sie mit weit aufgerissenen, beinahe irren Augen. Sehr gut! Es war deutlich zu sehen, dass er unter einem schweren Schock stand! „Na“, flüsterte sie gehässig in seine Richtung. „Ich hatte es mir zwar etwas anders vorgestellt, aber nun gut: Immerhin siehst du jetzt dem Tod direkt ins Auge…im wahrsten Sinne des Wortes“, fügte sie mit einem bösen Kichern hinzu. Damit tat sie den ersten Schritt in Richtung des Mörders ihres geliebten Bruders – in der sicheren Gewissheit, dass nun unwiderruflich sein letztes Stündlein geschlagen hatte…

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Obwohl ihn der irrsinnige Schmerz fast bewusstlos werden ließ und das Salzwasser auf seiner Haut sich anfühlte, als würde es sich gerade bis auf seine Knochen durchfressen, gab Tony nicht auf. Mit äußerster Willenskraft konzentrierte er sich wieder auf Rebekka. Auf dem Rücken liegend und mit sich heftig hebenden und senkenden Brustkorb starrte er mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf die gespenstische Szene, die sich da gerade vor ihm anbahnte. Dass Rebekka mit ihm sprach, bekam er vor lauter Adrenalin, das in seinen Ohren wie ein tosender Wasserfall rauschte, gar nicht mehr richtig mit …

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Langsam, fast bedächtig, hob Rebekka den Arm mit dem Messer. Sie verzögerte kurz, bevor sie den Arm dann plötzlich nach vorne schnellen ließ und dabei laut „HA“, schrie. Tony zuckte noch nicht einmal, was sie jetzt doch ein wenig irritierte. Er lag immer noch still in unveränderter Position an der Uferböschung und rührte sich nicht von der Stelle. Seine in Panik weit aufgerissenen Augen sagten ihr, dass dieser Trottel anscheinend endlich begriffen hatte, dass er sie nie würde bezwingen können. Niemals! Offenbar hatte er sich in das Unvermeidbare gefügt und erwartete nun ihren Todesstoß. Ein triumphierendes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht – wenn er in diesem Zustand blieb, konnte sie ja vielleicht doch noch ein wenig mit ihm spielen…

Kreisförmige Wasserbewegungen, die sich von hinter ihr auf das Ufer zu bewegten und ein leises Plätschern störten plötzlich Rebekka´s Konzentration und ließen sie mitten in der Bewegung abrupt inne halten. Was zum Teufel war das nun wieder? Wer wagte es…??? Als sie den Kopf zur Seite drehte, um zu sehen, was da los war, erstarb ihr Lächeln mit einem Mal und ihr Blut gefror binnen Bruchteilen von Sekunden zu Eis …


Zeitgleich - Bei Gibbs und Caine – Irgendwo in den Everglades

„Na los“, drängte Gibbs den Indianer. „Nun sagen Sie schon, was Ihnen durch den Kopf geht.“

„Na ja…“, antwortete Joe gedehnt. „Jetzt, wo Sie es sagen. Es gibt da tatsächlich zwei, drei kleine Inseln, die genauso sind, wie Sie es eben beschrieben haben.“

„Und? Waren Sie mit ihr dort?“

„Nicht direkt, aber soweit ich mich erinnere, sind wir daran vorbeigefahren, als ich mit den beiden unterwegs war. Allerdings haben wir dort weder angehalten, noch haben sie ein besonderes Interesse daran an den Tag gelegt. Daher dachte ich nicht, dass das Areal wichtig für Sie sein könnte.“

Der Teamleiter horchte in sich hinein und registrierte, dass sein Instinkt deutlich anschlug. Dieses Mal waren sie auf dem richtigen Weg – er spürte es genau! Zu dumm nur, dass Joe von mehreren kleinen Inseln gesprochen hatte. „Das ist es!“, sagte er daher bestimmt und warf Caine einen schnellen Blick über die Schulter zu. „Auf einer dieser Inseln hält sie die beiden gefangen!“

Der rothaarige Beamte nickte. „Ja, das denke ich auch“, antwortete er ruhig und wendete sich dann an Joe. „Geben Sie Gas – wir werden zuerst zu der Insel fahren, die von hier aus am schnellsten zu erreichen ist.“ Irgendeine Entscheidung musste ja diesbezüglich getroffen werden und er hatte dies just in diesem Augenblick getan. Ob sie richtig war, vermochte er nicht zu sagen – aber er wusste, dass keiner der beiden anderen Männer eine bessere Entscheidung hätte treffen können. Dass er hiermit richtig lag, bewies ihm auch das zustimmende Kopfnicken des grauhaarigen NCIS-Agents, dem er – obwohl er ihn erst so kurze Zeit kannte – den größten Respekt entgegenbrachte und auf dessen Fähigkeiten er große Stücke hielt.

„In Ordnung“, sagte Joe und startete den Motor seines Airboates, der mit dem üblichen Lärm zum Leben erwachte. „Es ist nicht allzu weit. Halten Sie sich fest – es geht los.“

 

94. Kapitel

7.19 h – Endgame – Teil III

Unmittelbar hinter Rebekka glitt fast lautlos und beinahe elegant ein riesiger Alligator langsam und bedächtig auf sie zu, wobei er sein potenzielles Opfer keine Sekunde aus den Augen ließ. In dem Moment, als sie den Kopf in seine Richtung wandte, hatte er die Israelin erreicht, klappte übergangslos seine gigantischen Kiefer auf und schlug sie in ihren linken Arm und die Schulter. Ein markerschütternder Schrei drang aus Rebekkas Kehle, als die Urzeitechse sie mit einer ruckartigen Bewegung von den Füßen und mit sich riss. Unfähig zu einer Bewegung sah Tony, wie die Israelin versuchte, mit dem Messer auf den dicken Panzer des Tieres einzustechen, aber da setzte der Alligator bereits zu seiner Todesrolle an. Wie oft hatte er dieses Spektakel schon in Dokumentationen im Fernsehen gesehen, doch jetzt live dabei zu sein, versetzte ihn in ein geradezu ungläubiges Staunen und Entsetzen.

Wild spritzte das Wasser auf, als sich die Echse mit ihrer Beute immer wieder über die eigene Achse rollte. In Abständen von wenigen Sekunden waren zwischendurch immer wieder Rebekkas panische Schmerzensschreie zu vernehmen, die gleich darauf wieder von den über ihr zusammenbrechenden Wellen, die die Rollen verursachten, gurgelnd erstickt wurden. Das Wasser war mittlerweile rot gefärbt von Rebekkas Blut, das sich in immer größer werdenden Kreisen ausbreitete, als urplötzlich für ein paar Sekunden eine tödliche Ruhe einkehrte. Selbst das tosende Rauschen in Tony´s Ohren verstummte. Zu atmen wagte er schon seit…er hatte keine Ahnung, wie lange er schon, gleichermaßen fasziniert, aber auch abgestoßen vom Todeskampf Rebekka´s, die Luft anhielt.

Noch einmal tauchte der Oberkörper der Israelin kurz aus dem Wasser auf und makabererweise blickten ihre Augen geradewegs in Tony´s Richtung. Ihr linker Arm mit einem Teil der Schulter war komplett abgerissen, Sehnen, Knochen und Gewebe lagen offen und hingen seltsam zerfranst an ihrer Seite herunter. Ihr Gesicht war in einem stummen Schrei verzerrt, als Tony plötzlich den Eindruck hatte, als würde sie ihn tatsächlich bewusst wahrnehmen. Selbst im Todeskampf drückte ihre mittlerweile schmerzverzerrte Fratze ihren grenzenlosen Hass aus. Sie öffnete ihren Mund, um einen letzten Fluch, eine letzte Verwünschung gegen ihren Todfeind auszustoßen:

„Du…du…du verfluchter Scheißk…“

Es blieb ihr keine Zeit, den Satz zu Ende zu bringen!

Mit blankem Entsetzen erlebte Tony nun mit, wie im nächsten Augenblick der Alligator seinen Oberkörper erneut mit einem einzigen kräftigen Schwanzhieb aus dem seichten Wasser hoch katapultierte, den Rachen weit aufgerissen und bereit, sein tödliches Werk zu vollenden. Mit einem vernehmlichen Krachen ließ er seine Kiefer zuschnappen und durchbohrte diesmal Rebekkas Brustkorb auf breiter Fläche mit seinen unzähligen, spitzen Zähnen so leicht, als sei sie kein Mensch, sondern eine weiche Stoffpuppe. Beide, der tierische Angreifer und sein menschliches Opfer klatschten in einer fließenden Bewegung zurück auf die Wasseroberfläche und nachdem die Echse den Kopf mit der Beute in seinem Maul noch zwei-, dreimal wüst hin und her geschlagen hatte, war auch der letzte erstickte Laut, den Rebekka Rivkin vielleicht noch hatte von sich geben wollen, bereits im Ansatz erstickt. Der Alligator hatte den ungleichen Kampf gewonnen und riss seine Beute unnachgiebig mit sich in die Weiten der Everglades fort.

Nur kurze Zeit später, war das Wasser wieder ruhig und der Alligator mit Rebekka verschwunden. Nur die roten Schlieren, die sich verzerrt über das Wasser zogen, zeugten noch von dem Drama, das sich eben hier ereignet hatte. Tony lag immer noch fassungslos an der Uferböschung und starrte auf die Wasseroberfläche vor seinen Augen. Einzig und allein seiner Atmung hatte er, der Not gehorchend, erlaubt wieder einzusetzen und so hob und senkte sich sein Brustkorb jetzt in einem wahnsinnigen Stakkato. Leise pfeifend atmete er ein und aus, ein und aus und ein und aus. Immer wieder und immer lauter, so als müsse er sich selbst beweisen, dass er noch am Leben war. Sein Schmerzempfinden schien für den Moment außer Kraft gesetzt, während er mit aller Macht und Gewalt versuchte, das soeben erlebte zu verarbeiten. Erst als plötzlich etwas seine Beine, deren Enden immer noch im seichten Wasser der Böschung lagen, streifte, zuckte er wie von einem Stromschlag getroffen zusammen und ruckte zurück. Seine Augen weiteten sich und er musste ein Würgen unterdrücken, als er nach einem panischen Kontrollblick feststellte, dass da gerade Rebekka´s abgerissener Arm an ihm vorbeigeschwommen war. Ein beinahe hysterisches, sich fremd anhörendes Kichern entwich seiner Kehle. Reiß dich zusammen, DiNozzo! Das ist ein Befehl, versuchte er sich einzuhämmern, doch es fiel ihm schwer, seinem eigenen Befehl Folge zu leisten.

Das Einzige, was sein Geist mehr und mehr realisierte war, dass es vorbei war. Rebekka Rivkin war tot! Dieses Mal konnte er sich dieser Tatsache ganz sicher sein! Sie konnte ihm nichts mehr anhaben! Nie mehr! Das war alles, was in diesem Augenblick zählte.

Das Einzige, was sein Geist mehr und mehr realisierte war, dass es vorbei war. Rebekka Rivkin war tot! Dieses Mal konnte er sich dieser Tatsache ganz sicher sein! Sie konnte ihm nichts mehr anhaben! Nie mehr! Das war alles, was in diesem Augenblick zählte.

Das war es doch, oder?


7.20 h – Bei Gibbs und Caine

Auf dem schnellsten Weg hatte Joe die zwei Polizisten zu der ersten der kleinen Inseln gebracht, die er als Versteck für die Entführten für denkbar hielt. Der Indianer hatte das Boot kaum an der flachen Böschung angelegt, da sprangen Gibbs und die anderen sofort an Land. Beide hatten ihre Waffen gezogen und drangen nun leicht gebückt ins Dickicht vor. Joe hatte noch während der Fahrt den strikten Befehl erhalten bei seinem Airboat zu warten und dieses unbedingt startklar zu halten. Gibbs hatte außerdem dafür plädiert, den Bootsführer mit einer Waffe auszustatten, damit dieser sich im Notfall verteidigen konnte. Horatio Caine hatte dieser etwas unüblichen Bitte nach einem kurzen Zögern zugestimmt und so stand Joe jetzt – mit der geladenen und entsicherten Reservewaffe Caine´s ausgerüstet – neben seinem Boot und beobachtete etwas unbehaglich, wie die Beamten zu ihrer Suche aufbrachen. Als der Mann vom Miami PD ihm seine Waffe in die Hand gedrückt hatte, nicht ohne sich zuvor zu vergewissern, dass er auch damit umgehen könne, hatte er das ganze Spektakel um diese Frau ja noch für leicht übertrieben gehalten, aber jetzt…wo er plötzlich hier so ganz auf sich alleine gestellt war, wurde ihm doch ein wenig mulmig zumute. Hoffentlich brach diese Furie nicht wie der Teufel aus dem Gebüsch und ging auf ihn los. Er hatte keine Ahnung, wie er dann reagieren würde, auch wenn die Beamten hartnäckig auf ihn eingeredet hatten, bei einem Angriff nicht zu zögern. Es ging nicht ums Schießen. Nein, er war ein Indianer, verdammt. Schon als Kind hatte sein Vater ihn von Zeit zu Zeit mit auf die Jagd genommen – natürlich konnte er mit einer Waffe umgehen. Doch auf einen Menschen zu schießen – noch dazu auf eine Frau...? Joe zweifelte ernsthaft, ob er das zuwege bringen könnte und so hoffte er für´s Erste einfach, dass es nicht dazu kam.

Die Beamten hatten inzwischen den Uferbereich und das Dickicht hinter sich gelassen und waren in den inneren Bereich der kleinen Insel vorgedrungen. Sie standen vor einer etwas größeren Lichtung, die bereits voll in der Morgensonne lag und verlassen wirkte. Das wenige Gras wirkte verdorrt und so wie es schien hatte sich seit Jahren niemand mehr hierher verirrt. Es gab keine Hütte und weit und breit nichts sonst, was einem irgendwie Schutz vor der um die Mittagszeit sicher flirrenden Hitze geboten hätte.

Zutiefst enttäuscht ließ Gibbs seine Waffe sinken und strich sich nachdenklich mit der anderen Hand über den Kopf. Bereits jetzt klebte ihm das Hemd am Körper und er spürte, wie sich einzelne Schweißtropfen den Weg über die Wirbelsäule in Richtung Hose bahnten. Er hielt es für äußerst unwahrscheinlich, dass Rebekka ihre Geiseln hier versteckt hielt. Wo sollte sie das tun? Auch sie und Caulder brauchten schließlich einen Schutz vor der Hitze – etwas, wohin man sich zumindest zeitweise zurückziehen konnte und das gleichzeitig einen Sichtschutz auf die Geiseln von oben bot. So wie er das sah, war das hier unmöglich! Ein Seitenblick auf den rothaarigen Mann von Miami PD bestätigte ihm, dass dieser ähnlich dachte. „Was ist?“, fragte er trotzdem. Immerhin kannte Caine sich in dieser Gegend deutlich besser aus, als er. „Macht es Sinn, wenn wir uns auch noch zur anderen Seite durchschlagen?“

Caine schüttelte wie erwartet den Kopf. „Wenn Sie mich fragen, verschwenden wir hier nur unsere Zeit.“

„Das sehe ich auch so – also los…machen wir uns auf den Rückweg!“

 

95. Kapitel

7.22 h – Bei Tony und Anna

Plötzlich spürte Tony, wie jemand an seinen Schultern zog und versuchte, ihn nach hinten zu reißen. Nach und nach drangen auch die verzweifelten Schreie und Rufe zu ihm durch, die Anna hinter ihm ausstieß, während sie hektisch versuchte, ihn die Böschung hinaufzuzerren. Abrupt kehrte er in die Realität zurück…

„Anna, was zum Teufel…!“

****************

Rückblick:

Als Rebekka mit einem Ruck die Tür aufgestoßen und von Tony niedergeschlagen worden war, hatte Anna ihren Kopf unter ihren Armen verborgen. Ihre Angst vor der eiskalten Israelin war inzwischen grenzenlos und so hatte sie ihrem Instinkt gehorcht, der ihr gesagt hatte, dass sie vom Geschehen um sie herum am liebsten gar nichts mitbekommen wollte. Lieber wollte sie schnell und möglichst schmerzlos sterben, als womöglich weiter den Gemeinheiten dieser Frau ausgesetzt zu sein und irgendwie hatte sie nicht geglaubt, dass es Tony in seinem Zustand mit ihr aufnehmen konnte. Und ganz bestimmt wollte sie ihren neuen Freund auch nicht sterben sehen! Also hatte sie schlichtweg versucht, alles auszublenden, was ihr jedoch nur bedingt gelungen war. Sie hatte Geräusche, Schläge, schmerzvolles Aufstöhnen und laute Schreie gehört, bis dann urplötzlich eine beinahe schon unnatürliche Stille in der Hütte eingekehrt war.

Für Anna war es eine zusätzlich Angsteinflößende Stille. Nur langsam und zögernd hatte sie gewagt, ihren Kopf zu heben und sich vorsichtig umzusehen. Aber außer ihr und Sam Caulders Leichnam, der nach wie vor in einer Ecke lag, war niemand mehr hier gewesen. Sie war allein und unwillkürlich fragte sie sich, was mit Tony war. Zaudernd war sie aufgestanden und zur Tür getreten. Sie hatte gesehen, wie Rebekka gerade auf das Boot sprang und Tony nur wenige Schritte hinter ihr war. Für einige Augenblicke war sie wie gelähmt gewesen und hatte nur starr vor Entsetzen auf Tony blicken können und das Bild, das sich ihr dort draußen dargeboten hatte, hatte sich wohl für alle Zeiten unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt. Oh Gott, was machte er da? Wollte er sich denn mit aller Macht und Gewalt umbringen lassen? Er durfte sie doch nicht einfach hier zurücklassen? Nicht er! Er war nicht so, wie die vielen Autofahrer, die sie damals geschändet am Straßenrand hatten liegen sehen und von denen niemand angehalten hatte. Kein Einziger hatte gestoppt, um ihr zu helfen! Aber Tony hatte sich um sie gekümmert, hatte sie beschützen wollen. Wieso handelte er jetzt so! Setzte so kompromisslos sein Leben aufs Spiel? Er sollte doch bei ihr bleiben! Er durfte sie einfach nicht alleine lassen! Er musste doch auch an seine Verlobte denken!

Es war Anna schlichtweg unmöglich erschienen, dass Tony diese ungleiche Auseinandersetzung würde gewinnen können und doch schien er keinen Augenblick zu zögern. Er hatte ihr einen Blick zugeworfen und ihr war es fast so vorgekommen, als wolle er sich von ihr verabschieden. Himmel, er hatte in diesem Moment so elend ausgesehen. Er war auch kaum noch von der Stelle gekommen und hatte schrecklich gehinkt. Trotzdem er den Holzscheit, den er zuvor als Waffe genutzt, jetzt als Krücke benutzte, hatte er ausgesehen, als ob er jede Sekunde zusammenbrechen würde.

Dieser Anblick hatte genügt, um Annas Lebensgeister wieder zu motivieren und ihre Angst endgültig in den Hintergrund zu drängen. Das Bewusstsein, dass sie Tony helfen musste, hatte sich mit aller Macht wieder in den Vordergrund ihres Denkens gedrängt. Wie konnte sie Hilfe erwarten, wenn sie selber nicht dazu bereit war, zu helfen? Sie war die drei Stufen hinunter gesprungen, als sie im Augenwinkel kurz Metall hatte aufblitzen sehen. Da! Da lag Rebekkas Waffe! Diese Teufelin in Menschengestalt musste sie beim Sturz verloren haben – oder Tony hatte sie ihr aus der Hand geschlagen! Egal – Hauptsache, sie hatte nun keine Waffe mehr! Dann konnte sie Tony wenigstens nicht erschießen! Die Gedanken waren in Annas Kopf nur so durcheinander gepurzelt. Eine Waffe… dort lag eine Waffe… Sie hatte nur wenige Sekunden gezögert, dann war sie mental dazu bereit gewesen, das todbringende Gerät aufzuheben und damit in Richtung Boot zu laufen. Dabei hatte sie eines ganz klar vor Augen gehabt: Wenn es nötig war, würde sie abdrücken, bei Gott, sie würde schießen! Sie würde alles tun um Tony zu helfen! Nach allem, was er für sie getan hatte, hatte er es ganz gewiss nicht verdient, dass ausgerechnet sie ihn jetzt im Stich ließ.

Als Anna fast beim Wasser angekommen war, kam sie gerade noch zurecht um mitzuerleben, wie Rebekka von einem Alligator zerfetzt wurde und Tony offenbar bewegungsunfähig vor Entsetzen an der Uferböschung lag und selbst nachdem der riesige Alligator mit seinem Opfer längst das Weite gesucht hatte, zu keiner Regung fähig schien. Dass auf der seinen Blicken abgewandten Seite das Wasser plötzlich wieder begann, sich sachte in sanft schaukelnde Wellen zu teilen, bis plötzlich die Oberfläche eines langen schuppigen Körpers erschien, von dessen Kopf nur zwei stiere Augen unmittelbar über der Wasseroberfläche zu sehen waren, die stur ihr Ziel zu fixieren schienen, bekam er in seiner Starre gar nicht mit. Bestürzt hatte Anna daraufhin beobachtet, wie sich ein zweiter Alligator Tony – von ihm nach wie vor unbemerkt – von der Seite her lautlos näherte und ihr war klar geworden, dass sie eingreifen musste… Sofort!!!


7.22 h – Im Heli über den Everglades

Ziva schreckte hoch und blickte sich etwas verstört wegen der ungewohnten Umgebung um. Doch bereits Bruchteile von Sekunden später hatte sie sich wieder unter Kontrolle und wusste Bescheid – sie war eingeschlafen! Verdammt! Auch wenn es nur wenige Sekunden gewesen waren, das durfte doch wohl nicht wahr sein! Tony und Anna waren irgendwo dort unten in diesen endlosen Weiten gefangen und sie schlief hier? `Was zum Scharfrichter ist bloß los mit dir, Ziva David?´ schimpfte sie in Gedanken mit sich selber, während sie möglichst unauffällig versuchte, den verrutschten Kopfhörer wieder zu richten und ihre Konzentration wieder auf den Blick aus dem kleinen Seitenfenster zu lenken.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Dt. Eric Delko, der durchaus mitbekommen hatte, dass die dunkelhaarige Frau an seiner Seite kurz abgetaucht war.

„Ja! Ja, sicher“, fauchte Ziva ungehalten, ohne den Latino anzusehen. Es war ihr sichtlich unangenehm, dass der im Grunde Fremde neben ihr, ihren kurzen Moment der Schwäche offensichtlich mitbekommen hatte. Aber da seine Frage ehrlich besorgt geklungen hatte, fügte sie gleich anschließend etwas sanfter hinzu: „Was sollte denn sein?“

„Nichts, schon gut“, antwortete Delko, ohne weiter darauf einzugehen. Gedanklich zog er den Hut vor dieser ungewöhnlichen Frau. Sie wollte einfach nicht aufgeben, obwohl sie am Ende ihrer Kräfte und emotional über die Maßen betroffen war. Horatio hätte vermutlich ähnlich entschieden: Besser, jemanden im Rahmen der Möglichkeiten mitarbeiten zu lassen, als ihn vorläufig auszugliedern und damit zu riskieren, dass er – alleine auf sich gestellt – plötzlich außer Kontrolle geriet.

Doch die mittlerweile tief eingegrabenen, dunklen Ringe unter ihren Augen sprachen Bände. Zudem hatte er das Gefühl, dass mit jeder weiteren Minute, die verstrich, ohne dass sie Ergebnisse vorzuweisen hatten – egal, wie immer diese auch aussehen mochten – die akute Gefahr bestand, dass der Vulkan, der in ihrem Inneren brodelte, ausbrach. Für den kurzen Augenblick der Unachtsamkeit, den sich ihr müder Körper und ihr ausgebrannter Geist einfach von ihr geholt hatten, verteufelte sie sich nun gerade selber und er sollte jetzt nicht noch zusätzlich Salz in die Wunden streuen, indem er ihr gut gemeinte Ratschläge gab, die sie sowieso nicht umsetzen würde. Und wer konnte ihr das verdenken? Er ganz sicher nicht. Er war der Allerletzte, der jemandem deswegen Vorwürfe machen würde. Er konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie Calleigh ihm erzählt hatte, was sie für Todesängste ausgestanden hatte, als er nach dem Kopfschuss im Krankenhaus lag und zunächst niemand sagen konnte, ob er überleben und wie es mit ihm weitergehen würde. Und auch er kannte das Gefühl dieser Angst um eine Freundin und Kollegin nur allzu gut. Es war eine irrationale Angst – eine, die sich nicht wirklich packen ließ, eine Angst, die einen schier lähmte, während sie einem gleichermaßen keine Sekunde der Ruhe gönnte, sondern einen unbarmherzig immer weiter voranpeitschte. Ja, es war mit die schlimmste Art der Angst, die einen befallen konnte, weil sie einem jegliche Kraft aussaugte – mental und körperlich – und man schließlich platt wie ein geplatzter Ballon zurückblieb. Er verstand die Frau an seiner Seite nur zu gut, er wusste, welche Kraft sie auf der einen Seite antrieb und wie viel Kraft sie das andererseits kostete. Er beschloss trotzdem, sie einfach weiter machen zu lassen – eben weil er wusste, dass sie weiter machen musste. Alles andere wäre kontraproduktiv und auf nichts Anderes würde die junge Frau an seiner Seite sich einlassen. Zu ihrer eigenen Sicherheit aber würde er sie von jetzt aus nicht mehr aus den Augen lassen! Delko warf der Israelin noch einen prüfenden Blick zu, der mit einem schiefen, gequält aussehenden Lächeln quittiert wurde.

„Wenn Sie mich weiter so anstarren, werden Sie dort draußen sicher nichts finden“, sagte Ziva leise und rief sich dabei ins Gedächtnis, was Dusquesne ihr über Eric Delko und sich erzählt hatte. Keine Frage, der Mann wusste wie es um ihr Gefühlschaos gerade bestellt war und er sorgte sich um sie. Doch bei aller Sorge sollten sie beide die Suche nach den Vermissten nicht
adeunus den Augen verlieren. Das hatte zurzeit absolute Priorität. Sie wandte sie wieder dem Seitenfenster zu und verfluchte das helle Licht, das selbst um diese frühe Tageszeit schon den Untergrund unter ihnen flimmern ließ und somit die Sicht leicht verzerrte und ihre Augen, trotz des Schutzes durch die Sonnenbrille, brennen ließ. Oder lag es an ihrer Müdigkeit? Oder womöglich an den Tränen, die permanent hinter ihren Augen drückten und ihr zusätzlich noch einen dicken Kloß im Hals und heftige Kopfschmerzen bescherten? Egal, was zählte war die Mission! Sie mussten Tony und Anna finden und das so schnell wie möglich!

Nichts anderes zählte! Schwäche konnte und würde sie sich erst erlauben, wenn sie die Mission zu einem – hoffentlich glücklichen – Ende gebracht hatten

 

96. Kapitel

7.30 h – Am Ufer der kleinen Insel bei Tony und Anna

„TONY! LOS! SCHNELL! Beeil dich, du musst aus dem Wasser raus!“, hörte Tony Anna hinter sich schreien. Sie hatte ihn unter den Achseln gepackt und zerrte nun wie wild an ihm. Doch um ihn wirklich ans Ufer zu hieven, war er viel zu schwer für die zart gebaute junge Frau. Zuerst verstand er auch überhaupt nicht, warum sie so hysterisch war, doch dann begriff er plötzlich und ihm wurde schlecht. Ein weiterer Alligator, noch größer als der, der Rebekka erwischt hatte, schwamm nur noch knapp 20 m von ihm entfernt auf den Uferbereich zu – und er hatte den Mann, der dort an der Uferböschung im seichten Wasser lag, eindeutig als Beute ausgemacht. Nachdem Tony erneut eine kurze Schockstarre zu verdauen hatte, warf er sich herum und kroch mit Anna´s Hilfe hektisch an Land zurück. Doch trotz aller Anstrengung schaffte er es nicht, auf die Beine zu kommen. Sein verletztes Knie verweigerte ihm endgültig den Dienst. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als über den Boden zu robben, so schnell er nur konnte, während die blonde Frau seinen Arm gepackt hatte und rigoros weiter an ihm zog. Dass er vor Schmerzen nicht einfach bewusstlos wurde, verdankte er vermutlich nur dem angesichts der tödlichen Bedrohung ausgeschüttetem Adrenalin. Trotzdem kamen sie viel zu langsam voran – sie hatten auf diese umständliche Art und Weise erst wenige Meter zurücklegen können, als die riesige Echse geschmeidig aus den Sümpfen an Land glitt. Ihr potenzielles Opfer ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen.

Panisch schrie Anna auf, als sich der Alligator in Bewegung setzte. Tony fuhr herum und starrte entsetzt auf das große Tier. Er besaß zwar kein umfassendes Wissen über Alligatoren, doch er hatte genug Dokumentationen gesehen, um zu wissen, dass er sich von der etwas schwerfällig wirkenden Fortbewegungsart des Tieres an Land nicht täuschen lassen durfte. So elegant und scheinbar mühelos sie durchs Wasser glitten, so schnell konnten sie sich auch auf dem Festland fortbewegen. Wenn es darauf ankam, dann konnten diese Viecher sogar rennen, was das Zeug hielt. Plötzlich – für den Bruchteil einer Sekunde – hatte er glasklar vor Augen was gleich mit ihm und danach vermutlich auch mit Anna geschehen würde. Sie waren am Ende! Er hatte erlebt, was vor wenigen Minuten mit Rebekka passiert war und er machte sich nichts vor: Nun würde es ihnen genauso ergehen …

All die Schmerzen, der Kampf und die Mühe, die sie sich gemacht hatten – alles umsonst! Am liebsten hätte er seinen Frust lautstark herausgeschrien, doch seine Kehle war wie zugeschnürt...


7.32 h – Bei Gibbs und Caine in den Everglades

Nachdem die beiden Beamten unverrichteter Dinge zurück gekommen waren, hatte ein erleichterter Joe sein Boot wieder gestartet und war nun mit den Männern unterwegs zur nächsten Insel, die, da sie nicht allzu weit von der anderen entfernt lag, bereits in Sichtweite war. Von unterwegs aus hatte Horatio Caine Funkkontakt mit dem Heli aufgenommen und auf diese Weise erfahren, dass auch Delko und Ziva noch keine brauchbaren Hinweise auf das Versteck der Entführten gefunden hatten. Gibbs´ Laune rauschte immer weiter in den Keller und spätestens jetzt wurde der grauhaarige Beamte Joe unheimlich. Der vermeintlich sanfte und ruhige Caine vom Miami PD war ihm deutlich lieber und wann immer es ging, wich der Indianer den strengen und forschenden Blicken von Gibbs aus und versuchte, sich voll auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er mochte sich gar nicht ausmalen, wie der Mann aus Washington reagieren würde, wenn sie am Ende des Tages immer noch nichts gefunden hätten. Verdammt noch mal: Er konnte doch auch nichts dafür! Er tat schließlich sein Bestes. Tag für Tag fuhr er so viele Touristen durch dieses Gebiet, dass es – seiner Meinung nach – wirklich ein bisschen viel von ihm verlangt war, sich noch Tage später an jede winzige Kleinigkeit zu erinnern. Er wollte ja helfen! Aber so einfach wie der grauhaarige Ex-Marine – dessen grimmiges Mienenspiel ihm mittlerweile wirklich ernsthafte Sorgen bereitete – sich das vorstellte, war es schlicht und ergreifend nicht.

Vorsichtig steuerte Joe den Uferbereich der zweiten Insel an, die auf den ersten Blick genauso aussah, wie die, wo sie kurz zuvor angehalten hatten und brachte sein Airboat unmittelbar darauf zum stehen. Das Boot war noch nicht ganz zur Ruhe gekommen, als die Beamten schon eilig mit jeweils einem großen Satz an Land gesprungen waren. Daraufhin spielte sich das gleiche Procedere ab, wie zuvor. Sie verschwanden mit gezückten Waffen zwischen den Mangroven, während Joe – ebenfalls bewaffnet – wartend zurückblieb. Kaum war der Suchtrupp außer Sichtweite, als ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss. --- Konnte das sein? War das wirklich möglich? --- Nein, eher nicht! Er schüttelte instinktiv den Kopf. Die Frau und der Mann hatten während der Fahrt schließlich beide vehement abgelehnt, dass die kleine verlassene ehemalige Wildererinsel geeignet für ihr Vorhaben wäre… Andererseits…was wenn das auch nur wieder eine ihrer Manipulationen gewesen war? Krampfhaft versuchte Joe sich das kurze Intermezzo in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurück zu rufen und je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wusste er, dass er die Beamten bei ihrer Rückkehr zumindest darüber informieren sollte – selbst, wenn das nicht unbedingt ein besonders gutes Licht auf ihn werfen und sich vermutlich der Zorn des Grauhaarigen endgültig auf ihn konzentrieren würde…


7.33 Uhr – Gerettet?

Plötzlich peitschten direkt neben Tony mehrere Schüsse durch die Luft! Einer fuhr dabei so dicht an seiner Wange vorbei, dass er den Luftzug spüren konnte. Etwas Warmes lief über sein Gesicht und der Halbitaliener ahnte, dass es wohl ein wenig mehr als nur der Luftzug gewesen war, der ihn gerade gestreift hatte. Egal, es war sowieso vorbei – da kam es auf einen Streifschuss von hinten nun wirklich auch nicht mehr an…

Ein weiterer Schuss knallte! Tony zuckte unwillkürlich zusammen und prallte gleich darauf wie von einer Spiralfeder gezogen zurück, als die Echse nur einen Meter vor seinen Beinen mit einem zischenden Laut zusammenbrach. Direkt hinter ihm schrie Anna wie von Sinnen, während sie wieder und wieder den Abzug von Rebekkas Waffe durchzog, solange bis das Magazin leer war und die Waffe nur noch leise knackende Geräusche von sich gab. Zitternd wie Espenlaub ließ die junge Frau die Waffe schließlich wie in Zeitlupe sinken und sank neben dem Agent auf den Boden. Wortlos starrten beide auf den toten Alligator, den eine der mit dem Mut der Verzweiflung blindlings abgefeuerten Kugeln tatsächlich genau zwischen die Augen getroffen hatte. Langsam erwachte Tony als Erster wieder aus seiner Erstarrung. Behutsam legte er seinen Arm um die schmalen Schultern des Mädchens und drückte sie fest an sich. Dabei registrierte er, dass sie immer wieder beinahe lautlos mit den Lippen ein und denselben Satz formte:

„Ich hab´ ihn erwischt – mein Gott, ich hab´ ihn erwischt!“

„Es ist gut, Anna, alles ist gut… ja, du hast ihn erwischt! Er ist tot… Du hast mir das Leben gerettet“, flüsterte er mit brüchiger Stimme und sah die blonde Frau unendlich dankbar an. „Das war wahrlich ein Meisterschuss von dir! Ich hätte es nicht besser machen können!“

Lachend und weinend gleichzeitig schmiegte Anna sich fest an ihn und erwiderte seinen Blick mit flatternden Lidern, bis sie schließlich leise fragte: „Ist es wirklich vorbei? Können wir jetzt nach Hause?“

„Ja – ja, es ist vorbei. Der Alligator ist tot! Rebekka ist tot!“ Er blickte nachdenklich hinaus auf das ruhige dahinplätschernde Wasser der Everglades, wo die Frau, die ihn wiederholt gefoltert und fast getötet hatte, ein für allemal ihr nasses Grab gefunden hatte. Einige Sekunden lang verharrten die beiden Entführten regungslos, bis Tony schließlich das Gespräch wieder aufnahm. „Wir nehmen ihr Boot und fahren Richtung Westen. Von dort sind wir gekommen, als sie uns hergebracht hat. – Anna, hilfst du mir bitte beim aufzustehen? Allein schaff´ ich es nicht.“ Tony´s Stimme klang seltsam spröde, und schien gar nicht ihm zu gehören. Jetzt, wo die ganze Anspannung von ihm abgefallen war, verlor das Adrenalin, das eben noch in Rekordgeschwindigkeit durch seine Adern gepumpt worden war, zusehends an Wirkung und ließ seinen erbärmlichen, körperlichen Zustand urplötzlich wieder überdeutlich zu Tage treten, was durch das leise unwillkürliche Stöhnen, das ihm entwich, als er sich Anna zuwendete, nur noch unterstrichen wurde.

„Natürlich!“ Anna sprang umgehend auf und bemühte sich nach Kräften, Tony auf die Beine zu ziehen. Es war keine leichte Aufgabe für die zarte Person, denn ihr Freund fühlte sich von Minute zu Minute schlapper. Offensichtlich hatte dieser letzte, alles entscheidende Kampf mit Rebekka seine allerletzten Kraftreserven verbraucht. Kraftlos knickte der Halbitaliener mehrfach haltlos ein und wäre es Anna nicht unter Aufbietung aller ihrer noch vorhandenen Kräfte gelungen, ihm jedes Mal im letzten Augenblick irgendwo noch so zu packen, dass sie ihn abstützen konnte, wäre der Schwerverletzte wie ein Sack Mehl eins ums andere Mal zu Boden gestürzt. Doch Anna zeigte sich überraschend zäh und gab nicht auf. Ächzend und Stöhnend zerrte sie so lange an Tony herum, bis sie es schließlich gemeinsam geschafft hatten und der NCIS-Agent – schwer gestützt auf die junge Frau – an ihrer Seite mehr oder weniger hängend die wenigen Meter zum Boot hatte zurücklegen können, wobei er das Bein mit dem lädierten Knie hinter sich herschleifen lassen musste, weil es ihm partout nicht mehr gehorchen wollte.

„Anna“ ächzte Tony, der sich fühlte, als hätte er gerade einen Marathon hinter sich. „Ich fürchte, du wirst das Boot fahren müssen. Ich bin am Ende! Ich glaube, das packe ich nicht mehr.“ Tony setzte sich auf die Bootskante und sackte förmlich in sich zusammen, wobei er fast schon wieder ins Wasser gefallen wäre, wenn Anna nicht im letzten Moment beherzt zugegriffen hätte.

„Tony“, schimpfte Anna leise gleichermaßen vorwurfsvoll wie erschrocken. „Was machst du denn für Sachen? Du musst besser aufpassen!“ Statt einer Antwort erhielt Anna von unten herauf einen erbarmungswürdigen Blick aus halb geschlossenen, mehr oder weniger geschwollenen Augen, der sie bis ins Mark traf und ihr das Gefühl gab, sich für den leisen Vorwurf bei ihm entschuldigen zu müssen. „Sorry“, setzte sie daher leise hinzu. „Aber ich will doch nicht, dass du dich jetzt – wo wir es endlich überstanden haben – noch mehr verletzt.“

„Noch mehr?“, krächzte Tony und ein total verunglücktes Kichern verließ seine geschundene Kehle. „Der ist gut.

Das blonde Mädchen blickte Tony zweifelnd an. Eigentlich traute sie es sich ja nicht wirklich zu, mit diesem Boot durch die Everglades zu fahren, aber sein offensichtlich bedenklicher Gesundheitszustand ließ sie schweigen. So schluckte sie also ihre Ablehnung hinunter, sprang auf das Boot und stellte sich an das Steuerpult. Suchend sah sie sich um und als sie nicht gleich fand, was sie suchte, durchwühlte sie hektisch die Kiste unter dem Sitz, die Rebekka noch geöffnet hatte. Ohne Ergebnis! Schon wieder stieg die Angst in ihr auf, als sie mit zitternder Stimme schließlich frustriert verkündete: „Tony, hier ist kein Zündschlüssel. Ich kann das Boot nicht starten.“

„Was?“ Er schüttelte fassungslos den Kopf. Das konnte doch nicht sein! Doch dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag und ein bitteres Lachen kam über seine Lippen. Es schien, als hätte sich tatsächlich alles gegen sie verschworen. Noch im Tod schaffte es Rebekka Rivkin, ihre endgültige Rettung zu verhindern. Sie musste den Schlüssel abgezogen und eingesteckt haben. Bewusst oder einfach aus Gewohnheit, wie man einen Autoschlüssel abzieht, wenn man den Wagen abstellt. Und jetzt befand sich der Bootsschlüssel irgendwo dort draußen, vermutlich im Magen des Alligators, der sie getötet hatte. Mühsam raffte Tony sich auf und torkelte unsicher zwei Schritte am Boot entlang, dann wandte er sich dem riesigen Motor zu. Ratlos betrachtete er die Technik, verdammt noch mal, er war kein Mechaniker! Ein Auto durch einen Kurzschluss der Zündkabel zu starten, mochte eine Sache sein, aber diesen Motor ohne Schlüssel zum Laufen zu bringen, überstieg definitiv seine Fähigkeiten. Unverrichteter Dinge schlug er die Abdeckung wieder zu und sah Anna mit einem zutiefst resignierten Blick an. „Wir kommen nicht von hier weg, Anna. Es geht nicht – nicht mit diesem Boot.“

„Aber…aber…wie dann?“

„Ich weiß es nicht“, flüsterte er deprimiert, während ein Kälteschauer nach dem anderen seinen geschwächten Körper durchschüttelte. „Verdammt, Anna, ich hab nicht die geringste Ahnung.“

 

97. Kapitel

7.58 h – Bei Gibbs und Caine

 

Ungeduldig blickte Joe zuerst auf seine Armbanduhr und danach wieder auf den dichten Blätterwald vor sich. Wo blieben die Beamten bloß – er musste dringend mit ihnen reden und es wäre ihm am liebsten gewesen, wenn er das Donnerwetter – das ihn mit Sicherheit erwartete – so schnell wie möglich hinter sich bringen konnte. Je länger er darüber nachgedacht hatte, desto sicherer war er sich geworden, dass er den Suchtrupp jetzt endgültig an den richtigen Standort bringen konnte. Leider war besagter Suchtrupp nun schon eine ganze Weile hinter den Mangroven verschwunden und auch auf Joe´s vereinzelte Rufe hin, hatte sich niemand gerührt. Klar, logisch, dass sie dieses Mal länger brauchten, um die Insel als „abgehakt“ betrachten zu können. Dieses Eiland war deutlich größer als die erste Insel, die sie angefahren hatten, und auch unübersichtlicher. Und so wie er die Männer einschätzte, gaben die sich mit halber Arbeit nicht zufrieden.

 

Nervös trommelte der Indianer mit seinen Fingernägeln auf dem Bootsrand herum, als sich plötzlich endlich die dichten Mangroven vor seinen Augen teilten und kurz darauf der rothaarige Mann vom Miami PD sichtbar wurde. Ihm auf dem Fuße folgte der Grauhaarige Agent aus Washington, der Joe nach wie vor ein wenig Angst einjagte. Beide Männer wischten sich mit Tüchern den Schweiß von der Stirn, während sie in eine Unterhaltung vertieft eilig auf das Airboat zukamen. Okay, es war soweit und Joe wappnete sich für das, was nun gleich folgen würde…

 

„Hallo, da sind Sie ja endlich wieder. Ich muss…“ hob er an, doch er wurde schon im Ansatz rüde unterbrochen.

 

„He! Was soll das?“, knurrte der Grauhaarige verärgert und wies auf die Waffe, die sie Joe überlassen hatten, und die der – eben weil er sich so sicher war – achtlos auf eine der durchgehenden Sitzreihen im Airboat abgelegt hatte. „Können Sie mir vielleicht erklären, wie Sie sich so im Notfall schnell verteidigen wollen?“

 

„Ich denke nicht, dass das hier nötig sein wird“, widersprach Joe und als er daraufhin die fragenden Blicke der beiden Polizisten bemerkte, seufzte er und setzte hinzu: „Ich muss mit Ihnen reden – mir ist da nämlich eben noch etwas eingefallen und da sie ja gesagt hatten, dass diese Frau eine Meisterin der Manipulation ist, denke ich…“

 

„Mir ist scheißegal, was sie denken“ brummte Gibbs noch einmal mindestens zwei Oktaven tiefer. Seine Stimme grollte mittlerweile so tief, dass ihn selbst seine engsten Mitarbeiter anhand der Laute, die er von sich gab, kaum noch hätten identifizieren können. „Kommen Sie auf den Punkt, Mann.“

 

Während Joe berichtete, was ihm während der Wartezeit durch den Kopf gegangen war, ballte Gibbs unwillkürlich die Fäuste. Alles in ihm – jede Faser seiner Körpers – sagte ihm, dass das nun endlich der alles entscheidende, richtige Hinweis war. Doch obwohl er einerseits unglaublich erleichtert war, nun endlich eine greifbare Spur zu haben, fühlte er andererseits nur hilflose Wut in sich aufsteigen, ob der vielen verlorenen Zeit und er hatte Mühe, sich zu beherrschen. Zu seiner Beruhigung bemerkte er, dass er nicht alleine mit seinen Gefühlen kämpfte. Auch Caine wirkte, gelinde gesagt, etwas entsetzt und sein Pokerface verlor für einen kurzen Augenblick die Kontenance, während er noch versuchte, das Gehörte zu verarbeiten.

 

„Verdammt, Joe! Warum haben Sie uns nicht gleich davon erzählt?“, fragte er Mann vom Miami PD dennoch freundlich nach.

 

„Na ja…“, versuchte der Indianer sein Versäumnis zu entschuldigen. „Ich weiß auch nicht, aber als ich eben hier noch einmal darüber nachdachte, was Sie mir über die Manipulationsfähigkeiten dieser Frau erzählt haben, hatte ich plötzlich diesen Gedanken. Die Insel, die ich jetzt im Kopf habe, bietet alles, wovon sie gesprochen haben. Eine üppige Vegetation, sie liegt ziemlich versteckt und kaum jemand kennt sie noch. Und es gibt dort sogar eine Hütte – ursprünglich von den Wilderern gebaut, die die Insel früher genutzt haben.“

 

„Wieso „noch“?“, fragte Gibbs dazwischen.

 

„Sie wird seit Jahren nicht mehr genutzt. Die Wilderer haben sich zurückgezogen und der Plan der Regierung, die Insel samt bereits bestehender Hütte als Ausflugsziel für Touristen zu nutzen, haben sich seinerzeit recht schnell zerschlagen, als festgestellt wurde, dass die Insel ein bevorzugtes Nistgebiet für die Alligatoren ist. Das war auch der Grund, warum sich seinerzeit die Wilderer ein anderes Gebiet für ihre … hmm…Arbeit gesucht hatten – während der Nistzeiten, war es dort für Menschen einfach viel zu gefährlich und auch außerhalb der Nistzeiten gibt es dort sehr viel mehr Alligatoren als anderswo in den Glades. Alligatorenweibchen können höchst aggressiv sein, während sie ihre Nester, die an Land gebaut werden, bewachen.“

 

„Ich dachte immer, das sind Nestflüchter“, wandte Gibbs brummig ein. Das Gerede über Alligatoren und ihren Nachwuchs beunruhigte und nervte ihn gleichermaßen.

 

„Sind sie auch. Aber die Mütter bewachen das Nest, bis ihre Brut geschlüpft ist – erst danach müssen die Jungtiere dann selber zurechtkommen“, klärte Joe den Agent auf. „Fakt ist, dass diese Insel selbst von den Leuten, die sie kennen, meist gemieden wird.“

 

Gibbs zog vielsagend die Augenbrauen hoch: „Aber Sie haben den beiden trotzdem diese Insel für ihre vermeintlichen Fotoarbeiten empfohlen? Verstehe ich das richtig?“

 

„Ja, schon“, gab Joe nach einer kurzen Pause zu. „Sicher, es ist nicht ungefährlich dort, aber man kann andererseits auch einzigartige Aufnahmen machen, wenn man Glück hat. So wie sich die beiden gegeben haben, dachte ich, dass sie das wollten. Aber sie sind nicht drauf angesprungen und ich habe ihnen noch mehrere andere Plätze gezeigt, drum´ habe ich erst jetzt wieder an diese Insel gedacht.“ Ein wenig zerknirscht blickte er zu Gibbs, der zwischenzeitlich bereits auf das Boot gesprungen war.

 

Caine folgte ihm auf dem Fuß. „Na los, worauf warten Sie noch?“, fauchte der Agent ungehalten. Gott, wie er diese Nicklichkeiten, die sich ihnen permanent in den Weg stellten, hasste! „Fahren Sie schon, Mann! Wir haben schon genug Zeit verloren."

 

"Da gibt es nur noch ein kleines Problem."
                                  

„Und das wäre“, knirschte Gibbs mühsam beherrscht zwischen den Zähnen hervor.

 

„Diese Insel liegt in einer komplett anderen Richtung. Der Sprit wird nicht ausreichen, um uns dorthin und wieder zurück zu bringen. Ich muss auftanken.“ Er registrierte, dass der Agent bei diesen Worten kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren und fügte schnell hinzu. „Keine Sorge, wir müssen dafür nicht zurück zur Basis. Es gibt hier mehrere Stationen, wo wir tanken können. Es ist lediglich ein kleiner Umweg.“

 

„Fahren Sie endlich los, bevor ich mich vergesse!“ Gibbs´ spie den Befehl förmlich aus und fegte gleichzeitig Caine´s Hand, die sich beruhigend auf seinen Unterarm legen wollte, beiseite. Er war stinksauer: Auf Joe, von dem man die Informationen nur brockenweise serviert bekam, aber am allermeisten auf sich selbst! Es kam nur höchst selten vor, dass sein Instinkt, der bei Joe´s letztem Tipp eindeutig angeschlagen hatte, ihn trog und er konnte es kaum fassen, dass dies ausgerechnet bei einer für Tony unter Umständen lebenswichtigen Entscheidung geschehen war. Womöglich hätte er länger und sorgfältiger in sich hineinhorchen müssen? Wie auch immer, er hatte eine übereilte Entscheidung getroffen und er konnte jetzt nur hoffen, dass diese keine schwerwiegenden Konsequenzen – mit denen er dann würde leben müssen – nach sich zog.

 

 

9.36 Uhr –  Am Ende der Kräfte

 

Mit größter Anstrengung hatte Anna es irgendwie geschafft, den geschwächten Tony bis zurück zur Hütte zu bringen, doch kaum waren sie dort angekommen, hatte er sich erstaunlich vehement geweigert in ihr stickiges Gefängnis der letzten Tage zurückzukehren. Nachdem er alle ihre Versuche, ihn eventuell doch noch vom Gegenteil zu überzeugen, strikt abgelehnt hatte, hatte sie es aufgegeben und dem Halbitaliener stattdessen dabei geholfen, sich vorsichtig direkt neben den Eingangsstufen zur Tür der Hütte im Schatten eines Baumes in den Sand zu setzen.

 

Dort befanden sie sich immer noch und harrten seit einer geraumen Weile schweigend der Dinge, die da auf sie zukommen würden. Jeder hing seinen eigenen trüben Gedanken nach, die alles andere als beruhigend waren. Die Sonne knallte inzwischen unbarmherzig vom Himmel und schien den gesamten Planeten unter einer Hitzewolke eingeschlossen zu haben. Anna war inzwischen davon ausgegangen, dass Tony eingeschlafen war und so reagierte sie relativ überrascht, aber auch erleichtert, als er sich plötzlich ganz leicht bewegte und undeutlich zu Wort meldete.

 

„Was…Ist noch Wwwss…in…Hütte?“

 

Anna musste sich ganz nah zu seinem Mund herunterbeugen, um überhaupt etwas verstehen zu können. Halb saß Tony und halb lag er mit dem Rücken an die seitliche Wand der Holzstufen gestützt. Seine Augen hielt er der Einfachheit halber gleich geschlossen – so blendete ihn wenigstens das grelle Licht nicht.

 

„Zi…va?“ Mit schweißnassen, schlaffen Fingern suchte er nach der Hand der Frau an seiner Seite.

 

Annas Herz wurde bleischwer, als sie erkannte, dass Tony offenbar nicht mehr ganz bei sich war. Aber war das ein Wunder? Die schier übermenschlichen Anstrengungen der letzten Stunden hatten seine allerletzten Kraftreserven verbraucht. Trotzdem war sein Zusammenbruch beängstigend. Seine Stirn glühte mehr als zuvor und auch der Schüttelfrost der vergangenen Nacht war mit aller Macht zurückgekehrt und ließ seinen Körper kaum mehr zur Ruhe kommen. Sie hätte ihm so gerne seine Wunden ausgewaschen, in denen noch immer das Salz der Glades brannte und die Tony unsägliche Qualen bereiten mussten. Doch womit?

 

„Nein, Tony, ich bin´s, Anna – Ziva ist nicht hier“, antwortete sie mit zitternder Stimme, griff nach seiner Hand und drückte sie leicht.

 

„N…ni…nicht da?“ Mühsam öffnete Tony ein geschwollenes Auge und blinzelte in Richtung Anna.

 

„Nein, Ziva ist nicht da! Aber ich…Anna! Ich bin hier bei dir. Und ich lasse dich nicht alleine“, flüsterte sie mit versagender Stimme.

 

„An…na. D…du musst n…n…nach W…was…ser suchen“, brachte Tony mit klappernden Zähnen hervor, wobei er sich zu allem Überfluss auch noch auf die Zunge biss und kurz zusammenzuckte. „Drin…nen.“ Offenbar wollte er mit dem Kopf zur Hütte weisen, doch bei der unüberlegten Bewegung zuckte er wieder vor Schmerzen zusammen und blickte sie stattdessen nur flehend an.

 

„Ich möchte dich lieber nicht alleine lassen“ antwortete Anna zweifelnd. Soweit sie sich erinnern konnte, war kein Wasser mehr in der Hütte. Aber sicher war sie sich nicht. Allerdings überwog im Moment noch ihre Angst, dass er womöglich nicht mehr atmen würde, wenn sie zurückkam, ihren Durst.

 

„D…doch…d…du…m…mu…musst!“ Verzweifelt versuchte Tony sich aufzurichten und Anna hatte Mühe, ihn daran zu hindern.

 

„Schon gut, schon gut – ich gehe – ich geh´ ja schon“, sagte sie beschwichtigend. „Und du, du bewegst dich nicht von der Stelle, hörst du?“, setzte sie gespielt streng hinzu und versuchte damit, ihre Panik zu überspielen.

 

Tony´s Antwort bestand aus einem angedeuteten Kopfnicken und einem grotesk aussehenden kleinen Lächeln.

 

 

98. Kapitel

9.45 Uhr – Vor der Hütte

 

Matt und erschöpft lag Tony im Schatten des Baumes und wartete auf Annas Rückkehr. Hoffentlich fand seine Leidensgefährtin noch ein wenig Wasser. Sie hatte zwar offensichtlich nicht daran geglaubt, dass sich in der Hütte noch Wasser befand, doch wenn er seiner Erinnerung glauben durfte, dann musste noch eine der Flaschen, die Anna in der Kühlbox gefunden hatte, übrig sein. Ob er allerdings seiner Erinnerung vertrauen durfte, das vermochte er nicht zu sagen. Er war ein totales Wrack – da machte er sich nichts vor. Und er hatte Durst! Ganz erbärmlichen Durst! In diesem Augenblick hätte er geschworen, dass es ihm gerade noch deutlich schlechter ging, als damals im Folterkeller von Rebekka. Und dort war er immerhin zweimal gestorben und ins Leben zurück geholt worden. Aber vermutlich ist die aktuelle Situation immer auch die präsentere, tröstete er sich selber, als er vorsichtig seinen Kopf bewegte, um einen Blick auf die Tür der Hütte zu werfen, die hinter Anna zugefallen war. Wo zum Teufel blieb Anna bloß? Wie viel Zeit war verstrichen, seitdem sie ihn alleine gelassen hatte? Es konnte doch nicht so lange dauern, die kleine Hütte nach etwas Wasser zu durchstöbern. Verdammt! Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren…

 

Genau in diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und Anna stürzte hinaus wie von Furien gehetzt, was Tony erschrocken zusammenzucken ließ. Sie stolperte die wenigen Stufen hinunter, rannte bis zum nächsten Baum, stützte sich dort mit einer Hand ab, beugte ihren Oberkörper vor und erbrach sich würgend immer und immer wieder! Tony beobachtete sprachlos und voller Sorge, was die blonde, junge Frau da tat, und schaffte es schließlich vorsichtig zu fragen:

 

„Anna, w…was ist pas…siert?“

 

„Nichts!“, antwortete Anna keuchend und nach Luft schnappend. „Ich…es ist nur so, dass dieser…dieser Mann da immer noch drinnen liegt und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es in der Hütte stinkt.“ Schon bei der bloßen Erinnerung an den üblen Verwesungsgeruch in der Hütte, begann Anna wieder zu würgen und erbrach erneut Galle, da sie ihren Mageninhalt mittlerweile schon längst von sich gegeben hatte.

 

Caulder! Den hatte Tony völlig verdrängt. Logisch, dass bei den hier herrschenden Temperaturen seine Verwesung deutlich schneller voranschritt als es normalerweise der Fall gewesen wäre. „T…tut mir leid“, brachte er mit Mühe hervor.

 

„Das braucht es nicht. Aber Tony, ich habe mich so erschrocken! Der Typ ist schon so voller Maden, dass es im ersten Moment aussah, als würde sich sein Körper bewegen!“ Sie schüttelte ihren zierlichen Körper mit angewidertem Gesichtsausdruck. „Ich hätte nie gedacht, dass das so schnell geht!“

 

Tony schoss es durch den Kopf, dass Ducky Anna jetzt wahrscheinlich aus dem Stehgreif einen längeren Vortrag darüber halten würde, wie unterschiedliches Klima und Temperaturen den Verwesungszustand einer Leiche beeinflussten und warum man tote Körper am besten schnell der Kühlung übereignete – sofern das möglich war – aber er konnte sich vorstellen, dass das Anna gerade vermutlich nicht im geringsten interessierte. Trotzdem…bei dem Gedanken an den kleinen Pathologen huschte ein flüchtiges Lächeln über seine entstellten Züge, bevor er mit nach wie vor klappernden Zähnen lediglich antwortete: „D…d…doch, d…das ka…kann…ganz schön schn…ell…g…geh´n. H…hast du Was…ser?“

 

„Oh Gott, ja!“ Anna schlug sich vor die Stirn. „Natürlich! Du hattest Recht, da war tatsächlich noch eine Flasche.“ Sie lief ein paar Schritte zurück und bückte sich an der Treppe. „Ich hab´ sie vor lauter Panik fallenlassen.“ Sie riss ein Stück vom Bund ihres Shirts ab, öffnete den Verschluss und ließ etwas Wasser darauf träufeln. Dann kam sie zurück und kniete sich vor Tony auf den Boden. „Komm“, sagte sie sanft. „Ich wasche dir deine Wunden aus. Das muss doch höllisch wehtun.“

 

„N…Nein! N…nicht!“ Tony wollte nach Annas Hand greifen, doch sein Griff ging ins Leere. „Es g…geht schon. T…trinken ist jetzt wichtiger! W…Wir müs…sen unbedingt Flüssigkeit z…zu uns n…nehmen.“

 

„Und ich verschwende das bisschen, was wir haben, auch noch“ ärgerte Anna sich, die sofort eingesehen hatte, dass Tony Recht hatte.

 

„N…Nein! Alles g…gut!“ Er holte einmal tief Luft. Das Sprechen strengte ihn unheimlich an und er spürte, wie er mehr und mehr die Konzentration verlor. Ihm war kalt! So unheimlich kalt! Eigentlich kaum vorstellbar in diesem Glutofen! „Okay…hör zu. W…wir nehmen den Stoff zwischen die Lippen und saugen ihn aus – so können wir das Wasser vielleicht etwas strecken und wir kommen länger damit hin.“ Die letzten Worte hatte er tatsächlich ohne zu stammeln herausgebracht und jetzt ließ er seinen Kopf matt gegen den Baumstamm sinken. Automatisch fiel der zur Seite und er schloss erschöpft die Augen. Nur ein paar Sekunden wollte er sich gönnen – gar nicht lange – er brauchte unbedingt eine Pause…

 

Anna jedoch, die schnell erkannte, was mit Tony los war, gönnte ihm keine Pause. Sie stützte seinen Kopf mit einer Hand, während sie ihm energisch den mit dem gefundenen Wasser getränkten Lappen zwischen die Lippen drückte. „Gut“ sagte sie dabei leiser, aber mit fester Stimme. „Aber du zuerst! – Na los, mach schon!“ Mit sanftem Druck forderte sie Tony erneut auf und die junge Frau war erst zufrieden, als die Lippen ihres Gegenübers leise Schmatzgeräusche von sich gaben.

 

Während Tony am Lappen saugte, blickte Anna sorgenvoll in den Himmel. Es war noch nicht einmal Mittag und es war schon beinahe unerträglich heiß. Selbst der Wind, der gelegentlich aufkam und die Mangroven sanft schaukeln ließ, brachte keine Linderung. Ein halber Liter Wasser war in ihrer Situation verdammt wenig. Anna machte sich schon längst nichts mehr vor: Wenn sie nicht bald gefunden würden und Tony in ärztliche Obhut kam, dann…ja, dann wären sie wohl verloren!

 

 

10.05 h – Bei Gibbs und Caine

 

Caines Mobiltelefon klingelte und nach einem kurzen Blick auf das Display meldete er sich: „Ja? Was gibt´s Ryan?“ Er lauschte einen Augenblick seinem Gesprächspartner, wobei seine Augenbrauen kurz über den Rand der verspiegelten Sonnenbrille hinweg in die Höhe fuhren, was Gibbs jedoch sofort registrierte – auch wenn es nur einen Augenblick sichtbar gewesen war. Er war schließlich darauf trainiert, die Mimik von Menschen zu beobachten und zu deuten. Er konnte seine Neugier kaum noch zügeln und bedeutete Caine durch wütende Handzeichen, den Lautsprecher einzuschalten. Joe hatte das Airboat inzwischen zum Halten gebracht, denn ansonsten wäre beim lautstarken Dröhnen des Motors sicherlich keine Unterhaltung möglich gewesen.

 

Caine drückte einen Knopf am Gerät und schon wurde Ryan Wolfes Stimme laut: „…haben den Wagen so gut es geht untersucht. Der Kofferraum war leer aber an der Klappe und im Innenraum sind eine Menge Fingerabdrücke Natalia scannt sie gerade und…Sekunde…“ Im Hintergrund waren Gesprächsfetzen zu hören, als Ryan offensichtlich mit Natalia sprach. Ja? Ah…okay. Alles klar, danke dir! … Horatio?“

 

„Ich höre“, antwortete der Rothaarige. „Was habt ihr gefunden?“

 

„Wir haben einen Treffer! Samuel Caulder, der Ex-Agent. Er war definitiv mit diesem Wagen unterwegs!“

 

Gibbs ballte seine Rechte zur Faust und auch Horatio atmete erleichtert auf. Allen war klar, was das bedeutete. Sie hatten sie. So oder so! Sollten Rebekka Rivkin und Sam Caulder zurück zum Wagen kommen, dann waren sie geliefert! „Ryan, ich will, dass ihr Verstärkung anfordert. Sofort! Ihr sucht euch Deckung, so dass ihr nicht gleich gesehen werdet, wenn sie mit dem Boot ankommen. Kann sein, dass das sogar überflüssig ist, aber ich will nicht, dass ihr ein Risiko eingeht. Klar?

 

„Schon passiert, Horatio. Verstärkung ist bereits unterwegs.“

 

„Gut! – Habt ihr sonst etwas gefunden? Irgendeinen Hinweis darauf, wo sie sich aufhalten könnten?“

 

„Nein, leider nicht. Aber wir suchen noch.“

 

„Wenn ihr etwas findet, dann melde dich. Wir haben eine Idee, wo sie sein könnten, aber leider mussten wir einen Umweg fahren.“ Er ersparte sich weitere Erklärungen in diesem Zusammenhang. „Aber ich habe dem Piloten im Heli die Koordinaten durchgegeben und er ist schon auf dem Weg dorthin. In Kürze werden wir wissen, ob wir auf dem richtigen Weg sind.“

 

„Viel Erfolg.“

 

„Ja, danke – und passt auf euch auf!“ Caine beendete das Gespräch, ließ sein Handy wieder in die Tasche gleiten und warf Gibbs einen Blick zu, der mit immer noch geballter Faust und grimmigem Gesicht auf die Glades starrte. „Wir haben sie, Agent Gibbs. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.“

 

Gibbs nickte nachdenklich bevor er Joe schließlich anfuhr: „Na los, worauf warten sie noch? Auf besseres Wetter?“

 

99. Kapitel

10.23 h – Im Helikopter

Nachdem der Pilot von Caine die Koordinaten der Insel, die sie sich von oben ansehen sollten, bekommen hatte, hatte er die Maschine umgehend in die angegebene Richtung dirigiert. Ziva saß hinten neben Eric Delko und knetete nervös ihre Hände im Schoß, während sie angestrengt aus dem Fenster starrte.

„Waren wir hier nicht gestern schon mal hier in der Gegend?“, erkundigte sie sich schließlich unsicher.

„Ja, waren wir – eigentlich sind wir gestern schon das ganze Gebiet hier abgeflogen – deshalb hatte ich mich ja heute auf eine andere Route konzentriert. Aber die Anweisung war klar. In ein paar Minuten müssten wir diese Insel erreicht haben.“ Er zögerte einen Moment lang. „Ich hoffe, dass wir die Vermissten dort tatsächlich finden – aber ich darf nicht zu tief gehen. Schließlich sind wir kaum zu übersehen und zu überhören und wenn die Entführer das Feuer auf uns eröffnen…“ Er ließ das Ende des Satzes offen, doch Delko und David verstanden ihn auch so.

Zivas Hand war unwillkürlich zu ihrem Schulterholster gezuckt. Delko, der die
Bewegung aus den Augenwinkeln registriert hatte, sagte tröstend: „Es wird schon
alles gut gehen. Keine Angst!“

Die Israelin musterte den Latino kurz, bevor sie schließlich fragte: „Sind Sie ein guter Schütze?“

Delko musste schmunzeln, obwohl er die Frage der Frau an seiner Seite durchaus nachvollziehen konnte. „Ich denke schon“, antwortete er.

„Gibbs ist ein Sniper! Als sie mich damals aus Somalia rausgeholt haben, da hat er…“

„Hören Sie, ich kann ja verstehen, dass Sie sich Sorgen machen und jetzt lieber einen Ihrer Kollegen hier neben sich sitzen hätten, aber ich versichere Ihnen, dass ich auch schießen kann, okay?“

„Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht…“

„Schon gut“, wehrte Delko die Entschuldigung mit einer Handbewegung ab.

„Wir befinden uns im Anflug“, mischte sich der Pilot übers Mikro ein. „Sehen Sie, dort vorne links – etwa auf 10.00 h – das ist die Insel!“

Verdammt! Sie saß auf der falschen Seite! Ziva beugte sich soweit zu Delko rüber, wie es ihre Gurte erlaubten. Sie hing schließlich fast auf seinem Schoß, während sie versuchte, einen Blick auf seinem Seitenfenster zu werfen. Hmm…aus der Entfernung war nichts zu erkennen. Außer einigen großen, offensichtlich schon sehr alten, Mangrovenbäumen, die rasch näher auf sie zukamen, war nichts von Bedeutung zu sehen. Plötzlich bemerkte sie etwas:

„Hey, Sie gehen ja immer weiter nach oben! Was soll das?“, herrschte sie den Piloten an.

„Das habe ich Ihnen eben zu erklären versucht“, kam prompt die Antwort auf ihren Kopfhörer. „Ich habe keine Lust, mich hier abschießen zu lassen. Selbst wenn wir einen Absturz überleben sollten, haben danach bestimmt die Alligatoren großes Interesse an uns. Und davon gibt es in dieser Region einige.“

Sie befanden sich jetzt fast unmittelbar über der Insel und eine kleine Lichtung wurde sichtbar. Der Pilot versuchte, die Maschine so gut wie möglich in der Luft stehen zu lassen, damit seine Passagiere in Ruhe Ausschau halten konnten, als plötzlich…

„Da! Sehen Sie!“ rief Delko aus und zeigte aufgeregt nach unten.

Eine zierliche Blondine war auf die Lichtung gestürzt und winkte aufgeregt und heftig mit den Armen über dem Kopf.

„Anna! Das muss Anna sein!“, rief Ziva aus und war offensichtlich kurz davor, die Fassung zu verlieren. „Tony? Wo ist Tony? Los, gehen Sie runter“ fauchte sie in ihr Mikrofon. „Wir müssen näher ran!“

„Es könnte eine Falle sein“, warnte der Pilot. „Außerdem…ich kann hier nicht landen – die Lichtung ist zu klein für den Heli und sonst gibt es keine Möglichkeit.“

„Aber...“

Delko hatte nach einem Fernglas gegriffen und blickte angestrengt hindurch. „Ich glaube nicht, dass das eine Finte ist“ sagte er dann. „Der Gesichtsausdruck dieser Frau sagt etwas anderes. Funken Sie das Airboat an und geben Sie Bescheid, dass sie auf dem richtigen Weg sind – und sie sollen sich beeilen. Ich mache mir Sorgen um den Mann! Warum hilft er der Frau nicht, auf sie aufmerksam zu werden?“

„Sie meinen…?“, fragte Ziva mit schreckensweiten Augen.

„Nein, nicht unbedingt. Es kann viele Gründe haben, dass er nicht mit auf die Lichtung kommt. Er könnte lediglich entkräftet sein. Oder er ist gefesselt. Oder verletzt. – Geben Sie durch, dass sich eine weitere Einheit auf den Weg machen soll – und sie sollen einen Arzt mitbringen.“

Der Pilot griff zum Funkgerät und tat, was Delko von ihm gefordert hatte, bevor er den Helikopter schließlich abdrehen und in eine andere Richtung davonfliegen ließ. Es tat ihm zwar in der Seele weh, doch er hatte keine andere Wahl. Ziva klebte mit dem Gesicht förmlich an der Scheibe und verdrehte ihren Körper soweit es nur ging, um die Insel nicht aus den Augen zu verlieren. Tränen der Verzweiflung strömten über ihr schönes Gesicht und sie konnte nicht verhindern, dass sich einige leise Schluchzer aus ihrer Kehle nach oben drängten. Sie wollte einfach nicht glauben, was da gerade geschah: Sie hatten das Versteck gefunden! Endlich! Irgendwo dort unten war Tony! So nah! Und doch unerreichbar! Das Leben war so ungerecht…

„Alles in Ordnung“, erkundigte Delko sich mitfühlend und legte vorsichtig seine Hand auf Zivas Arm.

Ein Ruck ging durch die Israelin und sie richtete sich steif auf. „Ja, danke.“ Dann tippte sie dem Piloten auf die Schulter. „Wie lange brauchen wir zu einem Standort wo sie a) landen können und wir b) in ein Boot umsteigen können, das uns zu der Insel zurückbringt.“

„Ich verstehe…“ Der Plelpiteilot nickte verständnisvoll und änderte abermals den Kurs. „Bin schon auf dem Weg. Bei gutem Wind haben wir schätzungsweise 20 Minuten Flugzeit vor uns.“


100. Kapitel

Zeitgleich – Auf der Insel

„Tony! Tony, hörst du das?“ Aufgeregt packte Anna Tony am Arm, was dem ein leichtes Stöhnen entlockte.

„W…Was is d…denn?“, brachte er mit Mühe hervor.

„Ich höre was und ich glaube…“ Anna brach ab und lauschte angestrengt, während sie gleichzeitig ihr Gesicht nach oben wandte und hektisch mit den Augen den Himmel absuchte. „Hörst du denn nichts? Es hört sich an wie ein Motor – es klingt genauso wie dieser Hubschrauber, der gestern hier über die Insel geflogen ist. Und es kommt näher!“ Sie sprang auf und wies auf einen kleinen dunklen Punkt am Himmel, der tatsächlich rasch näher zu kommen schien. „Da! Siehst du ihn denn nicht? Oh, mein Gott, hoffentlich sehen die uns!“

Tony versuchte krampfhaft, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war zu spät, in der Holzkiste nach einer Leuchtpistole zu suchen. Falls überhaupt eine dort wäre. Obwohl Feuer wohl die beste Möglichkeit wäre nachhaltig auf sich aufmerksam zu machen. Nur besaßen sie leider kein Feuerzeug. Im Grunde hatten sie nur eine einzige Möglichkeit. „An…na – du m…musst zzzur Lich…t…t…ung und w…win…ken. Schn…ell!“

Das Motorengeräusch näherte sich rasch und Anna wollte schon losrennen, als sie plötzlich noch einmal stoppte. „Was ist mit dir?“

Mit einer müden Handbewegung bedeutete Tony Anna, dass er sie nicht begleiten konnte. „G…geh! Ich w…war…te hier.“ Sein Grinsen sollte ermutigend auf die junge Frau wirken, doch als er Annas Gesichtsausdruck sah, wusste er, dass es ihm kläglich missglückt war. „L...los!“

Anna spurtete das kurze Stückchen bis zur Lichtung und kurz darauf hörte Tony sie wie wild schreien: „HIER! HIER SIND WIR! SEHT IHR MICH! HIER!“ Der Hubschrauber schien sich jetzt unmittelbar über der Insel zu befinden, denn der Lärm war für Tony schier unerträglich und übertönte Annas Stimme. Bis plötzlich: „NEIN! NEIN! DAS GEHT DOCH NICHT! DAS KÖNNT IHR DOCH NICHT MACHEN! NEIN! BITTE!“ Hatte Tony ihre Stimme zuvor noch als hoffnungsvoll eingestuft, so klang sie jetzt beinahe hysterisch. Was war da los? Die mussten Anna doch sehen? Es konnte doch nicht sein, dass sie Rebekka überlebten und jetzt hier elendig verdursten mussten! Er hörte, wie das Motorengeräusch sich wieder entfernte und zwang seine Augen dazu, offen zu bleiben und Anna entgegenzublicken, die gerade zurückkam. Ein Blick in ihr völlig aufgelöstes, tränennasses Gesicht sagte ihm alles. Scheiße! Wortlos klopfte er auffordernd auf den staubigen Boden neben sich und nachdem Anna sich schluchzend vor Enttäuschung fallen ließ, legte er tröstend seinen Arm um sie.


10.27 h – Im Helikopter

„Stopp!“, rief Ziva plötzlich. „Drehen Sie um – das können wir nicht machen!“

„Was meinen Sie?“ fragte der Pilot. „Ich denke, Sie wollen zu einem Boot.“

„Ja“, antwortete Ziva ungeduldig. „Aber wir können sie nicht so zurück lassen. Die Beiden müssen doch jetzt denken, dass wir sie nicht gesehen oder was auch immer. Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, wie die zwei sich jetzt fühlen müssen? Wir müssen Ihnen wenigstens sagen, dass Hilfe unterwegs ist.“

„Und wie wollen Sie das anstellen?“

Ziva blickte sich hektisch in der kleinen Kabine um, während Eric Delko schon in seinem Rucksack kramte und schließlich einen Stift und einen dünnen Block hervorzog. Er riss eine Seite heraus und kritzelte eilig ein paar Worte auf den Zettel, den er danach sorgfältig um die Halskordel seines High-Tech-Fernglases knotete. „Wir werfen die Nachricht über der Lichtung ab, okay?“

„Sie wollen ihr Fernglas opfern?“ Ziva war beeindruckt von der Selbstverständlichkeit, mit der der Latino seinen Plan vorgebracht hatte.

Delko zuckte mit den Achseln. „Ich kann mir ein neues kaufen. Der Block ist zu dünn – er würde vermutlich durch den Wind, den alleine schon die Rotorblätter verursachen, abgetrieben und Gott weiß wo landen. Das Fernglas dürfte aber schwer genug sein, den Weg nach unten auf die Lichtung zu finden.“

Ziva nickte: „Danke“, sagte sie leise und bat: „Tun Sie es. Ich bin gerade viel zu nervös.“

„In Ordnung! Gerne.“ Delko nickte und wartete, bis der Pilot den Heli in die richtige Position gebracht hatte und ihm ein Zeichen gab. Dann zog er vorsichtig die Tür auf und lehnte sich angeschnallt etwas nach draußen, um einen besseren Blick auf die Lichtung zu haben. Schließlich fasste er sich ein Herz, ließ das Fernglas mit der Nachricht fallen und beobachtete, wie es Sekunden später auf dem staubigen Boden der Lichtung aufschlug. Erst dann setzte er sich wieder richtig hin, schloss die Tür und nickte Ziva dann beruhigend zu. „Alles klar – es hat geklappt.“

Die Israelin nickte dankbar und atmete auf. „Jetzt!“, sagte sie dann an den Piloten gewandt. „Jetzt können Sie von mir aus Gummi geben!“

Den etwas konsternierten Blick des Piloten quittierte Delko mit einem Schmunzeln und nickte dem Mann zu: „In schon Ordnung – fliegen Sie einfach.“

„Sag ich doch…“, murrte Ziva leise vor sich hin.


Zeitgleich – Unten bei Anna und Tony

Nachdem der Helikopter überraschend doch noch einmal zurückgekehrt und Anna wiederum voller Hoffnung zur Lichtung gestürzt war, kam sie dieses Mal nach wenigen Augenblicken lächelnd mit einem Gegenstand in der Hand zurück. Tony, der lediglich mitbekommen hatte, dass der Heli zum zweiten Mal davongeflogen war, konnte sich nicht erklären, warum Anna lächelte. In der Hand hielt sie einen Gegenstand, der allerdings so verbeult war, dass auf Anhieb nicht mehr zu erkennen war, um was es sich handelte, aber offenbar hatte Annas Lächeln mit diesem Gegenstand zu tun.

„W…w…was hast d…du da?“, fragte er zitternd, während im gleichzeitig der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief.

„Ein Fernglas, aber es ist nicht wichtig. Viel wichtiger ist die Nachricht, die daran befestigt war. Tony! Sie kommen! Sie haben uns gesehen und sie werden uns Hilfe schicken. Jetzt dauert es nicht mehr lange. Du musst nur noch ein bisschen durchhalten, hörst du? Sie werden bald hier sein!“ Die Worte sprudelten nur so aus Anna heraus und sie winkte triumphierend mit einem Zettel. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich glücklich und befreit und durch dieses Hochgefühl entging ihr im ersten Augenblick, dass von Tony gar keine Reaktion mehr auf ihre Worte kam. Plötzlich stutzte die junge Frau und sie warf ihrem neuen Freund einen kritischen und besorgten Blick zu: „Tony? Hey, Tony, hörst du mich?“

Der Halbitaliener hatte die Augen geschlossen und sein Kopf war seitlich nach vorne auf seinen Brustkorb gefallen. Die Arme lagen schlaff neben seinem Körper, die Handflächen nach oben gedreht, und wenn seine Brust sich nicht mehr oder weniger regelmäßig gehoben und gesenkt hätte, dann hätte Anna jetzt fürchterliche Angst bekommen. So aber ging sie nur vor ihm in die Knie und fühlte sachte seine Stirn, die förmlich glühte. Er war bewusstlos und Anna verzog kurz das Gesicht: „Mach jetzt bloß keinen Scheiß, Tony! Deine Ziva wird mir den Kopf abreißen!“ Tony zeigte keine Reaktion und sein Atem kam flach und etwas rasselnd. Entschlossen griff Anna nach der Wasserflasche, tränkte den Lappen neu und benetzte Tonys Lippen mit der kostbaren Flüssigkeit. Dann riss sie energisch ein weiteres Stück Stoff aus ihrer Bluse und tränkte auch dieses mit Wasser. Sie tupfte Tonys Gesicht ab und legte den zweiten Lappen dann abschließend auf seine Stirn. Hierzu musste sie vorsichtig seinen Kopf etwas zurechtrücken, damit der kühlende Lappen auch auf Tonys Stirn liegenblieb. Jetzt, wo sie wusste, dass Hilfe unterwegs war, spürte sie ihren eigenen Durst kaum mehr. Aber um Tony machte sie sich doch ernsthaft Sorgen. Hoffentlich beeilten sich die Retter und ließen sie nicht mehr so lange warten. Dann setzte sie sich neben ihren Freund, griff nach seiner schlaffen und schweißnassen rechten Hand und drückte sie leicht.

„Nur noch ein bisschen, Tony, du musst nur noch ein wenig durchhalten, dann sind sie hier“, sagte sie leise und lehnte sich erschöpft an Tonys Schulter. Der Tag hatte noch gar nicht richtig begonnen und sie war schon so müde…so verdammt müde…vielleicht war es ja gar nicht mal schlecht, wenn sie sich noch ein wenig ausruhte, bevor es wieder hektisch wurde. Außerdem würde sie dann wenigstens nicht die Minuten bis zum Eintreffen der Rettungsmannschaft quälend langsam zählen müssen.


10.50 h – im Airboat bei Gibbs und Caine

Seit einigen Minuten trommelten Gibbs Finger nervös und zunehmend lauter auf der Reling des Airboates herum, während Joe scheinbar in aller Seelenruhe sein Boot auftankte und währenddessen mit dem Mann, der an der Station seinen Dienst versah, ein freundschaftliches Schwätzchen hielt. Gott, das dauerte… Seitdem vor einigen Minuten der Funkspruch gekommen war, dass der letzte Tipp mit der Insel goldrichtig gewesen war, hielt er es kaum noch aus. Stillstand – selbst wenn er nötig war – war für ihn im Augenblick gleichbedeutend mit Folter und zum wiederholten Male räusperte er sich und warf Joe einen Blick zu, der jeden anderen unter die Teppichkante getrieben hätte. Jeden! Bis auf Joe! Der winkte lediglich mit seiner Geldbörse und rief:

„Bin gleich wieder da!“ Mit diesen Worten bewegte er sich von der Zapfsäule fort in Richtung einer Hütte, die offenbar gleichzeitig Pausenstation für Touristen, Wartungsstelle, Kasse, Kiosk und Souvenirladen diente.

„Das glaub´ ich jetzt nicht!“, stöhnte Gibbs grimmig vor sich hin.

Horatio Caine lächelte verständnisvoll und sagte beruhigend: „Keine Sorge, er wird gleich wieder da sein – dann geht es sofort weiter. Machen Sie sich keine Gedanken.“

„Machen Sie Witze?“, fauchte der Grauhaarige.

„Nein, eigentlich nicht. Der Frau schien es – soweit mein Mitarbeiter es von oben erkennen konnte – recht gut zu gehen. Auf jeden Fall scheint sie nicht schwer verletzt zu sein.“

„Sie vielleicht nicht. Aber was ist mit Agent DiNozzo? Wenn er in Ordnung wäre, hätte er Anna sicher nicht alleine auf die Lichtung gehen lassen! Sie wissen sehr gut, was das bedeutet, Caine – versuchen Sie nicht, mir was vorzumachen.“

„Ich weiß gar nichts“, widersprach Horatio dem Gibbs in gewohnt sanftem Tonfall. „Es kann bedeuten, dass Ihr Mann gar nicht auf der Insel ist – womöglich hat Rebekka Rivkin ihre Geiseln ja getrennt. Er könnte natürlich auch verletzt sein – unter Umständen kann er nicht laufen.“

„Verdammt, hören Sie auf“ brüllte Gibbs unbeherrscht, dem die Beruhigungsversuche des Mannes aus Miami ziemlich an die Nieren gingen. „Sie wissen sehr gut, dass es ebenso bedeuten könnte, dass er bereits tot ist!“

„Wir werden es bald mit Bestimmtheit wissen.“ Caine, den der Ausbruch des Grauhaarigen völlig unbeeindruckt ließ, nickte mit dem Kopf in Richtung Ufer, wo sich Joe mit schnellen Schritten seinem Boot näherte und schließlich mit einem großen Satz an Bord sprang und die beiden Männer erwartungsvoll musterte.

„Was ist, können wir los?“

Gibbs Antwort bestand aus einem tiefen Knurren, welches ganz tief aus seinem Inneren kam und er wendete sich ab. Joe blickte verwirrt von einem zum anderen und fragte:

„Alles in Ordnung?“

„Ja“, mischte sich Caine schnell ein, denn Gibbs Körpersprache verriet ihm, dass der Mann aus DC ganz dicht davor war, dem Indianer an die Gurgel zu gehen. „Machen wir uns auf den Weg. Wie lange brauchen wir von hier aus?“

„Hmm, schätzungsweise eine halbe Stunde.


101. Kapitel

11.16 h – Die Rettung

Joe hatte das Boot mit der größtmöglichen Geschwindigkeit durch die Everglades gejagt und jetzt sahen sie endlich das Ziel ihrer viel zu langen Suche vor sich: Die Insel, auf der sie hofften, Tony nun endlich zu finden. Dass sich Anna dort befand, wussten sie ja nun schon mit Sicherheit – und auch dass sie lebte. Jethro konnte nur hoffen, dass sich das bei Tony genauso verhielt. Er klammerte sich an dem Griff neben seinem Sitz fest und beugte sich weit nach vorne; er konnte es kaum mehr erwarten, endlich diese verfluchte Insel zu betreten. Bereits seit geraumer Zeit hielt er seine Waffe in der Hand. Egal, wer oder was ihn auf dieser Insel erwarten würde, er war bereit. Bereit, sich Rebekka und Caulder zu stellen, ohne Rücksicht auf seine eigene Sicherheit oder sein Leben. Bereit, alles Erdenkliche für Tony´s Rettung in die Waagschale zu werfen. Den Gedanken daran, dass er zu spät kommen könnte, ließ er einfach nicht zu. Er war stark, er konnte viel ertragen – hatte in der Vergangenheit schon mehr ertragen und weggesteckt, als manch Anderer – aber die Vorstellung, Tony tot vorzufinden, ging über die Grenze dessen, was er würde verkraften können. Das konnte nicht sein, das durfte einfach nicht sein …

Unmittelbar nachdem das kleine Eiland in Sichtweite gekommen war, reduzierte der Indianer die Geschwindigkeit des Airbootes, ohne auf den sofortigen Protest des grauhaarigen Agenten zu reagieren.

„Was soll das?“ fauchte Jethro wütend. „Geben Sie gefälligst Gas!“ Das langsamer werdende Boot war schlichtweg inakzeptabel für ihn.

Doch jetzt mischte sich Caine ein. „Seien sie vernünftig! Ich verstehe, dass Sie darauf fiebern, Ihren Agenten zu retten, aber wenn wir alle bereits hier auf dem Boot abgeknallt werden, nützt ihm das gar nichts.“ Er reichte Gibbs einen Feldstecher und sah ihn in seiner typischen Weise durchdringend an. „Hier, suchen Sie die Insel ab, ob Sie irgendetwas entdecken, ich werde dasselbe tun.“

Jethro hatte automatisch nach dem Fernglas gegriffen und hatte schon eine bitterböse Erwiderung auf den Lippen, als er sich dann doch noch besann und sich zur Ruhe zwang. Caine hatte recht: Es brachte wirklich nichts, wenn er hier sämtliche Regeln der Polizeiarbeit missachten und wie ein Frischling blindlings in einen Hinterhalt laufen würde. Mit zusammen gekniffenen Lippen wandte sich der erfahrene Agent wieder der Insel zu und hob das Glas vor die Augen. Plötzlich richtete er sich kerzengerade auf. Völlig unvermittelt kam eine junge Frau über eine Lichtung ans Ufer der kleinen Insel gelaufen und ruderte wild mit den Armen – und es war eindeutig nicht Rebekka Rifkin!

Auch Horatio Caine hatte das Mädchen sofort entdeckt. „Das ist Anna, die mit ihrem Agenten entführt wurde.“ Nur wer ihn gut kannte, bemerkte, dass in seiner Stimme ein aufgeregter Unterton mitschwang. „Aber wo zum Teufel sind die anderen? – Vom Heli aus war auch niemand sonst zu sehen.“

Alle drei Männer auf dem Boot ließen ihre Blicke konzentriert über die Lichtung, die Mangroven und das dichte Gebüsch schweifen.

„Glauben sie, dass das eine Falle ist?“ fragte der junge Indianer in die angespannte Stille hinein, während er sich gleichzeitig darum bemühte, sein Boot aus der unmittelbaren Schusslinie eventueller Heckenschützen zu steuern, denn im Augenblick boten sie für jemanden, der sich womöglich in der dichten Vegetation verborgen hielt, ein geradezu ausgezeichnetes Ziel.

Jethro ließ langsam das Fernglas sinken und sah mit zusammengekniffenen Augen zu dem hüpfenden und winkenden Mädchen. Noch war nicht zu verstehen, was die junge Frau ihnen immer wieder zurief, aber es war offensichtlich, dass sie verzweifelt versuchte, ihnen etwas mitzuteilen. Womöglich dass Gefahr im Verzug war? – Nein! Langsam schüttelte der Grauhaarige den Kopf. Wenn Rebekka dort drüben hinter einem Baum lauern würde, dann würde er ihre Abwesenheit spüren, dessen war er sich absolut sicher. Sein Bauchgefühl meldete ihm keine Gefahr und wenn es darauf ankam hatte er sich bislang noch immer auf seine Instinkte verlassen können.

„Nein!“, verkündete er entschieden. – „Das würde ich spüren. Sie ist nicht dort!“

„Sie meinen Rebekka Rivkin?“, stellte der rothaarige Agent mehr fest, als dass er fragte, denn er dachte ähnlich. „Und der abtrünnige Agent, dieser Caulder? Was ist mit ihm?“

„Weiß ich nicht, aber wenn dort drüben jemand in den Büschen sitzen würde, könnte ich seine Anwesenheit fühlen. Joe, fahren Sie los. Nun machen Sie schon … wenn es Sie beruhigt, stelle ich mich gerne als Deckung vor Sie.“

Der schwarzhaarige Indianer blickte kurz zwischen Horatio und Jethro hin und her, doch als er auch von Caine schließlich ein zustimmendes Nicken bekam, nahm er den Steuerknüppel fest in die Hand und gab – zunächst noch etwas zögerlich – Gas. Er hatte immer noch ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, denn er verfügte nicht über die untrüglichen Instinkte der beiden erfahrenen Polizisten, doch - zumindest so viel hatte er mittlerweile mitbekommen - er konnte ihnen vertrauen und das tat er nun…

******

Anna sprang wie verrückt auf und ab, winkte und schrie. „Hier sind wir! … Hallo! … Tony, ein Boot! … Tony, hörst du das? Sieh doch! Da kommt ein Boot! - Hallo! … Hallo! Hierher!“ Mit aller Kraft, die sie noch erübrigen konnte, versuchte sie, die Männer auf dem Boot, auf sie aufmerksam zu machen. Die Leute dort auf dem Airkraft sollten gefälligst kommen und sie retten. Warum hatten sie angehalten und standen dort herum. Tony brauchte doch dringend Hilfe. „Hey, nicht stehenbleiben! Hilfe!… Wir brauchen dringend Hilfe! … Hallo!“ Ihre Stimme kippte und sie sank verzweifelt auf die Knie, während sie ihre Arme immer noch über dem Kopf kreisen ließ. Tränen traten ihr schon wieder in die Augen, als sie plötzlich registrierte, dass … Ja! Es sah ganz so aus, als ob … Ja! Der kleine Rettungstrupp setzte sich tatsächlich wieder in Bewegung. Sie kamen näher! Gleich würden sie das Ufer erreicht haben. Die Laute, die Anna´s Kehle jetzt verließen, waren eine Mischung aus Jubelarie und hysterischem Schluchzen. Ihre immense Anspannung löste sich mit einem Mal. Sie fiel förmlich in sich zusammen und bettete Kopf und Arme auf den Knien, während sie immer wieder vor sich hin stammelte. „Ja!!! Bitte! Bitte kommt! … Kommt her! Schnell! Kommt hierher! … Jaaaaa!“

**************

Langsam glitt das Boot auf das Ufer zu und mit äußerster Anspannung fixierten die drei Männer darauf die Insel vor sich, stets darauf vorbereitet, auf einen Angriff zu reagieren. Jethro wusste nicht, wo Rebekka und Caulder waren, warum sie nicht her waren, oder wo sie sich befanden, aber hier waren sie definitiv nicht, das fühlte er überdeutlich. Nun, vielleicht schnappten Caines Leute die beiden – es sollte ihm egal sein. Hier und jetzt ging es um Tony – um nichts anderes! Sie hörten die junge Frau rufen und Gibbs konnte seine Ungeduld kaum mehr zügeln. „Los, machen sie endlich!“, fauchte er ungeduldig gegen den Motorenlärm an.

Endlich erreichten sie das Ufer der kleinen Insel und augenblicklich sprang Jethro an Land, unmittelbar gefolgt von Horatio – beide mit gezückten Waffen mit Anschlag. Mit entsetztem Blick starrten alle drei Männer auf den toten, riesigen Alligator, der nur wenige Meter vor Ihnen lag. Was um alles in der Welt war hier geschehen?

In diesem Moment rappelte Anna sich wieder auf. Sie verdrängte ihre Ängste gegenüber anderen Menschen, insbesondere Männern, und rannte die wenigen Schritte auf den grauhaarigen fremden Mann mit dem grimmigen Gesichtsausdruck zu und stoppte erst unmittelbar vor ihm abrupt, als sie plötzlich die Waffe in seiner Hand wahrnahm. „Hey“, stotterte sie unsicher. „Endlich sind Sie da, wir haben solange auf Sie gewartet…“ brachte sie tapfer weiter mit belegter Stimme hervor. „Wir …wir dachten schon …“ Tränen der Erleichterung strömten über ihr Gesicht und ihr flackernder Blick heftete sich auf die Waffe, die genau auf ihre Bauchmitte zielte.

Gibbs hatte die Reaktion auf die Pistole wohl bemerkt und ließ die Waffe sinken. „Sie sind Anna, nicht wahr?“, sprach er die blonde Frau beruhigend an. Reiß dich zusammen, sagte er sich selber. Du darfst jetzt nicht vorpreschen wie ein wilder Stier – damit verschreckst du sie nur. „Beruhigen Sie sich, es ist alles in Ordnung“, sagte er bemüht sanft. „Sie müssen keine Angst mehr haben, jetzt wird alles gut. „Wie geht es Tony“, stellte er dann endlich die Frage, die ihm derzeit am meisten auf der Seele brannte und er hörte selber, dass seine Stimme leicht zitterte, während er die Worte aussprach. „Anna, bitte, ist er hier? Wo ist Tony?“

Anna hob ihren Blick, den sie immer noch auf die Pistole gerichtet hatte. Als der Name ihres Leidensgenossen fiel, kam plötzlich wieder Leben in sie und ohne lange darüber nachzudenken, packte sie den fremden Mann mit der einen Hand aufgeregt am Arm, während sie mit der anderen hinter sich wies. „Tony! Ja! Er ist dort hinten, es geht ihm sehr schlecht. Sie müssen ihm helfen! Kommen Sie! Schnell!“ Sie lies Gibbs los, drehte sich um und rannte voraus zu der kleinen Hütte; nicht ohne einen kleinen Bogen um das tote Tier zu machen. Jethro folgte ihr auf dem Fuß, genauso wie Caine. Schon nach wenigen Augenblicken sahen sie die alte Hütte vor sich und davor, neben der kleinen Treppe, im Schatten eines großen Baumes, lag Tony.

Endlich !!!

Jethro ließ sich sofort neben seinem Agent auf den Boden sinken. Beim Anblick seines Mitarbeiters und engen Freundes erschrak er bis ins Mark. Tony´s Augenlider flackerten unruhig, sein Gesicht, sein ganzer Körper war schweißnass, er glühte förmlich und er schien nichts von dem, was um ihn herum geschah, mitzubekommen. Sein Oberkörper wies so viele Wunden auf, dass Gibbs ihn nur sprachlos und entsetzt einige Sekunden lang anstarren konnte. Schließlich gab der Teamleiter sich einen Ruck, griff nach den Schultern seines Freundes, drückte sie und rüttelte ihn sanft. „Tony, Tony … hörst du mich.“ Er schluckte einmal kräftig und hoffte dadurch seiner Stimme einen kräftigeren Klang geben zu können. „Tony, ich bin da, du bist jetzt in Sicherheit. Tony …“ Er bemerkte, dass der Angesprochene nicht auf seine Worte reagierte. Abrupt wandte er sich zu Horatio um. „Wir brauchen Wasser, sofort. Und einen Hubschrauber. Verdammt, er muss auf der Stelle in ein Krankenhaus. Es geht ihm sehr schlecht. Und funken Sie Ziva an. Sie müssen mit dem Heli sofort herkommen. Schnell!“ Er wandte sich wieder Tony zu und wischte sich schnell verstohlen über die Augen, während er mit der anderen Hand Tonys Rechte ergriff und vorsichtig drückte. „DiNozzo, ich schwöre dir, wenn du dich hier jetzt vom Acker machst, dann … Verdammt noch mal: Reiß dich zusammen, Tony, das ist ein Befehl!“, sagte er so leise, dass es kaum zu verstehen war.

„Joe? Joe, hören Sie? Wir brauchen Wasser! Schnell!“ Caine war ein paar Schritte zurück auf die Lichtung gelaufen und bedeutete dem Indianer, dass er sich beeilen sollte. Dann kehrte er zurück und kümmerte sich um die völlig verstört wirkende junge Frau, die stumm und hilflos wirkend mit bebenden Lippen neben Gibbs stand und mit großen Augen auf den Verletzten blickte. „Anna … Anna“ sprach er das Mädchen sanft an. „Anna, Sie müssen uns jetzt helfen, hören Sie. Wo sind Ihre Entführer? Wo sind Rebekka Rivkin und Sam Caulder?“

Annas Augen wirkten riesig in ihrem ausgezehrten Gesicht, als sie Caine jetzt anblickte. „Tot … sie sind beide tot!“, antwortete sie emotionslos.


102. Kapitel

11.20 h – Auf der Insel

Diese kurze, lapidare Aussage ließ sogar Jethro kurzfristig ruckartig aufblicken und Horatio sog hörbar die Luft ein. „Tot?“ fragte er vorsichtig nach, um sicher zu gehen. „Anna, können Sie mir erzählen, was passiert ist? Hat Tony sie … getötet, oder …“ Er ließ das Ende des Satzes offen, er konnte nicht recht glauben, dass Anna die beiden im Alleingang erledigt hatte. „Anna, kommen Sie, reden Sie mit mir“, bat er als Anna ihn nur schweigend anstarrte und sich offensichtlich in einer Erinnerung verlor. „Hat Tony mit ihnen gekämpft – ist er deshalb in diesem Zustand?“

„Nein, Tony ist …diese Frau hat ihn gefoltert. Immer wieder. Es … es hat ihr richtiggehend Spaß gemacht“, reagierte Anna stockend. „Der Mann liegt dort drinnen in der Hütte. Die Frau hat ihn getötet … sie hat ihm eine giftige Schlange ins Gesicht geschleudert … und daraufhin ist er … einen grauenvollen Tod gestorben.“ Die Erinnerung daran jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

„Und Rebekka? Was ist mit ihr passiert?“, mischte Jethro sich ungeduldig ein. Sollte es wirklich wahr sein und die Todfeindin Tony´s und seines Teams war nicht mehr am Leben? Das wäre ja fast zu schön um wahr zu sein. Lieber Himmel, warum konnte diese Frau nicht etwas schneller erzählen? Er musste endlich wissen, was genau passiert war.

„Tony … Tony hat mit letzter Kraft gegen sie gekämpft. Dabei sind sie ins Wasser gefallen und … und ein Alligator ist gekommen und hat ihr erst den Arm abgerissen und sie … dann getötet. Danach hat er sie mitgenommen …der Alligator meine ich. Das ganze Wasser war voll mit ihrem Blut, aber sie war … einfach weg. Ganz plötzlich.“

Caine und Jethro sahen sich an und mussten diese Information erst einmal verarbeiten. Ein Alligator sollte Rebekka getötet haben? Jethro schüttelte kurz den Kopf. Kaum zu glauben! Ein Tier hatte also die Aufgabe übernommen, die er selber liebend gerne ausgeführt hatte, aber es tat ihm nicht leid. Nicht im Mindesten! „Und dieser andere Alligator, der da liegt – was war mit dem?“ Gibbs musste diese Frage stellen, da er sich nicht erklären konnte, wie dieses Tier in die Geschichte passte.

Anna sah langsam auf: „Den habe ich erschossen!“

Gibbs und Horatio sahen sich an und blickten dann wieder auf Anna. Diese zierliche, zerbrechlich wirkende junge Frau hatte diese riesige Echse erledigt? „Reden Sie weiter, Anna“ wandte sich jetzt Lt. Caine an das blonde Mädchen. Diese tröpfchenweise fließenden Informationen waren wirklich schwer zu ertragen.

„Als … als die Frau tot war, ist plötzlich ein zweiter Alligator aufgetaucht. – Tony war zu schwach, wegzulaufen. Ich habe ihn gezogen, aber … aber die Echse war so schnell! Sie ist auf uns zugekommen und … wollte ihn …“ Anna schluckte schwer, aber dann straffte sie sich und fuhr mit überraschend fester Stimme fort: „Ich hatte vor der Hütte eine Waffe gefunden, unsere Entführerin hatte sie verloren … und ich musste doch Tony retten! Da habe ich geschossen, wieder und wieder, bis … bis er tot war. --- Ich musste doch Tony retten!“ Mit bebenden Lippen brach sie ab.

Sprachlos starrten die beiden Polizisten Anna an. Keiner hätte ihr auch nur im Mindesten so etwas zugetraut. Nur langsam gewannen sie ihre Fassung zurück.

In diesem Moment traf Joe mit dem Wasser bei der kleinen Gruppe ein und Gibbs konzentrierte sich wieder auf Tony. Er flößte dem Bewusstlosen etwas Wasser ein und kippte dann großzügig je einen Schwall über Tonys Gesicht und seinen Oberkörper. Wortlos und ohne sich umzudrehen streckte er dann den Arm nach oben und nahm eine weitere Flasche entgegen, um Tony erneut ein wenig Flüssigkeit zu verabreichen. Joe hielt dem Grauhaarigen ein sauberes Handtuch vor die Nase und Gibbs nahm es mit einem kurzen dankbaren Nicken entgegen. Mit einem kräftigen Ruck riss er das Tuch in zwei Teile und tränkte beide mit dem kostbaren Nass. Den einen Streifen legte er auf Tonis Stirn und mit dem zweiten versuchte er dann vorsichtig die größten Wundflächen zu säubern, was dem Bewusstlosen ein leises Stöhnen entlockte. „Tut mir leid, Toni, aber es muss sein – ehrlich, es tut mir so leid“, flüsterte Gibbs seinem Ziehsohn zu und strich ihm vorsichtig über die Wange.

„Mr. Gibbs, ich habe den Hubschrauber angefunkt, aber der Pilot sagt, er kann hier nicht landen, es ist zu wenig Platz. Und er hat auch keine Seilwinde, mit der er eine Last hochziehen könnte. Wir könnten einen anderen Hubschrauber mit Seilwinde anfordern, aber … das kostet wieder Zeit.“ Joe warf einen scheuen Blick auf Tony „Ich fürchte, wir müssen ihn … mit dem Boot zurückbringen.“

Jethro funkelte den jungen Indianer grimmig an, obwohl ihm durchaus bewusst war, dass der Mann dieses Mal nichts für die erneute Verzögerung konnte. Verflucht noch mal, konnte denn nicht einmal etwas einfach sein? Er erlöste Joe und warf einen sorgenvollen Blick auf Tony, der gerade wieder leise stöhnte. „Gut“, sagte er schließlich. „Wenn es also so ist, dann … ist es nicht zu ändern. Los, Joe, fassen Sie mit an. Aber vorsichtig, klar? Tragen wir ihn auf´s Boot. – Ich will nicht noch mehr Zeit verlieren.“

In diesem Moment kam auch Horatio zurück, der kurz in die Hütte gegangen war und dort mit undefinierbarem Gesichtsausdruck die verwesende Leiche Caulders betrachtet hatte. Er würde später ein Team herausschicken, die ihn abholen würde. Mehr war in diesem Fall definitiv nicht mehr zu tun.

Ein paar Minuten später hatten die Männer Tony mit vereinten Kräften auf das Boot gebracht und versucht, es ihm so bequem wie möglich einzurichten. Noch immer hatte der Schwerverletzte kein Wort gesagt und sein Bewusstschein schien so weit entfernt, wie selten zuvor. Anna hatte sich neben ihn gesetzt und hielt seine Hand. Hin und wieder streichelten ihre Finger unbeholfen über die aufgesprungenen Knöchel und die raue Haut.

„Er wird es doch schaffen, oder?“, erkundigte sie sich mit kreideweißem Gesicht bei Gibbs.

Gibbs widerstrebte es sehr, zu lügen und so wählte er seine Antwort mit Bedacht: „Anna, ich versichere Ihnen, Tony hat schon ganz andere Dinge überstanden.“ Er merkte sehr wohl, dass die junge Frau den Zuspruch dringend brauchte, aber wenn er Tony so anschaute, dann meldeten sich in seinem Inneren doch leise Zweifel. „Joe, was zum Henker treiben Sie da?“, fauchte er den Indianer an.

„Keine Panik. Geht schon los.“ Joe ließ den Motor aufheulen, wendete das Boot und wenige Sekunden später jagten sie mit der größtmöglichen Geschwindigkeit auf das Festland zu.

Caine griff zum Funkgerät. Jetzt zählte jede Sekunde und es war wichtig, dass sie ihren Standort im Minutentakt an die anderen durchgaben, damit sie nicht womöglich blindlings an der durch den Piloten ja bereits angeforderten Einheit mit dem Arzt an Bord vorbeirauschten.


11.28 h – Bei Ziva

Ziva starrte auf die vorbeifliegende Landschaft. Seit einer viertel Stunde waren sie mit dem Boot unterwegs, um zu der kleinen Insel zu gelangen, auf der Tony auf sie wartete. Der Funkspruch, den sie eben erhalten hatten, hatte sie völlig aufgewühlt. Jethro und Caine hatten Tony gefunden. Er lebte, aber anscheinend ging es ihm nicht besonders gut. Der Mann, der angerufen hatte, hatte nicht viel mehr gesagt, außer dass der grauhaarige Mann unbedingt einen Hubschrauber wollte, um Tony wegzubringen. Wenn Gibbs – und es musste sich bei dem grauhaarigen Mann ja um Gibbs handeln, um wen sonst – so vehement nach einem Hubschrauber verlangte, dann war es verdammt ernst und Tony blieb vermutlich nicht mehr viel Zeit.

Aber dieser verfluchte Heli konnte ja dort nicht landen. Mittlerweile waren Gibbs und die anderen mit dem Boot unterwegs zur Airboot-Station. Horatio hatte sie nochmals angefunkt und jetzt wussten sie auch, dass Rebekka tot war, zerrissen von einem Alligator und Caulder war ebenfalls tot. Dieser verdammt Cretin war an einem Schlangenbiss krepiert – geschah ihm recht. Eigentlich hätte sie jubeln sollen, aber sie fühlte sich gerade nur leer und ausgebrannt. Alles was zählte, war, dass Tony lebte. Noch lebte.

Eben waren sie mitten in den Everglades einer weiteren Einheit begegnet, die einen Arzt an Bord hatten. Der Einfachheit halber war der Mann direkt in ihr Boot umgestiegen und die zusätzliche Einheit war bereits auf dem Rückweg. Schließlich wussten sie nun, dass sie keine Gegner oder Angriffe mehr zu fürchten hatten. Bedrückendes Schweigen herrschte vor und außer dem lautstarken Dröhnen des Motors war nichts zu hören. Zivas Blicke wurden immer wieder magisch angezogen von dem Arztkoffer des Mediziners, der zwischen den Beinen des Mannes auf dem Boden des Bootes stand. Sie konnte nur hoffen und beten, dass sie nicht zu spät kamen und der Mann noch die Möglichkeit bekam, seinen Job zu tun. Eine einsame Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rann über ihre Wange, aber es war ihr egal, dass die anderen das womöglich bemerken würden. Sie wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte und doch machte das Warten sie schier wahnsinnig. Der Bootsführer hatte gemeint, dass sie eigentlich auf halber Strecke auf das Boot von Jethro treffen müssten … und so langsam fragte sie sich wirklich, wie lange wohl „halbe Strecke“ in diesen endlosen Weiten dauern konnte. Unfassbar! Wenn das hier überstanden war, würden diese verdammten Glades sie nie, niemals mehr wiedersehen, soviel stand fest. Wenn sie doch nur Tony endlich wieder in die Arme schließen dürfte… Natürlich war ihr klar, dass sie ihren Verlobten erst dem Arzt überlassen musste, aber es würde ihr ja schon helfen, wenn sie ihn wenigstens sehen könnte. Sich mit eigenen Augen davon überzeugen könnte, dass er noch atmete...

„Ich glaube, da vorne kommen sie“, sagte in diesem Augenblick der Bootsführer und Ziva stürzte förmlich nach vorne an den Bug des Bootes. Tatsächlich, in der Ferne war ein dunkler Punkt auszumachen, der sich rasch näherte. Unwillkürlich gruben sich ihre Fingernägel in die Handinnenflächen – hoffentlich, hoffentlich waren sie das wirklich und nicht nur wieder eines dieser verdammten Ausflugsboote, die vollgestopft mit irgendwelchen Touristen waren, die danach geierten, einen Alligator vor die Kamera zu kriegen, hier unterwegs waren. Nein! Dieses Mal nicht! Ziva strengte ihre Augen an und erkannte Gibbs, der ebenfalls am Bug des Bootes stand und nun mit einem Arm Zeichen gab.

Danach ging alles sehr schnell. Die beiden Boote hielten dicht nebeneinander an und der Arzt wechselte – dicht gefolgt von der Israelin – das Boot. Ziva ergriff Gibbs´ helfende Hand und sprang mit einem Satz rüber. Hektisch versuchten ihre Augen binnen Bruchteilen von Sekunden die Lage in sich aufzunehmen und als sie Tony auf dem Boden am Heck des Bootes wie tot liegen sah, entfuhr ihr ein impulsives „Oh, mein Gott! Gibbs…“

„Ich weiß! Ich weiß, Ziva. Aber keine Sorge, er lebt“, erklärte ihr Boss ihr beruhigend und legte ihr einen Arm fest um die Schultern, um seine Agentin davon abzuhalten, direkt zu ihrem Verlobten zu stürzen. Der Arzt kniete bereits an Tonys Seite und kontrollierte mit sicherem Griff die Vitalfunktionen des Agents. Dann winkte er Horatio an seine Seite und bat ihn um Hilfe, während er eine Infusion aus seiner Tasche holte. Während Horatio die Flasche mit der Lebensspendenden Flüssigkeit hochhielt, legte der Doktor geübt einen Zugang und schloss schließlich die Infusion an. Er warf Caine einen fragenden Blick zu. Der verstand, nickte wortlos und ließ sich auf der letzten Bank als Flaschenträger nieder. Der Mediziner widmete seine Aufmerksamkeit daraufhin den äußeren Wunden Tonys.

„Wie … wie geht es ihm?“, fragte Ziva zaghaft. Alleine diese kurze Frage hatte sie eine Menge Überwindung gekostet, denn so sehr sie die Antwort auch wissen wollte, so sehr fürchtete sie diese gleichermaßen.

„Der Patient ist stark dehydriert und geschwächt – vermutlich auch aufgrund des hohen Fiebers. Wie lange ist er schon bewusstlos?“, wandte der Mann sich dann an die anderen und alle Blicke wandten sich Anna zu, die sich sichtlich unwohl fühlte.

„So genau weiß ich das auch nicht, aber als der Helikopter über uns flog, da … da haben wir noch gesprochen. Zwar nicht viel, aber …“ Sie brach ab und zuckte ratlos mit den Schultern.

„Weiß irgendjemand, wann genau das war?“

Ziva warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Das ist jetzt etwa eine Stunde her“, gab sie dann Antwort.

„Gut“, antwortete der Doc befriedigt. „Noch nicht so lange. Wenn die Infusion jetzt schnell anschlägt und sein Kreislauf nicht kollabiert, dann denke ich nicht, dass er ins Koma fallen wird. Geben wir ihm ein bisschen Zeit. Die äußeren Wunden sind größtenteils oberflächlich – einige zwar auch ganz schön tief, aber ich will jetzt hier nicht nähen. Ich begnüge mich vorläufig nur mit dem Säubern und der Erstversorgung der Wunden, damit sich nicht noch neue Entzündungsherde bilden. Sein Knie sieht allerdings nicht gut aus – daran kann ich im Moment nichts tun. Haben wir hier irgendetwas, was ich als provisorische Schiene nutzen könnte?“

Gibbs ließ Ziva los, griff sich ein Ruder und „kürzte“ das Holz kurzerhand über dem Knie einigermaßen passend. Dann reichte er das eine Ende an den Mediziner weiter, der es mit einem Schulterzucken entgegen nahm und weiter seiner Arbeit nachging.

Ziva nickte und ließ den Mann seine Arbeit tun – so schwer ihr das im Moment auch fiel. Tony brauchte Hilfe und die sollte er auch bekommen. Sie atmete einmal tief durch und wandte sich dann an die blonde junge Frau, die etwas hilflos wirkend auf der Mittelbank des Bootes Platz genommen hatte. „Hallo – Sie müssen Anna sein“, sagte sie und streckte die Hand aus, die schließlich zögernd angenommen und kurz gedrückt wurde.

„Ja“, kam leise die Antwort. „Und Sie sind Ziva, nicht wahr?“

„Tony hat von mir gesprochen?“ Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fühlte Ziva Erleichterung in sich aufsteigen.

„Natürlich.“ Anna lächelte leicht. „Andauernd. So viel und so oft, dass ich beinahe schon glaube, Sie zu kennen. Als sein Fieber stieg, hat er sogar gedacht, ich wäre sie. Er liebt sie sehr.“

„Ja“, antwortete Ziva und schluckte den plötzlich auftauchenden Kloß in ihrem Hals hinunter. „Ich ihn auch. – Hören Sie, ich … ich möchte Ihnen danken, dass Sie sich so gut um Tony gekümmert haben.“

„Gut?“ Zweifelnd zuckte Annas Blick nach hinten.

„Ich bin absolut sicher, dass Sie sich gut um ihn gekümmert haben und dass er – wenn Sie nicht gewesen wären – vermutlich schon tot wäre“, sagte Ziva mit fester Stimme. „Sie haben ihm das Leben gerettet.“

„Danke“, antwortete Anna leise. „Ich bin so froh, dass Sie das sagen. Ich hatte schon Angst, dass Sie denken würden, ich…“

„Nein, keine Sorge.“ Ziva legte eine Hand aufs Annas Hände, die diese wieder gefaltet im Schoß liegen hatte. „Ich bin sehr dankbar, dass er Sie an seiner Seite hatte – wirklich sehr dankbar.“

„Es…war alles so furchtbar“, entgegnete Anna mit zitternder Stimme. „Diese Frau…sie war so…“

„Ich kann es mir gut vorstellen, glauben Sie mir. Aber nun ist es ja vorbei – Sie haben es überstanden…und Tony auch.“

„Ich glaube, er kommt zu sich“, sagte in diesem Moment der Arzt und Ziva schoss wie ein geölter Blitz über die Bank nach hinten.

Leise stöhnend bewegte Tony seinen Kopf und öffnete schließlich flackernd seine Augen. Er wollte versuchen, sich aufzurichten, doch der Arzt drückte ihn mit sanftem Druck zurück auf die provisorische Unterlage.

„Nichts da. Sie bleiben schön liegen“, sagte er bestimmt.

„Wo…wo bin ich?“ Plötzlich entdeckte er aus dem Augenwinkel Ziva, deren besorgter Blick auf ihm ruhte. „Ziva? Wo kommst du denn plötzlich her?“ Noch immer klang seine Stimme sehr schwach, leise und zittrig, aber er schien seinen Geist unter Kontrolle zu haben.

Ziva atmete erleichtert auf und griff nach seiner Hand. „Bleib liegen, Schatz – alles ist gut! Du bist in Sicherheit! Es ist vorbei!“

 

103. Kapitel

3 Tage später - 18.00 h – In einem Krankenhaus in Miami

„Gibbs, Gibbs, ich glaube, er wacht auf!“ Aufgeregt drehte sich McGee, der vor einer Weile den direkten Wachposten neben Tony´s Bett übernommen hatte, zu seinen Kollegen um, die im Hintergrund des Einzelzimmers jeweils in einem der unbequemen Besuchersessel versuchten, etwas Schlaf zu finden. Tony war natürlich am meisten von Allen mitgenommen von den Geschehnissen der letzten Tage, doch auch an den Anderen war das Alles nicht spurlos vorübergegangen und so waren sie alle rechtschaffen erledigt, nachdem endlich festgestanden hatte, dass Tony das neuerliche Abenteuer mit Rebekka Rivkin glücklicherweise wieder einmal überleben würde. Und da die Israelin dieses Mal selber ihren Anschlägen zum Opfer gefallen war, bestand auch keinerlei Gefahr mehr, dass sie erneut zuschlagen würde. Trotzdem hatte sich sein Team nicht abwimmeln lassen. Nachdem die Ärzte sie über Tony´s Zustand informiert und gemeint hatten, der Patient brauche nun zunächst einmal viel Ruhe und sie könnten gehen und ja am nächsten Morgen wiederkommen, hatten sie sich rigoros über den dezenten Rausschmiss hinweggesetzt und kurz darauf allesamt in seinem Krankenzimmer Position bezogen. Von da wachten Gibbs, Ziva und McGee abwechselnd an Tony´s Bett, während die anderen jeweils versucht hatten, auf den unbequemen Besucherstühlen etwas Ruhe zu finden, bzw. die in DC Zurückgebliebenen über die guten Neuigkeiten auf dem Laufenden zu halten.

Obwohl Tony bei der Einlieferung in die Klinik wach und ansprechbar gewesen war, hatten die Ärzte sich nach ersten eingehenden Untersuchungen dazu entschlossen, seinem geschundenen Körper mindestens 2 Tage völlige Ruhe zur besseren Regeneration zu gönnen und so war er für kurze Zeit doch noch in ein künstliches Koma versetzt worden, aber nachdem seine Werte sich überraschend schnell wieder erholt hatten, war die Medikation bereits am 2. Abend nach der Einlieferung wieder abgesetzt worden und seitdem hatten im Grunde alle auf die erlösende Nachricht gewartet.

Tim hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da war Gibbs schon an seiner Seite, denn er hatte selbstverständlich nicht fest geschlafen, sondern lediglich tief in Gedanken vor sich hin gedöst.

„Weck Ziva auf!“, lautete sein kurzer Befehl, den McGee allerdings nicht auszuführen brauchte, da sich im gleichen Augenblick auch Tony´s Verlobte hellwach neben Tony´s Bett einfand.

Drei Augenpaare waren gespannt und konzentriert auf den Halbitaliener gerichtet, der nun seine Augen mit flackernden Lidern langsam öffnete, während ein leises Stöhnen über seine aufgesprungenen und spröden Lippen kam. Vorsichtig drehte der Patient den Kopf ein wenig und lächelte unter Schmerzen, als er erkannte, dass seine Freunde, die ihm mehr Familie waren, als sein Vater es je gewesen war, an seinem Bett gewacht hatten.

„Hey“, flüsterte er leise krächzend. „Schön, euch zu sehen! Wie geht´s denn so?“

„Nicht sprechen, Schatz!“ Ziva griff besorgt nach der Hand ihres Verlobten und drückte sie sanft. „Die Ärzte sagen, dass du in den nächsten Tagen lieber noch…“

„Ach…“ Tony erwiderte den sanften Händedruck und lächelte, was angesichts der extremen Brandspuren, die die Sonne in seinem Gesicht hinterlassen hatte, und die auch nach 3 Tagen immer noch deutlich zu sehen waren, etwas grotesk aussah. „…was die schon sagen. Lass sie reden.“

„DiNozzo“, mahnte nun auch Gibbs. „Schone deine Stimmbänder.“

„Ja, ja…“

„Das ist ein Befehl“, kam knapp die Unterbrechung vom Grauhaarigen. „Tim, sieh´ zu, dass du einen Arzt auftreibst – er soll nach Tony sehen.“

„Oh, Nein! Bitte nicht!“, raunte Tony und Tim, der sich gerade auf den Weg machen wollte, blieb verunsichert stehen.

„Verdammt, Tony! Halt den Mund. Bist du dir eigentlich bewusst darüber, wie knapp du mal wieder davongekommen bist“, fauchte Gibbs verärgert. „Wir dachten schon, wir wären zu spät gekommen!“

Tony nickte leicht und verzog gleich darauf das Gesicht vor Schmerz. Aber das war ihm im Augenblick herzlich egal. Zu froh und dankbar war er, dass das grausame Geschehen offenbar ein glückliches Ende gefunden hatte. „Schon klar.“ Er räusperte sich ein paar Mal kurz, bevor er mit rauer Stimme weiter redete. „Was ist mit Anna?“, wollte er dann wissen. „Geht es ihr gut?“

„Soweit ja. Gesundheitlich hat sie euer Abenteuer ganz gut überstanden. Ein paar Beulen und Schrammen und sie ist – genau wie du – dehydriert. Wie sie die letzten Tage seelisch verkraftet, das lässt sich noch nicht abschließend sagen. Sie muss noch zur Beobachtung hier in der Klinik bleiben. Dr. Seltwick ist im Augenblick bei ihr und kümmert sich um sie.“

Tony richtete sich leicht auf und versuchte, sich mit dem Ellbogen abzustützen, was ihm einiges abverlangte. Doch seine nächste Frage brannte ihm auf der Seele und er konnte es kaum erwarten, sie endlich zu stellen: „Rebekka?“

„Ist Geschichte!“, antwortete McGee. „Weißt du das denn nicht mehr?“

„Nein, ich…ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was geschehen ist.“ Er warf Gibbs einen fragenden Blick zu.

„Stimmt das? Oder soll der Elfenkönig mich nur beruhigen?“

Gibbs schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, das Weibsstück ist tot – ein Alligator hat sie erwischt!“

„Oh…gut!“ Erleichtert ließ Tony die Spannung aus seinem Körper weichen und sank mit einem Stöhnen in die Kissen zurück. „Das ist gut“, flüsterte er dann noch einmal leise vor sich hin und schien plötzlich tief in Gedanken zu versinken.

„Wir sollten jetzt gehen.“ Gibbs richtete sich auf und warf Ziva und McGee einen auffordernden Blick zu. McGee gab nickend sein Einverständnis, während Ziva etwas angesäuert auf Gibbs Befehl – denn das dies einer war, war allen klar – reagierte.

Zu ihrer aller Überraschung widersetzte sich Tony auch dieses Mal der eindeutigen Anweisung seines Bosses, indem er sagte: „Boss, bitte, ich möchte, dass ihr noch bleibt. Ich habe…in diesen endlos scheinenden Stunden auf der Insel…als ich…nicht wusste, ob wir da lebend wieder rauskommen…ich habe mir da auf dieser Insel etwas vorgenommen…und auch wenn ich nicht mehr alles weiß, was geschehen ist, daran erinnere ich mich!“

Ein weiterer Hustenanfall unterbrach Tony und Gibbs verzog wieder unwillig sein Gesicht. Er wusste, es widersprach jeglicher Vernunft, dass er und seine Leute Tony nicht sofort alleine ließen, damit der Patient zur Ruhe kommen konnte, denn offensichtlich war sein Ziehsohn seelisch immer noch sehr aufgewühlt – von seinen angegriffenen Stimmbändern und der Speiseröhre mal ganz abgesehen. Er sollte wirklich seine Stimme schonen – die Ärzte hatten dies sicher nicht ohne Grund erwähnt. Doch irgendetwas in Tony´s Blick ließ ihn zögern, seinen Befehl zu wiederholen. Tony´s heiser fast flehend hervorgebrachtes „Bitte, Boss“, brachte seinen Vorsatz endgültig ins Wanken und so fragte er schließlich deutlich sanfter: „Was ist los, Tony? Was hast du dir dort vorgenommen, dass so wichtig ist, dass es keinen Aufschub duldet?“

Wieder lächelte Tony und nickte Gibbs dankbar zu, bevor er sich Ziva zuwandte und erneut nach der Hand seiner Verlobten griff. „Ziva…“ Er suchte den Blick seiner wunderschönen Freundin einzufangen und registrierte innerlich mit leichter Belustigung ihre Verwirrung, bevor er heiser weiter sprach. „Ziva David, möchtest du meine Frau werden?“

„Ähm…“ Ziva´s Augen weiteten sich und ihr Blick flog von Tony rüber zu Gibbs und McGee. Tony´s Worte bewegten sie zutiefst, aber sie verunsicherten sie auch auf das Äußerste. Sie fragte sich allen Ernstes, ob sein Gedächtnis – womöglich durch das hohe Fieber oder den Sonnenstich, von dem die Ärzte gesprochen hatten, gelitten hatte und jetzt wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte. Tim wirkte genauso verwirrt, wie sie sich gerade fühlte und auch Gibbs, der ihr Gott sei Dank gleich darauf zur Hilfe kam, war offensichtlich mehr als überrascht über Tony´s Worte.

„Tony“, sagte der Grauhaarige und räusperte sich kurz. „Du hast eine Menge mitgemacht und bist sehr angeschlagen. – Ich denke, es ist doch besser, wir rufen jetzt einen Arzt, der dich noch einmal genauer untersucht.“

Tony lachte leise vor sich hin, als ihm plötzlich klar wurde, was seine Freunde jetzt denken mussten. „Nein, nicht nötig“, sagte er überraschend klar. „Ich bin weder verrückt geworden, noch leide ich an Amnesie. Ich möchte nur ganz einfach, meine Verlobte endlich heiraten.“

„Jetzt?“, war die dreistimmige Antwort vor seinem Bett und jeder der unterschiedlichen Stimmen war die Überraschung deutlich anzuhören.

„Ja, hier und jetzt!“, stellte Tony kurz fest und ein Anflug eines Grinsens umspielte seine Lippen, als er registrierte, dass es den Anderen offensichtlich die Sprache verschlagen hatte. „Ich habe mir dort draußen vorgenommen, nichts mehr auf die lange Bank zu schieben.“ Er blickte Ziva aus geschwollenen Lidern tief in die Augen. „Wir haben schon viel zu lange gewartet, Schatz. Und bis ich wieder ganz auf dem Damm bin – das wird wohl noch ziemlich lange dauern.“ Unwillkürlich wanderte sein Blick dorthin, wo unter der Bettdecke seine bandagierten Beine lagen. Er hatte schon, als er noch Gefangener in der Hütte in den Everglades war, gefühlt, dass vor allem das eine Knie schrecklich zugerichtet worden war und wohl Wochen oder sogar Monate brauchen würde, bis es wieder vollkommen in Ordnung sein würde, wenn überhaupt. Aber daran wollte er jetzt einfach nicht denken. Zu oft hatte er schon Beweggründe gefunden, die eine Heirat mit Ziva in Frage gestellt hatten. Zweifel, ob er gut genug für sie war, ob er wieder arbeiten und Agent sein konnte, ob er überhaupt wieder halbwegs gesund werden würde, hatten ihn stets zögern lassen, den entscheidenden Schritt zu tun. Das war jetzt vorbei. Ziva und er gehörten zusammen, alles andere war nebensächlich. Wer wusste schon, was noch alles geschah, dass sie wieder und wieder dazu bringen würde, die Hochzeit aufzuschieben. Nein, was ihn anging, kam das nicht mehr in Frage. „Ich will, dass du meine Frau wirst – so schnell wie möglich und mit allem, was dazu gehört. Bitte…sag „Ja“.“ Sehr gespannt, aber auch etwas ängstlich wartete er auf die Antwort seiner Verlobten, deren Brustkorb sich gerade heftig hob und senkte, während ihre Augen feucht zu schimmern begannen. „Komm schon, ist gar nicht so schwer – du hast es doch schon einmal gesagt.“

„A…aber…Tony, das geht doch nicht“, stotterte sie völlig überrumpelt. „Was ist mit meinem Vater? Er wollte doch dabei sein. – Oh, und Abby…sie wird uns umbringen, wenn wir ohne sie heiraten.“

„Das wird sie allerdings“, rutschte es McGee unbedacht heraus, was ihm prompt eine Kopfnuss von Gibbs einbrachte, die er mit einem perplexen „Hey“ quittierte.

„Elfenkönig, halt die Klappe“, zischte der Grauhaarige, der ahnte, was in Tony vorging. Wie oft hatte er sich selber mit solchen Gedanken gequält? Die Versprechen, die er seiner Frau und Tochter gemacht hatte, und die dann immer wieder wegen der Arbeit oder sonstigen vermeintlich wichtigen Dingen, verschoben wurden, bis es dann urplötzlich – wie aus heiterem Himmel – zu spät gewesen war und er sich nur immer wieder selber vorwerfen konnte, warum zum Teufel er seine Versprechen nicht einfach direkt oder zumindest zeitnah eingelöst hatte. Oh ja, er wusste sehr gut, was Tony wollte und er verstand seinen dienstältesten Agent in diesem Augenblick vermutlich besser, als irgendjemand sonst auf dem Planeten. „Los, komm…“ Er packte Tim am Arm und zog ihn in Richtung Tür. „Wir warten vor der Tür.“ Bevor er dann gemeinsam mit dem MIT-Absolventen das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal zum Bett um, wo Tony immer auf Ziva´s Antwort wartete. „Es geht mich zwar nichts an, aber ich muss das jetzt einfach loswerden. Tony…wie auch immer Ziva sich entscheidet, ich will, dass du weißt, dass ich sehr, sehr stolz auf dich bin! Und Ziva…dir will ich sagen, dass Tony recht hat. Es geht hier um euch und zwar nur um euch. Nicht um deinen Vater, nicht um Abby, nicht um irgendwelche nicht vorhandenen Schmuckstücke… Das einzige, was zählt, ist das, was ihr beide wollt.“

Ohne eine Antwort abzuwarten dirigierte Gibbs Tim nach seiner ungewöhnlich langen Ansprache aus dem Zimmer, wo sich daraufhin für einen Moment lang eine unnatürliche Stille einstellte. Schließlich sagte Tony hörbar enttäuscht.

„Hör zu, du hast Recht – es war eine dumme Idee. Lassen wir es. Ich dachte nur…“

„Nein!“, rief Ziva dazwischen, beugte sich gleich darauf über ihren Freund und küsste ihn sanft auf die aufgesprungenen Lippen. „DU hast Recht! Es kam nur eben ein bisschen überraschend für mich. Ich bin einverstanden.“ Zum ersten Mal seit Wochen breitete sich ein strahlendes Lächeln auf dem schönen ebenmäßigen Gesicht aus und vertrieb die Sorgenfalten, die sich bis dahin auf Ziva´s Antlitz eingenistet und tief eingegraben hatten, endgültig ins Reich des Vergessens. Sie legte ihre Hände an Tony´s Wangen, spürte die rauen Bartstoppeln und immer noch die Hitze des Fiebers, das von seiner Haut ausging – obwohl es, wie sie wusste, inzwischen schon deutlich gesunken war. „Hörst du, Tony? Ich sage JA. Ich will nichts mehr, als dich heiraten. Hier und jetzt!“ Ihr Herz platzte fast vor Freude, als sie bemerkte, wie Tony sich entspannte und sich ein glücksseliger Ausdruck auf seinem malträtierten Gesicht breitmachte.

Der schwer Verletzte schmiegte seine Wange in Ziva´s Rechte und rieb sich leicht daran. „Du ahnst gar nicht, wie glücklich du mich damit machst“, flüsterte er leise.

„Und du mich erst“, erwiderte die Israelin strahlend. „Du hast dir ja offensichtlich viele Gedanken während deiner Gefangen…dort auf der Insel gemacht…ich geh´ mal davon aus, du weißt jetzt, was wir tun müssen…“

„Nein!“, erwiderte Tony und musste lachen, als er Ziva´s verdutzten Gesichtsausdruck sah. „Ich habe nicht die geringste Ahnung – immerhin sind alle unsere Unterlagen in DC.“

„Du meinst…?“ Die junge Frau atmete einmal tief durch. „Okay…wir packen das“, sagte sie dann. „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Highway!“ Entrüstet blickte sie auf ihren Verlobten, der vor lauter heiserem Lachen in einen erneuten Hustenanfall verfiel. „Warum lachst du mich aus?“, wollte sie dann wissen.

„Weg, mein Schatz, es heißt „wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“ … und genau den werden wir jetzt finden.“ Keuchend fügte er hinzu: „Ich kann es kaum noch erwarten.“

„Ich auch nicht! Hey, beruhige dich! Wehe, du stirbst mir hier vor der Hochzeit noch weg!“, drohte Ziva scherzhaft. Sie gab Tony noch einen schnellen Kuss und ließ sich dann von seiner Bettkante rutschen. „Ich hole die anderen rein. Ich fürchte, für die Durchführung deines heroischen Planes werden wir ihre Hilfe brauchen. – Ich liebe dich, du verrückter Hund!“

„Ich dich auch, Ninja…ich dich auch“, antwortete Tony und versuchte erschöpft, wieder etwas zu Atem zu kommen. „Du machst dir ja keine Vorstellung davon, wie sehr…“

104. Kapitel

18.45 Uhr – Hektische Planungsphase

Nachdem Ziva Gibbs und McGee wieder ins Zimmer geholt und den beiden stolz die Neuigkeiten verkündet hatte, meinte Tim ziemlich fassungslos:

„Wow, ihr wollt das also tatsächlich durchziehen, oder?“ Als er bemerkte, dass Gibbs schon wieder drohend die Hand hob, setzte er entrüstet hinzu: „Was soll das, Boss? Man wird ja wohl mal fragen dürfen?“

„Mann ja, du nicht“, konstatierte Gibbs trocken, der sowieso seit einer Weile ungewöhnlich gelöst wirkte. „Also“, erkundigte er sich dann. „Was passiert jetzt?“

„Na ja, zuallererst mal brauchen wir mal einen Geistlichen“, meinte Tony.

„Kein Problem“, antwortete Gibbs. „Jede Klinik hat eine Kapelle für Gottesdienste falls Hinterbliebene von Verstorbenen Trost und Ruhe bei Gott suchen. Ergo muss hier auch irgendwo ein Geistlicher aufzutreiben sein“, sagte er so, als sei dies das Einfachste von der Welt.

„Ich kümmere mich drum“, bot sich Tim an und Gibbs nickte zustimmend.

„Einverstanden – sollte es Probleme geben, dann ruf Horatio Caine an. Er kennt eine Menge Leute hier und er wird uns sicher gerne behilflich sein.“

„In Ordnung“, antwortete McGee, stand auf und verließ den Raum. Seine Reaktion auf Tony´s „Beeil dich“, war lediglich ein kurzes Winken, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

„Anna!“, fiel es Tony da ein. „Gibbs, würdest du Anna für mich fragen, ob sie dabei sein möchte? Ziva, du hast doch nichts dagegen, oder?“

„Nein, natürlich nicht.“ Seine Braut schüttelte den Kopf. „Aber ich denke, dass es besser ist, wenn ich sie frage. Gibbs, du suchst einen Arzt und…Nein, Tony, lass mich ausreden“, sagte sie schnell, als sie sah, dass ihr Verlobter aufbegehren wollte. „Ich möchte, dass dich ein Arzt anschaut und dir „Hochzeitstauglichkeit“ bescheinigt – oder glaubst du vielleicht, ich will dich mit dieser Aktion überfordern und noch vor der Hochzeit umbringen? Kommt gar nicht in Frage – so leicht kommst du mir nicht davon!“ Ihr gespielt strenger Blick ließ Tony lächeln und er hielt den Mund. „Na, siehst du, geht doch. Außerdem hoffe ich, dass sie dir vielleicht wenigstens ein paar von diesen …“ Sie fuchtelte kurz mit den Händen in der Luft herum. „… blöden Kabeln abnehmen können, so dass wir dich vielleicht wenigstens in einen Rollstuhl setzen können.“

„Gute Idee“, meinte Gibbs, der sich insgeheim auch etwas sorgte, ob Tony das alles in seinem Zustand schon verkraften konnte. Daher war er sehr damit einverstanden, dass Ziva zuvor auf einem Arzt bestand. Und wie sie ihre Bitte dem alten Sturkopf verkaufte, davor konnte er nur den Hut ziehen. Aber das große Feld der Diplomatie war ja noch nie seine hervorstechendste Eigenschaft gewesen, da machte er sich nichts vor. „Na los, Ziva, es gibt viel zu tun – fangen wir an. Spätestens um 20.00 h treffen wir uns alle wieder hier. Tony, du rührst dich nicht von der Stelle und wartest hier auf uns.“

Ziva blickte den Grauhaarigen ob seiner letzten Bemerkung etwas verstört an, während sie Tony ein leises Kichern entlockte. Es schien, als wäre hier nicht die Frage, ob er der Situation mit der überstürzten Hochzeit gewachsen war – seinen Boss schien das bevorstehende Ereignis auch nicht kalt zu lassen.

„Ein Scherz, nichts weiter“, versuchte Gibbs so zu tun, als hätte er genau gewusst, was er da gesagt hatte. „Ziva, kommst du?“


19.00 h – Krankenhaus Miami – Im Zimmer von Anna

Nachdem Ziva an die Tür von Anna´s Krankenzimmer geklopft hatte, öffnete sich gleich darauf die Tür und Dr. Seltwick blickte die Israelin fragend an.

„Ja? Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte er leise, fast flüsternd.

„Mein Name ist Ziva David – ich bin Tony´s Verlobte. Ich würde gerne kurz mit Anna reden, wenn das geht. Tony schickt mich.“ Mit einem Mal schoss es ihr durch den Kopf, dass Anna womöglich gar nicht in der Verfassung für ein Gespräch war. Nach dem, was Tony ihr am Telefon von seiner neuen Freundin berichtet hatte, konnte es immerhin durchaus sein, dass die junge Frau durch die neuen schrecklichen Erlebnisse wieder zurückgeworfen worden war. Unsicher wartete sie auf die Antwort des Psychologen und hoffte gleichzeitig, dass Tony´s Wunsch in Erfüllung gehen möge. Sie konnte sehr gut verstehen, dass er die junge Frau, nach all dem, was sie zusammen durchgestanden hatten, jetzt bei der spontanen Zeremonie dabeihaben wollte. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung nickte Dr. Seltwick, trat beiseite und gab den Eingang zu Anna´s Zimmer frei.

„Das geht in Ordnung. Aber versuchen Sie bitte, nicht mit ihr über die Ereignisse der letzten Tage zu sprechen. Sie ist verständlicherweise noch sehr aufgewühlt. Beschränken Sie sich nach Möglichkeit auf Allgemeines. Lernen Sie sich einfach etwas besser kennen, okay?“

„Ja, sicher. Ich möchte ihr eine Einladung von Tony überbringen – zu unserer Hochzeit. Das geht doch in Ordnung, oder?“ Wohlweislich verschwieg Ziva, wann die Hochzeit stattfinden sollte.

Dr. Seltwick nickte wieder verständnisvoll. „Aber sicher“, sagte er freundlich. „Ich warte draußen. Und ich bin sehr gespannt, wie Anna auf die Einladung reagieren wird. Sie geht nicht gerne zu großen Menschenansammlungen.“

„Oh, kein Problem, wir planen eine sehr kleine, intime Feier – nur die engsten Freunde.“ Damit ließ Ziva den Arzt stehen und betrat Anna´s Zimmer, die ihr aus ihrem Bett schon gespannt mit wachem Blick entgegen sah.

„Ziva“, begrüßte die junge Frau die Israelin freundlich. „Schön, dass Sie mich besuchen kommen – ich freue mich, Sie wiederzusehen. Wie geht es Tony?“

„Ich freue mich auch“, erwiderte Ziva lächelnd und reichte Anna die Hand. „Tony ist auf dem Weg der Besserung – er lässt Sie grüßen“, fügte sie dann hinzu. „Und wie geht es Ihnen?“ Okay, Dr. Seltwick hatte zwar gesagt, dass sie nicht mit Anna über die Geschehnisse reden sollte, aber diese Frage musste sie einfach stellen – sie wäre sich sonst total verlogen vorgekommen.

Über Anna´s hübsches Gesicht legte sich ein trauriger Schleier und ihre Augen verdunkelten sich: „Ganz gut soweit“, antwortete sie und ihre Stimme klang deutlich reservierter als zuvor. Sie atmete einmal tief durch und wollte dann im Gegenzug wissen: „Aber viel wichtiger ist doch, dass es Tony besser geht. Ich hoffe, das stimmt auch?“, hakte sie forschend nach und war offensichtlich sehr erleichtert, als Ziva ihr beruhigend zunickte. „Er…er…na ja…diese Frau hat ihm ganz schön übel mitgespielt.“

„Ich weiß. Er ist sehr stolz auf sie und hat mir erzählt, dass er es ohne Sie nicht geschafft hätte.“

„Nein, ich…er übertreibt.“

Ziva beschloss, an dieser Stelle das Thema zu wechseln, bevor die Erinnerung an die Erlebnisse der letzten Tage Anna doch noch zu sehr aufwühlten und aus der Bahn warfen. „Lassen Sie es gut sein. Deswegen bin ich nicht hier. Tony und ich, wir wollen heiraten und wir möchten gerne, dass Sie dabei sind – als Tony´s Trauzeugin.“ Das war zwar eine plötzliche Eingebung gewesen, aber Ziva war sich sicher, dass Tony nichts dagegen haben würde.

„Oh, wow…“ Anna war sichtlich überrascht. „Das…das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich fürchte…wissen Sie, ich gehe nicht sehr gerne unter Menschen.“

„Ich weiß“, nickte Ziva. „Aber das ist auch gar nicht nötig. Sie bräuchten sich nur von mir in einem Rollstuhl rüber in Tony´s Zimmer bringen zu lassen und dort dann zu bezeugen…na ja, das was man halt hier in Amerika bei einer Hochzeit so bezeugt.“ Sie lächelte ein wenig unsicher. „Da ich noch nie verheiratet war, weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau, was Trauzeugen hierzulande so tun müssen. – Bitte, geben Sie sich einen Ruck - sagen sie ja und kommen Sie mit, Tony würde sich so sehr darüber freuen.“

„Was sagen denn die Ärzte dazu?“, erkundigte Anna sich nun mit ernstem Gesicht. „Ich wundere mich ein bisschen, dass er schon wieder fit genug zum heiraten ist?“

Ziva verzog das Gesicht. „Nun, eigentlich ist er das auch nicht, wenn Sie mich fragen. Aber Sie haben ihn ja kennengelernt. Wenn er sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, ist er kaum mehr zu bremsen. Er kann so verdammt stur sein.“

Anna lächelte leicht: „Oh ja, da haben Sie recht, das kann er…“ Nach diesen Worten blickte sie etwas verträumt auf das Landschaftsbild an der Wand, doch sie sah es nicht direkt an, sondern schien durch das Bild hindurch zu sehen.

Ziva, die noch nie sehr geduldig gewesen war, trat abwartend von einem Fuß auf den anderen. Einerseits wollte sie Anna nicht drängen, doch andererseits wollte sie auch so schnell wie möglich zurück zu Tony. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und fragte. „Und? Was ist nun? Haben Sie sich entschieden?“

Anna erschrak leicht, als Ziva sie so unvermittelt wieder ansprach. „Gut“, antwortete sie dann jedoch zu Ziva´s Erleichterung. „Besorgen Sie mir einen Rollstuhl und ich komme mit. Da ich schon einmal bei der Hochzeit meiner Schwester Trauzeugin war, werde ich dieser wichtigen Aufgabe wohl gerecht werden können“, schloss sie mit einem erneuten Lächeln auf den Lippen.

„Oh“, rief Ziva, die mit dieser Antwort schon gar nicht mehr gerechnet hatte, überrascht aus. „Na klar, warten Sie einen Augenblick – ich bin gleich wieder da!“


105. Kapitel

19.45 h – In Tony´s Zimmer

Tony blickte ungeduldig auf den kleinen Reisewecker, den Ziva ihm vorsorglich auf das Nachtschränkchen gestellt hatte. Schon ein Viertel vor Acht…wo zum Teufel blieben die anderen nur. Dass die Braut sich verspätete, das hatte er schon häufiger gehört, aber was war mit Gibbs und McGee? Es konnte doch nicht so lange dauern, einen Geistlichen aufzutreiben, oder? Nervös knetete er seine zerschundenen Finger ineinander und kaute mit den Zähnen auf seiner ohnehin schon kaputten Unterlippe herum. Den Schmerz, den das hervorrief, spürte er kaum. Zu groß war seine Sorge, dass jetzt noch etwas schiefgehen würde. Jetzt, wo er sich einmal dazu entschlossen hatte, Nägel mit Köpfen zu machen und Ziva auch rechtlich an seine Seite zu binden und somit allen Zweiflern – die es durchaus immer noch gab, das wusste er sehr gut – unwiderruflich zu beweisen, dass es ihm ernst war mit dieser Beziehung, wollte er am liebsten keine Sekunde mehr abwarten. Gleichzeitig war er so nervös, wie ein Vollblüter vor einem wichtigen Rennen – auch wenn dieser Vergleich zurzeit sicher hinkte, denn im Augenblick war er sicher alles Mögliche – aber kein Vollblüter! Auch wenn er das Adrenalin gerade rasend schnell durch seine Adern rauschen fühlte.

Der Arzt war bereits in Begleitung einer Krankenschwester bei ihm gewesen. Die beiden hatten die Verbände erneuert – alle Werte überprüft und ihm noch einmal eine zusätzliche Dosis Schmerzmittel genehmigt, wofür Tony mehr als dankbar gewesen war, denn schließlich hatte er nicht vor, den Geistlichen durch einen schmerzverzerrten Gesichtsausdruck gleich wieder zu verscheuchen. Der Mediziner war zwar nicht begeistert von Tony´s Plänen gewesen, doch nachdem Gibbs dem Mann in seiner unnachahmlichen Art gut zugeredet hatte, hatte er schließlich – wenn auch sichtlich widerstrebend seine Zustimmung gegeben, aber wie so oft war dieser offensichtliche Widerwillen eines Gesprächspartners an dem grauhaarigen Chefermittler abgeprallt. Die Krankenschwester hatte sich letztlich sogar dazu bereit erklärt, Tony eine oberflächliche Rasur zu verpassen – eine gründliche war aufgrund der Verbrennungen durch die Sonne und der vielen kleinen oberflächlichen Verletzungen, die er auch im Gesicht davongetragen hatte, derzeit nicht möglich. Danach waren noch die meisten Kabel und Anschlüsse entfernt worden und die resolute Frau hatte Tony umständlich in eines seiner T-Shirts hineingeholfen.

„Sie können doch nicht in diesem Krankenhaushemdchen heiraten“, hatte sie dabei energisch gemeint und war krampfhaft darum bemüht gewesen, sich ihre Rührung nicht anmerken zu lassen. Eine Persönlichkeit, die vermutlich mit Gibbs sehr gut zurechtkäme, schoss es Tony durch den Kopf und er musste sich ein Lächeln verkneifen, denn er hatte nicht vor, dieses der Frau erklären zu müssen.

Tony hatte die Krankenschwester einfach gewähren lassen – einerseits konnte er die Frau verstehen, denn so etwas erlebte sie im normalen Krankenhausalltag sicher eher selten und andererseits begrüßte er jede Abwechslung, die ihm die Wartezeit bis hin zum größten Erlebnis seines bisherigen Lebens verkürzte. Womit er wieder bei der Ausgangsfrage ankam: Wo zum Teufel blieben die bloß alle? Plötzlich öffnete sich die Tür zu seinem Zimmer und McGee wurde sichtbar.

„Tim!“, rief Tony in einer Lautstärke aus, die seine malträtierten Stimmbänder gerade noch zuließ. „Mann, McSchnecke, wo bleibst du denn?“ Vorsichtig richtete er sich auf und versuchte hinter McGee´s Rücken den Mann zu erspähen, der ihm gleich das Eheversprechen abnehmen sollte. `Was? Der?´ dachte er gleich darauf als Tim in Begleitung eines jungen Latinos den Raum betrat. Doch damit nicht genug. Hinter dem Latino folgten ein weiterer junger Mann und eine junge Frau mit langen blonden Haaren. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Allesamt waren schwer bepackt mit Tüten und sonstigem Kram. Die Frau balancierte sogar einen Kleidersack über ihren rechten Unterarm und zischte den Mann vor ihr gerade leise an:

„Mensch, Ryan, pass doch auf!“

Der so Angesprochene grinste lediglich und antwortete: „Ja, ja, reg dich ab. Dem guten Stück passiert schon nichts.“

„Okay“, sagte Tony schließlich und blickte von einem zum anderen. „Tim, was hat das zu bedeuten? Wer ist jetzt hier der Geistliche?“ Die junge Frau grinste er schief an und fügte hinzu. „Sorry, aber Sie schließe ich jetzt mal einfach aus.“

Der Blonden entlockte seine Bemerkung ein herzliches Lächeln, während sie den Raum durchquerte und den Kleidersack vorsichtig über den kleinen quadratischen Tisch ausbreitete. „Wo ist denn Agent David?“, erkundigte sie sich dann mit einer wohlklingenden Stimme.

„Ziva? Das wüsste ich auch gern – sie wollte eigentlich nur kurz zu Anna. Aber … Tim, wenn du vielleicht endlich mal die Güte hättest, mir zu erklären, was hier gerade abgeht? Wer sind die und vor allen Dingen, was zum Henker macht ihr da?“

„Oh, ich dachte, du erkennst sie. Sie waren alle an eurer Rettungsaktion beteiligt.“ Tim wies nacheinander auf die Mitarbeiter des Miami PD. „Calleigh Dusquesne, Eric Delko und Ryan Wolfe.“

„Von meiner Rettungsaktion weiß ich, ehrlich gesagt, nicht mehr viel, aber vielen Dank – für Alles.“ Delko und Wolfe nickten DiNozzo freundlich zu, während sie gleichzeitig unermüdlich ihre mitgebrachten Tüten auspackten. Unmengen Kabel und einige elektronische Geräte kamen zum Vorschein und gleich darauf machten sie sich auf die Suche nach Steckdosen und diskutierten unterdrückt über die beste Position. Tony reichte es jetzt endgültig. „TIM!“

„Wir sind hier nur ausführende Objekte“, versuchte McGee den Bräutigam zu beschwichtigen. „Ich musste doch Abby anrufen, damit sie die nötigen Unterlagen aus euren Akten zusammensucht und per Mail herschickt. Na ja, da wollte sie natürlich wissen, warum ich die so plötzlich haben wollte. Tony, ich schwöre dir, sie ist fast ausgeflippt, als sie erfuhr, was du hier gleich vorhast und sie hat vehement darauf bestanden, dass dieses denkwürdige Ereignis wenigstens auf Film und Foto festgehalten wird. Sie will unbedingt, der Zeremonie via Videokonferenz beiwohnen. Die Leute vom Miami PD waren so freundlich, mir alles Nötige zur Verfügung zu stellen.“

„Toll“, kommentierte Tony trocken. „Ich hoffe, Sie erwarten jetzt keine Dankesrede von mir.“

Delko grinste breit: „Nicht wirklich, aber Sie verstehen sicher, dass wir - nachdem wir Sie so lange und mit so viel Aufwand gesucht haben, uns diese Gelegenheit jetzt nicht entgehen lassen wollten. Agent McGee kann ehrlich nichts dafür – wir waren so frei und haben uns quasi selber eingeladen.“

Tony hob beide Hände, so als würde er sich ergeben. „Geschenkt!“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, „Das habt ihr euch ja wirklich prima ausgedacht – ich bin nur gespannt, was Ziva dazu sagen wird.“

„Oh, ich bin sicher, sie wird begeistert sein – ich habe ihr ein Kleid von mir mitgebracht. Mehr war in der Kürze der Zeit nicht drin, aber es müsste ihr eigentlich passen“, mischte sich Calleigh aus dem Hintergrund ein.

„Tony“, sagte Tim nun wieder, der mittlerweile recht kleinlaut war und sich fragte, ob sie es nicht doch mit dem Aufwand übertrieben. Wobei er weniger Ziva´s, als viel eher Gibbs Reaktion fürchtete. „Komm schon, du kennst doch Abs – sie war total aufgebracht und stinkwütend. Sie hat mir sogar mit dem Tod gedroht.“

„Na und? Besser dir als mir“, kam die trockene Reaktion aus dem Krankenbett. Dann seufzte er tief. „Okay, es lässt sich ja nun nichts mehr ändern. Aber mir scheint, ihr habt das Wichtigste vergessen…solltest du dich nicht um den Geistlichen kümmern?“

„Horatio Caine hat das in die Hand genommen – der Krankenhauspfarrer ist bei einem sterbenden Patienten und da niemand sagen kann, wie lange das noch dauern wird, habe ich Lt. Caine kontaktiert. Er kennt da jemanden und ist schon auf dem Weg, ihn abzuholen. Sie werden sicher bald hier sein.“

„Wow, auf dass das Haus voll werde.“

„McGee, können Sie hier drüben mal kurz schauen – Sie müssen die Verbindung zu Miss Sciuto generieren.“ Ryan Wolfe´s Kopf tauchte aus einem Gewirr von Kabel aus der Versenkung auf und Tim war froh, dass er gebraucht wurde. Delko beschäftigte sich mit seiner Kamera und probte die richtigen Einstellungen bei der schlechten Beleuchtung im Zimmer gleich an mehreren unterschiedlichen Punkten aus.

Tony ließ sich matt zurück auf sein Kissen sinken. „Ein Irrenhaus…“, sagte er mehr zu sich selber. „Ich bin in einem Irrenhaus gelandet.“

„Ja, Tony, wir lieben dich auch und wir sind gerade auch wahnsinnig froh darüber, dass wir all diesen Aufwand jetzt hier für dich betreiben können und uns nicht stattdessen um eine Beerdigung kümmern müssen.“ Tim´s Stimme hatte plötzlich einen ungewohnt strengen Ton bekommen und auch der Blick, den er Tony zuwarf, sprach Bände.

Tony verstand und er schenkte seinem Freund und Kollegen ein ehrliches, dankbares Lächeln. „Danke“, sagte er leise. „Ich denke, das war jetzt nötig. Ich hab´s verstanden und ich danke euch allen von Herzen! Ehrlich.“

„Schon in Ordnung“, antworteten die Kollegen vom Miami PD wie aus einem Mund. „Sie hätten doch sicher das Gleiche für einen von uns gemacht.“ Gleich darauf wuselte Wolfe am Kopfende von Tony´s Bett herum. „Eric, kannst du mir mal zur Hand gehen, wir müssen es irgendwie schaffen, hier ein Mikro so anzubringen, dass es später in der Leitung nicht rauscht und knarzt, wenn er sich bewegt…Ich fürchte, dass würde Miss Sciuto uns niemals verzeihen.“

„Ähm…ich darf für die Zeremonie in einem Rollstuhl sitzen“, warf Tony beinahe schüchtern ein.

„Oh, gut, schön für Sie, aber ich werde das mal trotzdem installieren … Sicher ist sicher“, konstatierte Ryan Wolfe gänzlich unbeeindruckt.

106. Kapitel

20.20 h – Es wird ernst

Auch wenn es sich eigentlich um ein relativ geräumiges Einzelzimmer handelte, bestand momentan die Gefahr, dass Tony´s Krankenzimmer wegen Überfüllung geschlossen werden musste. Zudem musste man vorsichtig sein, da mittlerweile überall im Raum Kabel herumlagen. Nachdem Ziva endlich mit Anna zurückgekehrt war, hatten die beiden überrascht feststellen müssen, dass die angekündigte Minihochzeit inzwischen deutlich mehr Gäste hatte, als ursprünglich geplant. Anna war im ersten Moment ziemlich erschrocken, doch da sie sich – im Gegensatz zu Tony – noch sehr gut an die Leute vom Miami PD erinnerte, die immerhin einen entscheidenden Anteil daran hatten, dass sie und Tony lebend dieser Hölle entkommen waren, hatte sie sich recht schnell wieder beruhigt. Die Frauen hatten sich – in Begleitung von Calleigh – auch sofort wieder zurückgezogen, damit Ziva sich noch in Ruhe umziehen und frisch machen konnte. Kaum waren die drei verschwunden, war Horatio mit dem Pfarrer im Schlepptau aufgetaucht. Und – es war kaum zu glauben – die beiden hatten es auf die Schnelle tatsächlich auch noch geschafft, einen Rabbi aufzutreiben. Auf dem Rückweg hatten die Männer noch schnell im Revier vorbeigeschaut, wo inzwischen alle nötigen Unterlagen und Belege in Kopie von Abby eingegangen waren, so dass nun alles dafür bereit war, eine rechtmäßige Heirat zu vollziehen.

Gespannt warteten nun alle darauf, dass es endlich losging. Wolfe und Dusquesne hielten sich zusammen mit ihrem Chef, Horatio Caine, diskret im Hintergrund, während Delko mit seiner Kamera im Anschlag eher im Vordergrund agierte. Die Videoschaltung lief bereits und so konnte das Brautpaar – wenn es denn wollte – ihre Freunde Abby Sciuto, Dr. Donald Mallard und auch dessen Assistenten Jimmy Palmer auf einem bereitstehenden Laptopbildschirm sehen. Abby hatte die anderen auf die Schnelle zusammengetrommelt und nun standen die Freunde nebeneinander aufgereiht wie Perlen an einer Schnur in Abby´s Labor und warteten genauso wie der Trupp in Miami darauf, dass die Zeremonie begann. Bei Tony hatte man jetzt doch aufgrund der Enge auf den Rollstuhl verzichtet. Stattdessen hatte man ihn in seinem Krankenbett so hergerichtet, dass er nun zumindest sitzend in der Lage war, den größten Schritt seines Lebens zu tun. Alles war bereit – letztlich fehlte nur noch die Braut.

„Verdammt, wo bleiben sie denn?“, flüsterte Tony gerade schier verzweifelt, denn er hielt die steigende Spannung kaum noch aus.

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür, die sich gleich darauf auch ohne extra Aufforderung öffnete. Calleigh schob Anna in ihrem Rollstuhl hinein und als Letzte betrat Ziva den Raum. Sie wirkte fast ein wenig schüchtern, als sie in Calleigh´s Kleid langsam aber doch mit kleinen festen Schritten auf das Bett ihres Verlobten zuschritt.

„Wow“, entfuhr es Tony unwillkürlich, was ihm um ein Haar eine Kopfnuss von Gibbs eingebracht hätte, der seine Position als zweiter Trauzeuge seitlich vom Kopfende des Bettes bereits eingenommen hatte. Im letzten Augenblick beherrschte der Teamleiter sich, denn es wurde ihm bewusst, dass es auf die beiden Geistlichen wohl merkwürdig gewirkt hätte, wenn er den Bräutigam geschlagen hätte. So zuckte seine Hand unverrichteter Dinge wieder zurück und Gibbs strich sich stattdessen mit der Handfläche über den Kopf.

Außerdem…innerlich musste er Tony ja recht geben. Die israelische Agentin sah wunderschön aus: Sehr weiblich in einem Traum von einem lindgrünen Cocktailkleid aus zartem Chiffon, der in mehreren Lagen sehr schmeichelhaft ihre gute Figur zur Geltung brachte. Der Rock reichte ihr durch die übereinander fallenden Bahnen teilweise nur bis zu den Knien und teilweise bis zu den Waden. Ziva´s schlanke Taille wurde durch den Schnitt des Kleides betont und die eng geschnittenen Ärmel reichten bis zu den Ellbogen. Da Ziva Calleigh´s mitgebrachte Schuhe zu klein waren und ihr eigenes – für die Rettungsaktion eher praktisches – Schuhwerk zu diesem Kleid überhaupt nicht passte, trat sie kurzerhand barfuß auf. Ihr dunkles Haar hatten Anna und Calleigh auf die Schnelle zu einer losen Hochsteckfrisur aufgesteckt, die schlicht durch eine weiße Lilie aufgepeppt wurde. Sie wirkte einfach bezaubernd und als sich nun – nach Tony´s Ausdruck der Bewunderung – ein erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht schlich, wirkte sie fast elfengleich.

Aus dem Laptop war ein entrücktes Quietschen zu vernehmen und Ducky hatte offensichtlich alle Mühe, die Laborgoth zu beruhigen, die aufgeregt auf den Fußspitzen hoch und runter wibbelte und ihre Hände vor lauter Begeisterung beide Hände vor ihren Mund schlug, um sich selber ruhig zu stellen. Delko, der zu diesem Zeitpunkt als Einziger den direkten Blick auf den Laptop hatte, grinste breit und unwillkürlich wünschte er sich, diese bemerkenswerte und ungewöhnliche Frau einmal persönlich kennenlernen zu dürfen.

„Können wir denn nun beginnen?“, fragte er Pfarrer und als die Brautleute beide einstimmig nickten, verständigte er sich mit dem Rabbi mit einem Blick. „Wer sind die Trauzeugen?“, erkundigte er sich dann.

„Ich.“ Gibbs trat einen Schritt vor.

„Gut, wer noch?“

„Iiiiiich“, kam Abby´s Stimme aus dem Laptop und sie rammte fast die Laborkamera, weil sie übereifrig gleich zwei, drei, Schritte nach vorne sprang.

„Bei aller Liebe“, wendete nun der Pfarrer ein. „Das geht nun wirklich nicht. Die Trauzeugen müssen vor Ort sein.“

In DC zog Abby sofort einen Schmollmund. „Wo steht das?“, verlangte sie lautstark zu wissen. „Das haben wir schon vor Monaten so vereinbart.“

„Abby, bitte…“, mischte sich der Bräutigam ein. „Mach jetzt keinen Stress, okay?“

„Hm, gut“, gab Abby schmollend klein bei und trat wieder zurück an ihren ursprünglichen Platz. „Aber das wird teuer für dich, das schwöre ich dir.“

„Alles, was du willst“, stöhnte Tony. „Nur lass mich bitte – endlich – heiraten!“

„An mir soll´s nicht liegen. Anna kann mich ja vertreten.“

Tony riss überrascht die Augen auf. Das war die Idee – auf diese Art und Weise wurde Anna quasi ein Teil der Familie. „Anna?“, wandte er sich fragend an die blonde junge Frau im Rollstuhl.

Anna beantwortete Tonis unausgesprochene Frage mit einem Lächeln: „Ziva hat mich schon darum gebeten und ja, ich mach´ das wirklich gerne für euch.“

Zehn Minuten später waren Ziva David und Anthony DiNozzo rechtmäßig verbundene Eheleute. Mann und Frau! Tony konnte es kaum fassen. Sein Herz schlug wie wild und als er in die wunderschönen Augen seiner Verlobten – nein, seiner Frau – blickte, schimmerten seine eigenen Augen tatsächlich feucht. In diesem Augenblick gelang es ihm tatsächlich all den Schmerz und all das, was er durch Rebekka hatte erleiden müssen, für einen Moment lang zu vergessen.

„Ich liebe dich“, flüsterte er leise. „Und ich bin so froh, dass du das alles hier mitgemacht hast. – Ich…ich würde dir gerne noch so viel sagen, aber ich…“ Seine Stimme brach vor Rührung und Ziva legte sanft ihre Hand an seine Wange.

„Du brauchst nichts zu sagen“, flüsterte sie dicht an seinem Ohr, bevor sie zärtlich mit ihren weichen Lippen die immer noch rauen, aufgesprungenen ihres Mannes berührte. „Ich liebe dich auch. Mehr als alles andere auf der Welt, mein kleiner Pelzarsch. Vergiss das nie, hörst du?“

„Hm, werde ich nicht – bestimmt nicht.“ Der Halbitaliener warf seinem Trauzeugen eine stumme Bitte zu und war dankbar, dass Gibbs ihn auch ohne Worte verstand.

„Los, Leute, lasst uns gehen. Das frisch gebackene Ehepaar braucht ein bisschen Zeit für sich. Hopp, los, alle raus hier.“ Unnachgiebig drängte er alle vor die Tür. Beim rausgehen erbarmte er sich noch, und schaltete den Laptop aus, aus dem seit einigen Minuten Abby´s herzzerreißende Schluchzer zu hören war. Ducky hatte alle Hände voll zu tun, die Labortechnikerin zu beruhigen, während Jimmy Palmer mit großen Augen zu verdauen versuchte, was er da gerade eben hatte miterleben dürfen. Gibbs nickte kurz verabschiedend für den Pathologen in die Kamera und gleich darauf wurde der Bildschirm schwarz. Die Tür fiel ins Schloss und Ruhe kehrte ein.

Ziva half ihrem Mann wieder einigermaßen bequem in die Rückenlage zu kommen und legte sich dann sehr vorsichtig neben ihn. Sie spürte, wie er zitterte und kuschelte sich dicht an ihn, um ihn durch ihre Körperwärme zu wärmen.

„Geht es einigermaßen“, fragte sie und griff nach seiner kalten Hand. „War doch ein bisschen viel auf einmal, oder?“

Tony schüttelte den Kopf und erwiderte den Händedruck. „Es geht mir gut.“ Als er den zweifelnden Seitenblick seiner Ehefrau bemerkte, bekräftigte er noch einmal. „Doch, ehrlich, es geht mir gut. So gut, wie schon lange nicht mehr. – Sag, war das jetzt verrückt, was wir eben getan haben?“

„Nein!“ Die Antwort kam spontan und ehrlich. „Wieso? Bereust du es schon?“

„Um Gottes Willen, nein. Aber du…du hättest eigentlich was Besseres verdient. Ich hatte jetzt noch nicht mal einen Ring für dich…ich verspreche dir wenn wir zurück in DC sind und ich wieder auf den Beinen bin, dann holen wir das alles nach. Dann bekommst du die Feier, die du verdient hast – mit Abby, Ducky, deinem Vater und all den anderen, die wir jetzt vor den Kopf gestoßen haben.“

„Tony, ich brauche keine große Feier. Ich brauche auch keinen Ring. Ich brauche dich und nur dich! Ich hatte solche Angst, dass wir es dieses Mal nicht rechtzeitig schaffen, dass ich dich verliere, noch bevor unser gemeinsames Leben richtig begonnen hat. Es war gut so, wie es eben war – es fühlt sich absolut richtig an, so wie es ist.“ Sie spürte, wie Tony an ihrer Wange lächelte und seufzte glücklich.

„Ich würde dich niemals im Stich lassen. Niemals! Zusammen sind wir stark – mit dir an meiner Seite schaffe ich alles. Du bist mein Fels in der Brandung – immer wenn ich kurz vor dem Aufgeben war, musste ich an dich denken und mir war klar, dass ich einfach nicht aufgeben durfte.“

Tony´s Blick fiel erneut auf den kleinen Reisewecker und er stutzte. Die Zeiger standen exakt auf 20.55 h. Beinahe hätte er gelacht. Seit Monaten war er jedes Mal ängstlich zusammengezuckt, wenn er über diese Uhrzeit stolperte. Aber jetzt, in diesem Augenblick wurde ihm endgültig klar, was die Zeitansage zu bedeuten hatte:

Sie stand für die erste Stunde vom Rest seines Lebens und das begann genau JETZT!


E N D E

 

 

Kommentare: 1
  • #1

    Rettungsplan (Montag, 09 Mai 2016 16:57)

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