20.55 h oder "die erste Stunde vom Rest eines Lebens" - Thread V

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22. Kapitel

Endlich „Zuhause“!

 

Eine gute Stunde später erreichten die beiden das Hauptquartier und fuhren mit dem Aufzug hinauf in das Großraumbüro, das für alle Teammitglieder inzwischen zu einer Art 2. Wohnzimmer geworden war. So falsch war der Vergleich gar nicht, wenn man bedachte, dass sie in wirklich harten Zeiten manchmal mehr Zeit in der Woche dort verbrachten, als in ihren Wohnungen.

 

„Was ist los mit dir – du bist so still?“, wunderte sich Ziva. Es war ihr schon während der Fahrt aufgefallen, dass Tony ungewöhnlich ruhig neben ihr auf dem Beifahrersitz gesessen war. Er hatte nicht ein Wort darüber verloren, dass sie tatsächlich selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich rasant gefahren war, da sie durch ihr heißes Geplänkel im Bad doch viel Zeit verloren hatten und Ziva unbedingt ihr Versprechen einhalten und pünktlich im Büro erscheinen wollte. Jetzt stand er schweigend und nachdenklich an die Rückenwand des Fahrstuhls gelehnt und wartete auf die Ankunft im richtigen Stockwerk. Es war nichts mehr zu merken von der Vorfreude, die noch vor wenigen Stunden deutlich bei ihrem Verlobten spürbar gewesen war.

 

Tony drehte den Kopf und blickte Ziva jetzt direkt in die Augen. „Nichts. Alles in Ordnung, Schatz.“

 

„Tony, das stimmt doch nicht. Irgendwas ist doch.“

 

Er rang sich ein schiefes Grinsen ab, das – so wie er hoffte – wenigstens einigermaßen zuversichtlich aussehen sollte. „Nun ja, vielleicht bin ich ein wenig unsicher. Ich war schließlich lange nicht mehr da. Nur zu Besuch – wer weiß, vielleicht bin ich ja total raus…“

 

Ziva lachte kurz auf: „Tony, das glaubst du doch selber nicht. Mach dich nicht verrückt – du packst das! Du wirst sehen. Alle freuen sich für dich.“

 

Bei Tony läuteten plötzlich alle Alarmglocken. „Zivaaaa??? Ihr habt doch nicht etwa… Ich habe dir doch gesagt, ich will nicht, dass ihr hier für mich…“

 

Das unvermeidliche „Pling“ zeigte an, dass der Aufzug sein Ziel erreicht hatte und es unterbrach Tony´s Ansprache. Die Türen glitten fast geräuschlos beiseite und Ziva ging voraus, während Tony wie festgewachsen an der Rückwand stehenblieb. Bevor die Türen sich wieder schlossen, machte Ziva schnell einen Schritt zurück, packte ihren Freund an seiner gesunden Hand und zog ihn aus dem Aufzug in den Bürobereich hinein.

 

„Nun komm schon. Drücken gilt nicht! Gönn´ uns doch die kleine Freude!“

 

Just in diesem Moment war aus der Mitte des Raumes ein begeistertes Quieken zu hören: „Er ist da! Er ist da! Leute, er ist endlich wieder da!“ So schnell es ihre megahohen Plateausohlen erlaubten, tippelte Abby auf Tony zu und warf sich ihrem Freund und Kollegen so schwungvoll an den Hals, dass der drei Schritte zurück machen musste, damit er nicht das Gleichgewicht verlor. Etwas verlegen grinsend drückte er Abby an sich.

 

„Abby…Du tust ja gerade so, als hättest du mich seit Jahren nicht gesehen.“

 

„Aber das ist ja auch so! Nun ja, fast. Beruflich zumindest! Ich freu´ mich ja so, dass du wieder da bist, Tiger. Jetzt wird alles wieder gut! Wir können uns wieder jeden Tag sehen. – du wirst mich in meinem Labor besuchen kommen – wir können reden – du wirst mir Caf Pow mitbringen, wenn Gibbs nicht da ist…“

 

„Werde ich?“, unterbrach Tony sie grinsend. Abby´s überschwängliche Freude war einfach ansteckend und es war schwer, sich ihrer Lebensfreude zu entziehen.

 

Die quirlige Goth nickte so heftig, dass ihre rechts und links abstehenden Rattenschwänze gar nicht mehr zur Ruhe kamen. „Oooh ja, das wirst du!“, bekräftigte sie mit Nachdruck. Dann drehte sie sich um: „Sieh nur!“, rief sie aus und zeigte auf seinen Schreibtisch. „Ich habe da eine Kleinigkeit für dich vorbereitet!“

 

„Das habe ich befürchtet“, murmelte Tony, was ihm prompt einen Rippenstoß von Ziva einbrachte. „Heee“, beschwerte er sich. „Ich sage doch nur die Wahrheit.“ Was er nicht zugab war, dass er durchaus auch gerührt über so viel Anteilnahme war. Die Kollegen kamen nach und nach auf ihn zu, reichten ihm die Hand oder klopften ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Über seinem Schreibtisch hing eine bunte Girlande, auf der in großen, verschnörkelten Lettern „WILLKOMMEN ZURÜCK!“ prangte und die Decke darüber war aufgrund der vielen bunten Luftballons kaum noch zu sehen. Sein Schreibtisch selbst war übersät von vielen kleinen und größeren Glücksbringern, wie man sie eigentlich sonst nur zu Silvester verteilte.

 

„Und? Wie findest du´s?“, erkundigte sich Abby neugierig, die ihn keinen Moment aus den Augen ließ. „Weißt du, eigentlich hatte ich noch viel mehr besorgt, aber Gibbs meinte, das reicht.“ Schmollend schob sich ihre Unterlippe vor. „Dabei hatte ich noch sooo viele tolle Sachen. Ich hab´ da kürzlich einen Laden gefunden, da bekommt man einfach alles. Du wärst begeistert gewesen.“

 

„Davon bin ich überzeugt, Abby. Ehrlich, ich freu´ mich – vielen Dank. – Hey, Tim, du konntest sie wohl nicht zurückhalten, was?“, begrüßte er dann McGee mit einem festen Handschlag. Sein Kollege schüttelte grinsend den Kopf.

 

„Alle diesbezüglichen Versuche waren zwecklos“, antwortete er dann lachend.

 

„Weil du ihr gegenüber nicht genug Autorität an den Tag legst“, stellte Gibbs streng fest, der unbemerkt zu ihnen gestoßen war.

 

„Hallo Boss“, sagte Tony erfreut. „Danke noch mal.“

 

„Der Dank gebührt nicht mir alleine“, war die Antwort und Gibbs wies mit einer Hand nach oben.

 

Tony`s Blick folgte seiner Geste und er war beeindruckt. Sogar Vance stand oben an der Balustrade und beobachtete das muntere Treiben im unteren Bereich. Er nickte nach oben: „Direktor…“

 

Leon Vance nickte zurück und sein kurzes Lächeln wirkte wie immer ein wenig zynisch. „Agent DiNozzo. Schön, dass Sie wieder da sind.“

 

„Ja, das finde ich auch“, bestätigte Tony ruhig.

 

„Nun denn…Sie wissen ja, worauf es ankommt.“

 

„Natürlich“, nickte Tony.

 

Ohne ein weiteres Wort wandte Vance sich ab und ging zurück in sein Büro. Nach wie vor war er nicht davon überzeugt, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, DiNozzo jetzt schon wieder zum Dienst zuzulassen, doch er hatte sich wider besseren Wissens Gibbs´ Wunsch gebeugt und konnte nun nur hoffen, dass dies nicht die falsche Entscheidung gewesen war. Jedenfalls erinnerte er sich sehr gut daran, was er Gibbs angedroht hatte und auch wenn er einen DiNozzo im Vollbesitz seiner Fähigkeiten für einen sehr wertvollen Agent hielt, so würde er keine Sekunde zögern, seine Drohung wahrzumachen, wenn der Mann in der nächsten Zeit Mist bauen würde.

 

„Wow“, sagte Tony unten sarkastisch. „Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wie sehr sich alle freuen.“ Dabei blickte er Vance hinterher und legte besondere Betonung auf das Wort „alle“.

 

Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als er einen heftigen Schlag am Hinterkopf verspürte. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht drehte er sich zu Gibbs um. „Na bitte“, sagte er lachend. „Geht doch. JETZT bin ich tatsächlich angekommen.“

 

„Freut mich, wenn du dich freust“, antwortete sein Chef kurz. „Dann können wir ja jetzt endlich alle anfangen zu arbeiten.

23. Kapitel

Montagabend – Im Büro

 

Tony war den kompletten Nachmittag über alleine im Büro gewesen, da das Team überraschend nach einem Leichenfund in Quantico hatte ausrücken müssen. Ducky und Palmer waren auch gefordert gewesen und so war ihm nur Abby im Labor geblieben, die ihm wenigstens ein bisschen die Zeit hatte vertreiben können. Andererseits war sie zurzeit auch sehr beschäftigt und spätestens, nachdem Vance sie anrief, um sich nach Ergebnissen aus einem anderen Fall zu erkundigen, hatte sie ihn mit einem bedauernden Lächeln verabschieden müssen. Daraufhin war er ins Archiv gestiefelt und hatte sich wahllos Akten einiger alter, nicht gelöster Fälle besorgt, um sich hiermit abzulenken. Zu gerne hätte er den Außeneinsatz mitgemacht, doch Gibbs hatte ihm mit einem unmissverständlichen Blick klar gemacht, dass er gar nicht erst zu fragen brauchte. So hatte er den Nachmittag frustriert mit dem Studium der alten Akten an seinem Schreibtisch verbracht – unterbrochen nur durch zwei Besuche im Waschraum, immer dann, wenn er der Meinung war, sich eine kleine Aufmunterung verdient zu haben.

 

Alle paar Minuten hatte er auf die Uhr gesehen – die Langeweile hatte ihn schier wahnsinnig gemacht. Da war sein Programm zu Hause noch unterhaltsamer gewesen, konstatierte er nach einer Weile missmutig. Hier und da ein wenig Hausarbeit, einkaufen und die Filme oder Serien seiner Wahl gucken. Irgendwie war es ihm immer gelungen, sich abzulenken, bis es endlich soweit war, dass Ziva nach Hause kam. Und nun? Verdammt, was hatte er denn eigentlich erwartet? Dass er sofort nach Aufklappen einer Akte auf genau DAS Indiz stoßen würde, nach dem Kollegen zuvor teilweise monatelang gesucht hatten? Nein, diese Annahme wäre wahrlich vermessen gewesen. Aber dass er hier tatsächlich nur mehr oder weniger sinnlos in der Gegend rum saß, während um ihn herum die Kollegen tatsächlich arbeiteten, dass hatte er sich dann doch nicht träumen lassen. Sicher, der ein oder andere Kollege war mal bei ihm stehengeblieben und hatte sich nach seinem Befinden erkundigt, aber diese paar belanglosen „Schwätzchen“ hatten seinen Tag nicht retten können.

 

Vor einer halben Stunde war das Team dann endlich von seinem Außeneinsatz zurückgekehrt. Tony war zwischen ihnen hin und her gelaufen, hatte gefragt, wie alles gelaufen war, hatte Witze gerissen und geplappert wie ein Wasserfall, bis Gibbs ihn mit einer zweiten Kopfnuss an diesem Tag auf den Boden zurückholte: „Hey! Hol erst mal wieder Luft. Du bist ja völlig überdreht!“

 

„Äh … ja. T´schuldige Boss! Es ist nur … mein erster Tag seit …“. Er brach ab und ging an seinen Schreibtisch zurück. `Mensch, reiß´ dich zusammen´, schalt er sich in Gedanken. Er zwang sich zu einem verschmitzten Grinsen und nickte Ziva augenzwinkernd zu, die ihn schon besorgt anblickte. Himmel, wenn er sich weiter so auffällig verhielt, würden die anderen sicher nicht lange brauchen, um herauszufinden, dass er zwischendurch etwas einwarf. Er zwang sich kurz zur Ruhe, doch gleich darauf sprang er schon wieder auf: „Hey, Leute! Wie wär´s, wenn wir heute Abend zur Feier des Tages alle auf einen Drink zu Jim in die Bar gehen? Ich war schon ewig nicht mehr dort – na ja, vielleicht nicht ewig, aber schon mindestens zwei Monate nicht mehr.“  Jim´s Bar war das Stammlokal vieler NCIS-Agents ganz in der Nähe des Hauptquartiers und er war wirklich gerne dort. Sie hatten in dem Lokal schon viele übermütige Stunden in gemütlicher Atmosphäre verbracht, aber manchmal hatte er auch nur alleine dort bei einem Bier gesessen und die Bilder einiger Freunde an der Wand betrachtet, die viel zu früh von ihnen gegangen waren, wie Kate, Paula oder Chris Pacci. Er blickte sich fragend um, „Na, was sagt ihr?“ Zuletzt wandte er sich zu Ziva um und blickte ihr tief in die Augen. `Sag ja´ sandte er eine stumme, flehende Bitte an die Adresse seiner Verlobten.

 

Einige Augenblicke lang überlegte die Dunkelhaarige, ob das wirklich eine so gute Idee wäre, aber dann entschied sie, dass unbedingt wieder Normalität in ihre Beziehung einkehren musste und früher waren sie schließlich oft nach dem Dienst dort gewesen. Es war nichts Besonderes oder Außergewöhnliches an seinem Vorschlag „Okay, wenn es nicht zu spät wird, hätte ich nichts dagegen“  antwortete sie schließlich nach einem kurzen Zögern, was Tony mit einem glücklichen und dankbaren Lächeln in ihre Richtung quittierte. Er ahnte ganz richtig, dass sie diese Zustimmung nach seinen letzten Eskapaden eine gewisse Überwindung gekostet hatte. Dass sie jetzt trotzdem mit ihm an einem Strang zog rechnete er ihr hoch an, denn es zeugte von Vertrauen.

 

„Ich komme auch mit“, sagte Tim, woraufhin alle auf ihren Boss blickten.

 

„Du weißt, dass mich das bei meinem Boot zurückwirft“, antwortete Jethro auf die unausgesprochene Frage, „… aber okay, ich bin dabei. Auf ein Bier.“

 

„Klasse, ich frag´ schnell Abby, Ducky und Palmer, ob sie auch Zeit haben. Wann haben wir Feierabend, Boss?“ Tony unterbrach vor Gibbs´ Schreibtisch seinen Laufschritt, mit dem er sich unverzüglich auf den Weg zum Labor der Forensikerin gemacht hatte.

 

„Schon mal was von einem Telefon gehört, DiNozzo? Geht schneller und bringt das gleiche Ergebnis. Im Ernst, du sollst uns unterstützen und nicht das ganze Team vom Arbeiten abhalten, Tony!“ Streng blickte der Teamleiter seinen Agent an, dessen Euphorie sichtlich in sich zusammen fiel. Doch der treue Bernhardiner-Blick, mit dem Tony seinen Boss ansah, ließ heute sogar Gibbs nicht kalt. Mit einem kaum merklichen Schmunzeln beugte er sich über eine Akte auf seinem Schreibtisch, bevor er wie nebenbei sagte: „Sechs Uhr!“, was Tony mit einem hingebungsvollem „Strike!“ quittierte und sofort seinen unterbrochenen Marsch ins Labor wieder aufnahm. Gibbs Zusatz: „Und keine Sekunde früher, dass das klar ist“, bekam er schon gar nicht mehr mit.

 

In Jim´s Bar

 

Um 18.30 Uhr versammelten sich alle außer Gibbs an einem großen Tisch in Jim´s Bar. Ihre Getränke hatten sie schon im Vorbeigehen direkt an der Theke bestellt. Jethro wollte etwas später nachkommen, weil er zuerst noch etwas fertigmachen musste, wie er gesagt hatte. Schon kurz nachdem sie Platz genommen hatten, war auch schon lautes und ungezwungenes Lachen von ihrem Tisch zu hören. Der Barkeeper und Besitzer Jim grinste still hinter seiner Theke in sich hinein, während er die Getränke für seine Kunden zubereitete. Es war fast wie früher – er hatte die fröhliche Truppe in letzter Zeit tatsächlich vermisst.

 

Drei Tische weiter, in einer kleinen Nische, saß Sam Caulder, ebenfalls ein NCIS-Agent, und wartete ungeduldig auf seinen Drink. Doch die zierliche Kellnerin schien sich mehr für das Vorgehen an dem Tisch von Gibbs´ Team zu interessieren, denn sie hielt das Glas schon einige Zeit reglos in der Hand. Missmutig verzog er sein Gesicht. Der Trupp rund um die Lichtgestalt Leroy Jethro Gibbs  war ihm schon seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge. Nichts desto trotz hatte natürlich auch er am Nachmittag diesen arroganten Schnösel von Anthony DiNozzo seine Aufwartung gemacht. Sie hatten sich die Hände geschüttelt und er hatte Tony mit einem falschen Grinsen Willkommen geheißen und ihm für die Zukunft alles Gute gewünscht. Innerlich allerdings hatte er dabei im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne gefletscht, denn er hatte diesen Kerl noch nie leiden können. Allerdings  war er sich absolut sicher, dass diese Antipathie auf Gegenseitigkeit beruhte. Genauso wie er sich sicher war, dass DiNozzo genau wusste, dass sein Auftreten an seinem Schreibtisch lediglich Theater für die anderen Zuschauer im Großraumbüro gewesen war. Aber immerhin waren sie Kollegen und so hatte er die Fassade aufrechterhalten wollen. Dass ausgerechnet Tony DiNozzo jetzt offensichtlich zwischen ihm und seinem wohlverdienten Drink stand, missfiel ihm umso mehr. Doch die hübsche, neue Kellnerin in Jim´s Bar schien ja völlig gebannt von ihm zu sein. Ob sie wohl auch schon von seinem Ruf gehört hatte? Vielleicht sollte er sie mal aufklären…

 

„Miss“, machte er wieder auf sich aufmerksam und deutete unmissverständlich auf das leere Glas in seiner Hand, als die Bedienung ihre Blicke endlich von dem anderen Tisch losriss und sich wieder auf ihn konzentrierte. „Wird das vielleicht heute noch was?“

 

„Tut mir leid“, murmelte sie mit irgendeinem leichten Akzent und bewegte sich nun mit schwingendem Gang auf seinen Tisch zu. Sie stellte das volle Glas vor Caulder ab und schaute ihn unsicher an. „Bitte sagen Sie nichts dem Chef. Ich bin neu hier und ich brauche diesen Job.“

 

„Kein Problem“, antwortete Sam und ließ seinen Blick anerkennend über die Erscheinung vor sich schweifen. Die Kleine war wirklich eine Augenweide, jede Rundung saß exakt an der richtigen Stelle und das von kurzen frechen, braunen Löckchen umrahmte Gesicht hatte es ihm auf Anhieb angetan. Lediglich die grünbraunen Augen irritierten ihn ein wenig … sie wirkten irgendwie kalt, doch das lag wahrscheinlich nur daran, dass sie Angst um ihren Job hatte. Nun…diese Angst konnte er ihr nehmen. Flugs griff er nach ihrer schmalen Hand und hinderte sie so effektiv gerade noch daran, sich von seinem Tisch zurückzuziehen. „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte er süffisant. „Ich kann schweigen wie ein Grab.“

 

„Okay, das ist gut“, bekam er zur Antwort und wieder fiel ihm dieser leichte Akzent in ihrer Stimme auf. Der Blick, den die Bedienung Caulder über die Schulter zuwarf, ließ ihn unwillkürlich schaudern. „Das ist sehr gut“, sprach sie mit ihrer melodischen Stimme emotionslos weiter. „Denn wenn Sie mich nicht sofort los lassen, werden Sie nämlich genau dort landen.“ Als Caulder die Frau daraufhin abrupt losließ, ging sie – ohne ihn weiter zu beachten – zurück zur Theke und nahm ein neues Tablett in Empfang. Wie vom Donner gerührt blickte Caulder ihn hinterher. Warum zum Teufel hatte er bloß das bestimmte Gefühl, dass die Frau ihre Worte durchaus ernst gemeint hatte? Nach ein paar Sekunden schüttelte er sich und griff nach seinem Glas. Er sah schon Gespenster…

 

24. Kapitel

Zeitgleich im HQ

 

Nachdenklich blickte Gibbs von seinem Schreibtisch aus auf die Aufzugtüren. Vor einer Viertelstunde hatten sich diese Türen mit einem leisen „Pling“ hinter seinem Team geschlossen. Er hatte noch das fröhliche Auflachen von Ziva und McGee im Ohr, denen Tony offenbar beim Einsteigen noch etwas Lustiges erzählt hatte. Die drei waren – wie er wusste – mit Abby, Ducky und Palmer vor dem Haupteingang des HQ verabredet und von dort aus wollten sie gemeinsam die wenigen Minuten zu Jim´s Bar zu Fuß zurücklegen. Er wirkte alles so entsetzlich normal. Wie oft war es schon so gelaufen und doch war er dieses Mal mehr als beunruhigt. Mit knapper Not hatte er sich zurückhalten können, McGee oder Ziva beiseite zu nehmen und ihnen aufzutragen, nur ja gut auf Tony aufzupassen. Natürlich hatte er dies nicht getan – es wäre ja auch mehr als auffällig gewesen und die beiden hätten sichunter Garantie über sein Ansinnen gewundert.Sein Instinkt hatte ihm überdeutlich gesagt, dass er mit diesem Wunsch sicher nicht nur die sprichwörtlichenPferde scheu gemacht hätte.

 

Tony entwickelte sich mehr und mehr zu seinem Sorgenkind. Im Grunde war er das ja immer gewesen, aber zurzeit war es wirklich extrem. Sein Senior-Field-Agent gefiel ihm gar nicht. Er fiel mit seinen Launen von einem Extrem ins andere und das bereitete Gibbs zunehmend große Sorgen. Er dachte dabei auch an die Mahnung des Director´s und er konnte nur inständig darauf hoffen, dass Tony sich und seine Stimmungsschwankungenwenigstens bei der Arbeit unter Kontrolle haben würde. Natürlich…alle wussten, was er durchgemacht hatte und sicherlich hatten deshalb auch die meisten Verständnis für ihn, aber irgendwo waren dem auch Grenzen gesetzt – und dies galt selbstverständlich bei der Ausübung seines Jobs. Er betete innerlich, dass Tony sich dieser Tatsache bewusst war.

 

Er ließ sich schwer zurück in die Rückenlehne seines Stuhls fallen und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. Er war froh, dass er in diesem Augenblick alleine war und gestattete sich einen Moment der Lässigkeit. Das Großraumbüro hatte sich an diesem Tag schnell geleert und er selber saß nun im Halbdunkel an seinem Platz und wartete ungeduldig auf seinen Gesprächspartner, den er gleich, nachdem seine Leute aufgebrochen waren, telefonisch informiert hatte, dass nun ein günstiger Zeitpunkt für ein Gespräch wäre. Lediglich das Licht seiner Schreibtischlampe warf ein paar unwirkliche Schatten in die nähere Umgebung. Gibbs versuchte, die sich einstellende Ruhe nach der Hektik des Tages zu genießen, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Zu schwer wog die Verantwortung für Tony´s Leben auf seiner Seele. Er war sich sicher, dass DiNozzo in Lebensgefahr schwebte, er konnte es förmlich spüren, er wusste zu seinem allergrößten Ärger nur nicht, wie akut die Gefahr tatsächlich bereits war. Von dem gleich folgenden Gespräch erhoffte sich wenigstens Klarheit, was das anging. Wenn er wüsste, woran er war, würde es ihm vielleicht leichter fallen, mit seinen Leute zu reden und sie endlich hinsichtlich Rebekkas Auferstehung zu warnen. Dass dies unumgänglich war, war ihm durchaus klar, doch noch sträubte er sich, diesen Schritt zu tun.

 

Warum zum Teufel eigentlich? Er war ein Mann, der sich noch nie gescheut hatte, wenn es darum ging, Entscheidungen zu treffen oder Verantwortung zu übernehmen. Warum tat er sich bloß dieses Mal so schwer damit? Gibbs seufzte leise vor sich hin. Er kannte die Antwort auf diese Frage. Weil es um Tony ging. Einen der besten und loyalsten Mitarbeiter, den er je gehabt hatte. Dem Menschen aus seiner „Familie“, der ihm im Laufe der Zeit vielleicht am meisten ans Herz gewachsen war. Außenstehende würden dies nie vermuten, in Anbetracht der vielen Kopfnüsse, die er DiNozzo schon verpasst hatte, oder der zahllosen Standpauken, die er ihm gehalten hatte, aber trotzdem, oder gerade deswegen, war es so. Sicher, er liebte alle seineSchützlinge mit einem Gefühl väterlichen Stolzes, das er seinen Mitarbeitern natürlich nie offen zeigen würde - außer vielleicht Abby, seiner Labormaus - doch Tony…er hatte sich im Laufe der Zeit einfach zu etwas Besonderem für ihn entwickelt. Er hatte sich schon oft die Frage gestellt, warum dies ausgerechnet bei Tony geschehen war; wann genau und wieso dieses Gefühl ihn ihm hatte heranwachsen können. Bis jetzt war er sich eineAntwort darauf schuldig geblieben, aber er konnte nicht leugnen, dass es vorhanden war. Doch jetzt – just in diesem Moment, wo er sich mal wieder Sorgen um seinen besten Agent machen musste – hatte er die Erklärung plötzlich klar vor Augen.

 

DiNozzo war wie er! Wenn er hinter seine Fassade blickte, war es ihm manchmal, als würde er in einen Spiegel schauen. Ja, tatsächlich, im ersten Moment war es schwer vorstellbar, aber Tony war ihm ähnlicher als man es für möglich halten würde. Gewiss, sie waren von der Veranlagung und auch vom Temperament her sehr unterschiedlich, aber nichts desto trotz gab es sehr viele Seiten an Tony, in denen er sich selbst in einer jüngeren Version wiedererkannte. Und auch was das „Heute“ anging… Gibbs war ehrlich genug, vor sich selber zuzugeben, dass er nur selten sein wahres Gesicht zeigte. Sein bisheriges Leben, die Schicksalsschläge, die er wegzustecken hatte, seine zerbrochenen Beziehungen – das alles hatte ihn zu dem Menschen werden lassen, der er war und es hatte ihn gelehrt, dass es ihm leichter fiel alles zu verarbeiten, wenn er seine Gefühle unter Verschluss hielt. Auch Tony hatte schon in jungen Jahren einige Schicksalsschläge wegzustecken gehabt und auch er hatte schon mehrfach Menschen in seinem Umfeld verloren, die ihm wichtig gewesen waren. Tony zeigte seinen Mitmenschen nur selten, und wahrscheinlich genauso ungern wie er selber, sein wahres Gesicht. Er hielt seine tatsächlichen Gedanken unter Verschluss und nur gelegentlich bröckelte die Fassade des heiteren Schwerenöters, die er seinem Gegenüber so gerne präsentierte. Geprägt hatte ihn in dieser Hinsicht sicherlich auch die schwierige Beziehung, die er nach wie vor noch zu seinem Vater hatte. Über Gibbs´ Gesicht huschte ein trauriges Lächeln, als er sich kurz seine eigene, bis heute nicht einfache Beziehung zu Jackson ins Gedächtnis rief und wieder seufzte er. Der einzige wirkliche Unterschied zwischen DiNozzo und ihm bestand darin, dass der Agent sich hinter der Maske des Clowns versteckte, während er selber die Figur des Griesgrams für sich ausgewählt hatte. Eine Erkenntnis, die ihn nicht wirklich überraschte…die ihn sogar ein wenig schmunzeln ließ. Wenn Tony, diese seine Gedankengänge kennen würde, würde sein Ego wahrscheinlich über sich hinauswachsen und Kapriolen schlagen…

 

Wie auch immer: Es ging hier um Tony,seinen dienstältesten Agent, seinenStellvertreter, seinen Ziehsohn und genau darum machte er es sich gerade so schwer. Jede Entscheidung, die er in diesem Zusammenhang traf, konnte die falsche sein. Außerdem hatte er keine Vorstellung davon, wie Tony auf die Tatsache, dass seine schlimmste Feindin beim Sturz mit dem Wagen in den Potomac doch nicht den Tod gefunden hatte, reagieren würde. Es war schließlich durchaus möglich, dass dieses Wissen DiNozzo komplett aus der Bahn werfen würde und das galt es unbedingt zu vermeiden. Daher hatte er zunächst beschlossen, die Tatsache, solange es ging, vor ihm geheim zu halten. Er redete sich ein, dass jeder Tag, den er diese schlechte Nachricht noch hinauszögern konnte, gleichzeitig auch ein Tag war, der Tony seiner Genesung und somit auch seinem alten charakterfesten Ich näherbrachte.

 

Doch dieses Bewusstsein der Verantwortung, die da nun allein auf seinen Schultern lastete, machte ihn peu à peu wahnsinnig und trug dazu bei, seine Laune immer tiefer in den Keller rauschen zu lassen. Es war schlimm genug, wenn durch eine seiner Entscheidungen womöglich eine fremde Personin Schwierigkeiten geriet, aber wenn es um Tony ging, der ihm wichtig war wie ein eigener Sohn, dufte er sich einfach keinen Fehler erlauben. Das würde er sich nie verzeihen. Außerdem…da es um Rebekka Rivkin ging, war es wahrscheinlich eine pure Untertreibung, von bloßen Schwierigkeiten zu reden. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was diese Frau vielleicht just in diesem Augenblick in irgendeiner verborgenen Ecke wieder plante und er wusste, dass er ihr besser nicht allzu viel Zeit für das Ausreifen ihrer Pläne geben sollte. Andererseits befanden sie sich natürlich in einer besseren Ausgangsposition, solange die Israelin nicht ahnte, dass sie ihr bereits auf den Fersen waren, was allerdings zu diesem Zeitpunkt noch stark übertrieben war. Trotzdem, noch hatten sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite und er wollte verdammt sein, wenn er diesen Umstand nicht auszunutzen wollte. Wie er es auch drehte und wendete: Es war eine vertrackte Situation und er hoffte inständig, dass er gleich etwas klarer sehen würde.

 

Ungeduldig warf er einen Blick auf die Uhr. Wo zum Teufel blieb Fornell nur? Er müsste doch schon längst hier sein? In diesem Moment klingelte das interne Haustelefon und das plötzliche Geräusch in der Stille ließ Gibbs erschrocken zusammenfahren. Wütend über seine alberne Reaktion schüttelte er den Schreck kurz ab und griff zum Hörer. Was war jetzt schon wieder los? Doch es war lediglich ein Mann von der Pforte, der ihm mit knappen Worten mitteilte, dass ein FBI-Mann auf dem Weg nach oben war. Gibbs dankte dem Mann kurz und legte grußlos auf. Nachdenklich griff er sich das letzte aktuelle Bild, das ihnen von Rebekka vorlag, und betrachtete wohl zum Eintausendsten Male das hübsche Gesicht mit den eiskalten Augen „Wo zum Henker versteckst du dich, du Hexe?“, murmelte er dabei leise vor sich hin.

 

Während Jethro noch immer auf das Foto starrte, als ob er, wenn er es nur lange genug fixierte, dadurch irgendwann Rebekka Rivkins Gedanken würde lesen können, öffnete der Aufzug seine Türen und ein müde wirkender Tobias Fornell trat heraus und steuerte auf Gibbs´ Schreibtisch zu.

 

Gibbs machte sich nicht die Mühe, seinem alten Weggefährten die Hand zu reichen. Stattdessen bedeutete er Fornell mit einer Kopfbewegung, dass er sich setzen sollte. Dann legte er bedächtig das Bild beiseite und sagte scheinbar cool, so als wäre er nicht im Mindesten gespannt auf das, was Fornell herausgefunden haben könnte: „Reichlich spät, nicht wahr? Hat das FBI keine schnelleren Autos?

 

Sein Gegenüber verzog leicht verstimmt sein Gesicht, während er sich steif und leise aufstöhnend auf den Stuhl vor Gibbs Tisch fallen ließ.  „Schon mal was von einer Rush Hour gehört?“, antwortete er zynisch. „Übrigens: Ich freue mich, diese heiligen Hallen mal wieder betreten zu dürfen – nachdem Sie mich ja eben so überaus freundlich her zitiert haben.“

 

Gibbs stutzte kurz und überlegte, welche Worte er benutzt hatte, als er Fornell vorhin angerufen hatte, doch es wollte ihm partout nicht mehr einfallen. Also flüchtete er sich in Gegenwehr: „He, immerhin haben Sie mich heute Nachmittag kontaktiert. Da war ich nur leider erstens im Außeneinsatz und zweitenskonnte ich nicht reden, da Ziva direkt hinter mir stand.“

 

Fornell machte eine wegwerfende Handbewegung. „Geschenkt.“

 

„Gut.“ Gibbs nickte befriedigt. Damit war für ihn die Sache erledigt und er konnte endlich zu dem kommen, was ihm unter den Nägeln brannte. „Und? Was haben Sie für mich?“

 

Fornell rutschte noch einmal in dem Stuhl hin und her und schien dann endlich eine entspannende Position für seine nicht mehr ganz so jungen und heute besonders müden Knochen gefunden zu haben. „Ich habe wie vereinbart mal ein bisschen in die Tiefe gebohrt. Ich wollte sehen, ob es irgendwo hier in DC oder in der Nähe Vorkommnisse gab, die denen in Greenbelt ähnlich sind, damit wir vielleicht so einen Hinweis auf den aktuellen Aufenthaltsort von Rivkin bekommen.“

 

„Ja, ja“, wurde er von Gibbs ungeduldig unterbrochen. „Ich weiß, was wir vereinbart hatten. Was mich interessiert, ist, ob dabei etwas herausgekommen ist?“

 

„Zunächst nicht.“ Fornell bemühte sich, den aufkommenden Ärger über Gibbs schroffe Art zu unterdrücken. Schließlich wusste er – oder er glaubte zumindest zu wissen – wie dieser Mann tickte. Außerdem: Wenn es um einen seiner Mitarbeiter ginge, wäre er vermutlich genauso nervös und gereizt. Immerhin hatte er aus nächster Nähe miterleben dürfen, wie rücksichtslos Rebekka Rivkin sich ihren Weg bahnte. Noch immer wurde ihm leicht flau, wenn er daran dachte, wie sie in Greenbelt mit ihrem Opfer umgesprungen war. Oder auch daran, wie sie sich trotz der geballten Präsenz von NCIS und FBI immer wieder der Verhaftung hatte entziehen können und es tatsächlich geschafft hatte, bis an DiNozzo´s Krankenbett vorzudringen – direkt an seiner Nase vorbei. Bei dem Gedanken daran, überzog unwillkürlich einsäuerlicher Ausdruck sein Gesicht.Bei Gott, er hoffte, dass ihm niemals wieder ein solcher Fehler unterlaufen würde.

 

„Tobias?“ Überraschend sanft holte ihn Gibbs´ Stimme aus seinen Gedanken und er blickte seinemlangjährigen Mitstreiter in die blauen Augen, an denen man die Müdigkeit und die Sorge deutlich ablesen konnte. „Kommen Sie, lassen Sie mich nicht betteln, okay?“

 

„Tut mir leid. Das lag nicht in meiner Absicht.“ Fornell holte tief Luft. „Also, wie gesagt, zunächst schien alles in Ordnung zu sein. Aber es hat mir keine Ruhe gelassen und so habe ich den Suchradius nach und nach erweitert --- und in Baltimore bin ich dann schließlich auf etwas gestoßen, was mir merkwürdig vorkam…“ In kurzen Worten berichtete er Gibbs, was er über den gewaltsamen Tod des Waffenhändlers in Erfahrung gebracht hatte. „Ich habe mich daraufhin noch mit dem zuständigen Policedepartment in Baltimore in Verbindung gesetzt und nach allem, was man mir dort gesagt hat, könnte es sich tatsächlich um Rebekkas Handschrift handeln.“

 

„Was zum Teufel sollte sie in Baltimore wollen?“

 

„Keine Ahnung.“

 

„Irgendwelche Beweise?“

 

„Nein.“

 

Ein unterdrückter Fluch kam aus Gibbs´ Mund. „Dort haben wir keine Befugnisse – besonders nicht, wenn der Tote nicht mit dem Marine-Corps in Verbindung stand.“ Genervt brach er ab. So hatte er sich den Verlauf des Gesprächs nicht vorgestellt. Sie waren keinen Schritt weiter gekommen. Dieses verfluchte Weibsstück! Irgendwann musste das Glück sie doch mal verlassen.

 

Fornell sah Gibbs´ Gesicht an, dass er in Gedanken bereits fieberhaft nach einer Lösung des Problems suchte. Innerlich musste er lächeln. Das Problem konnte er lösen  - er hatte es sogar schon gelöst. Aber natürlich verbot es sich einem Charakter wie L.J. Gibbs, einen alten Freund um Hilfe zu bitten. Allein die Tatsache, dass er ihn gebeten hatte, unbemerkt weiter nachzuforschen, kam schon einem mittelprächtigen Wunder gleich.

 

„Es ist alles geregelt. Ich habe mich um die erforderlichen Befugnisse gekümmert und mache mich gleich morgen früh auf den Weg nach Baltimore“, schickte er trocken in den Raum und konnte gleich darauf tief befriedigt beobachten, wie sich Gibbs´ Gesichtsausdruck aufgrund seiner Worte von Anstrengung über Verwunderung in kontrollierten Zornwandelte.                  

 

„Sie haben also schon alles in die Wege geleitet…- Es macht ihnen wohl Spaß, mich zappeln zu lassen.“ Gibbs stockte zähneknirschend, als ihm klar wurde, wie gut Fornell ihn doch kannte.

 

„Ein bisschen, Jethro, nur ein bisschen“, gab Tobias leicht schmunzelnd zu. Trotz der bitterernsten Situation taten diese kleinen Momente der Auflockerung beiden Männern gut. 

 

Zu einem anderen Zeitpunkt, wäre es Gibbs sicher unangenehm gewesen, so einfach durchschaut zu werden und er wäre Fornell womöglich an den Kragen gegangen, aber in dieser Situation war das etwas anderes. Er brauchte jede Hilfe, die er kriegen konnte und anstatt einer bösen Erwiderung bedachte er den FBI-Mann lediglich mit einem einfachen „Danke“ und es war durchaus ehrlich gemeint.

 

„Keine Ursache.“ Jetzt spielte tatsächlich ein kleines Lächeln um Tobias´ Lippen. Er wusste, auf dieses schlichte „Danke“ konnte er sich eine Menge einbilden. „Ich möchte nur eins wissen: Haben Sie DiNozzo inzwischen eingeweiht?“

 

Der Chefermittler schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Ich habe durchgesetzt, dass er wieder arbeiten kann – natürlich nur im Innendienst.Warum ich das forciert habe, weiß er allerdings nicht. So ist er wohl wenigstens tagsüber weitestgehend geschützt. Er ist noch längst nicht wieder der Alte. Er versucht, es zu vertuschen, aber es ist offensichtlich, dass er…“ Er stockte kurz, bevor er schließlich weiter redete. „Er ist ein Kämpfer, aber dieses Drecksstück hat ihn an seine Grenzen gebracht. Das belastet ihn; mehr als er zugibt;belastet glaube ich auch seine Beziehung zu Ziva. Er spielt uns allen Theater vor, aber es ist eher eine Schmierenkomödie, wenn Sie wissen, was ich meine. Er war ja schon immer ein Windhund, aber zurzeit wird es zusehends schlimmer. Ich weiß nicht, wie er zum jetzigen Zeitpunktdie Tatsache, dass Rebekka noch lebt, verkraftenwürde.Ich will ihn nicht vollends verlieren.“ Ohne es eigentlich zu wollen, hatte Gibbs Fornell an seinen Gedanken DiNozzo betreffend teilhaben lassen. Dieser nickte verständnisvoll.

 

„Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann.“ Er stand auf und reichte Jethro die Hand. „Das bin ich Ihnen und auch DiNozzo schuldig. Ich melde mich, sobald ich etwas Neues erfahre.“

 

Dieses Mal erhob sich auch der Chefermittler und ergriff die ihm dargebotene Hand. „Ich weiß nicht, ob ich mir wünsche, dass Sie was finden“, murmelte er dabei vor sich hin.

 

„Wir werden sehen. Auf jeden Fall brauchen wir Klarheit.“

 

„Ich weiß, Tobias. Glauben Sie mir:Niemand weiß das besser als ich.“

25. Kapitel

Etwas später – In Jim´s Bar

 

Rebekka konnte ihr Glück kaum fassen. Nur drei Tische weiter saß ER – Anthony DiNozzo – der feige Mörder ihres geliebten Bruders. Der Mann, den sie seit Monaten Nacht für Nacht in ihren Träumen immer wieder umbrachte. Er saß da im Kreise seiner Kollegen und lachte und scherzte…gerade so, als hätte er kein unschuldiges Menschenleben auf dem Gewissen. Oh Gott, es fühlte sich so gut an, ihn endlich wieder in ihrer unmittelbaren Nähe – in ihrer Gewalt zu haben. Die junge Frau zitterte vor Erregung, während sie ihr Opfer vorsichtig durch halb geschlossene Lider beobachtete. Um dabei nicht aufzufallen, hatte sie zu einem Lappen gegriffen und wischte einen der Tische, die seitlich von dem standen, an dem das Schwein im Kreise seiner Freunde saß. Sie war ihm so nah, so verdammt nah und er ahnte absolut nichts davon – ahnte nichts von der tödlichen Gefahr, in der er schwebte. Ein unbeschreibliches Hochgefühl der Macht erfasste die Israelin. Sie konnte der Versuchung kaum widerstehen, gleich jetzt direkt zu ihm hinüber zu stürzen und ihm ein Messer in die Brust zu rammen, aber sie musste sich beherrschen – auch wenn es ihr mehr als schwer fiel. Doch sie blieb standhaft – behielt die Kontrolle über sich und ihre überschäumenden Emotionen – so wie man es ihr während ihrer Ausbildung beim Mossad beigebracht hatte. Schließlich hatte sie ja vor, ihn leiden zu lassen und außerdem wollte sie letztendlich auch nicht gefasst werden. Sie war doch nicht verrückt!

 

Aber dass er gleich an ihrem ersten Arbeitstag hier in dieser Bar erscheinen würde, war einfach zu überwältigend für sie. Das musste sie erst einmal verdauen. Mit so viel Glück hatte sie nicht im Traum gerechnet. Im Rahmen ihrer umfassenden Erkundigungen über DiNozzo´s Leben und seine Gewohnheiten war ihr auch diese Bar aufgefallen und es war ihr durchaus vielversprechend erschienen, dort eine Stelle als Kellnerin anzunehmen, um ganz in der Nähe des NCIS-Hauptquartiers die Lage sondieren zu können und in Ruhe ihre Vorbereitungen zur endgültigen Vernichtung des NCIS-Agents voranzutreiben.

 

Als sie sich dann am Montagmorgen bei Jim vorgestellt hatte, hatte sie die Stelle auch sofort bekommen, nachdem Mandy, die seit einigen Wochen in der Bar gejobbt hatte, am Sonntag einfach nicht mehr aufgetaucht war. Jim hatte ihr wütend erzählt, dass er daraufhin mehrfach erfolglos versucht hatte, Mandy telefonisch zu erreichen, und es schließlich frustriert aufgegeben hatte. Dabei hatte der Idiot immer wieder betont, wie viel Wert er auf Zuverlässigkeit legte und sie hatte ihm eifrig nickend zugestimmt. Irgendwo gab sie ihm ja sogar Recht – eine gewisse Zuverlässigkeit war wichtig im Leben und sie hielt sich selbst für die Zuverlässigkeit in Person, was sie Jim auch am Ende des Einstellungsgespräches erfolgreich zu vermitteln verstand. Nun war sie also hier, was die Sache für sie natürlich deutlich vereinfachte. Und der ahnungslose Trottel von DiNozzo war noch nicht einmal 10 Meter von ihr entfernt und amüsierte sich offensichtlich königlich. Noch, dachte sie still bei sich, während ein grimmiges Lächeln über ihr Gesicht huschte. Noch amüsierte er sich – doch das würde sich schon sehr bald ändern. SIE würde es ändern! Soviel zum Thema Zuverlässigkeit!

 

                                                    *********

 

Rebekka hatte ihr Aussehen wieder einmal vollkommen verändert. Ihr Haar trug sie relativ kurz, hatte es hellbraun gefärbt und mit rötlichen Strähnen versehen. Sie war sehr hell geschminkt, hatte sich mit professioneller Theaterschminke zahlreiche Sommersprossen aufgemalt und zusätzlich die Nase mit Spachtelmasse und Makeup komplett verändert. Kleine Wangenpolster trugen dazu bei, dass ihre von Natur aus recht hohen Wangenknochen nicht mehr so sehr auffielen. Braune Kontaktlinsen mit einem Stich ins Grüne vollendeten das Bild. Schon als Kind hatte sie gerne mit solchen Materialien gespielt, um ihr Aussehen immer wieder anders zu gestalten und mit der Zeit hatte sie ihre Kenntnisse in dem Bereich fast perfektioniert. Eine Zeitlang hatte sie tatsächlich davon geträumt, Schauspielerin zu werden. Es gab Tage, da bedauerte sie ehrlich, dass sie nie versucht hatte, ihren Traum in die Realität umzusetzen. Sie wäre eine gute Schauspielerin geworden. Zweifellos!

 

Jetzt ging sie ohne weiteres als Maureen McCormick durch, vor kurzem erst aus Irland eingereist, beseelt von dem Wunsch, nach einer großen Enttäuschung in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Niemand würde sie erkennen, dessen war Rebekka sich sicher. Lediglich ihr Akzent bereitete ihr noch ein wenig Sorgen, aber auch daran arbeitete sie akribisch, im Notfall konnte sie sich immer noch auf eine lokale, irische Besonderheit, einen speziellen Dialekt oder etwas Ähnliches berufen. Nur in der Nähe des Teams musste sie aufpassen; besonders bei Ziva. Bei dieser kleinen Schlampe bestand die große Gefahr, dass sie ihren Akzent vermutlich schnell richtig deuten würde. Sie musste sich nach Möglichkeit vorläufig noch von ihr fernhalten, so ärgerlich das auch war, aber diese Frau konnte ihren ganzen schönen Plan gefährden. Sie wollte Ziva umbringen, ja, und das würde sie auch, aber letztlich sollte Tony dran glauben müssen. Er war ihr erklärtes Ziel, ihr Opfer, und sie würde erst zur Ruhe kommen, wenn sie diese, sich selbst auferlegte, Mission zu einem erfolgreichen Ende gebracht hatte. Da konnte sie es sich nicht leisten, vorher schon durch Ziva enttarnt zu werden.

 

Die Idee, in dieser Bar als Bedienung zu arbeiten, kristallisierte sich also schneller als erwartet als Glücksgriff heraus. Rebekka hatte im Vorfeld darauf spekuliert, auf diese Weise das Objekt ihrer Begierde zumindest hin und wieder völlig unverdächtig beobachten zu können, denn ihr war klar, dass es durchaus noch einige Zeit dauern würde, bis sie wieder zuschlagen konnte. Schon allein deswegen war es ihr wichtig, DiNozzo so nahe wie möglich zu sein. Sie wollte sich in dem Gefühl sonnen, dem Spiel jederzeit ein Ende bereiten zu können. Das brauchte sie einfach für ihr Ego – auch wenn sie natürlich nicht vorhatte, dies zu tun. DiNozzo einfach zu erschießen oder im Vorbeigehen auf der Straße abzustechen wäre sicherlich problemlos möglich, aber diese Möglichkeiten würde sie nur im äußersten Notfall umsetzen. Es war viel zu wenig schmerzhaft. Nein, die Idee mit dem Sarg hatte sich in ihrem Kopf mehr und mehr festgesetzt, aber sie war nicht leicht umzusetzen, das war ihr klar. Schon allein einen passenden, einsamen Ort zu finden würde nicht einfach sein, denn noch immer kannte sie sich in Washington und der näheren Umgebung nicht wirklich gut aus. Sie hatte sich jedoch fest vorgenommen, dies so schnell wie möglich zu ändern. Es wäre gut, wenn sie jemanden fände, der ihr dabei behilflich wäre; auch wenn sie Grunde lieber als Einzelgängerin agierte. Die Erfahrungen in der Vergangenheit hatten ihr immer wieder gezeigt, dass es schwer war, Leute um sich zu scharen, die einem 100%ig treu ergeben waren. Auch die Tatsache, dass sie für die Durchführung ihres Plans ein oder sogar zwei Gräber unauffällig ausheben, dann Ziva und DiNozzo überwältigen und schließlich an den Ort ihrer Beerdigung bringen musste, vereinfachte die umfangreiche Planung nicht. Zu guter Letzt musste sie technisch dann noch alles so herrichten, dass sowohl sie selber, als auch Gibbs und die anderen ihren Freunden beim Sterben zusehen konnten. Wahrlich kein einfaches Unterfangen. Aber Rebekka hatte beschlossen, sich dieses Mal nicht unter Druck zu setzen. Ein paar Wochen oder womöglich sogar ein paar Monate, in denen sich ihre Opfer zunehmend sicherer fühlen würden, machten ihr nichts aus. Umso grausamer würde schließlich die Erkenntnis sein, dass sie doch noch von ihrer Erzfeindin erwischt worden waren. Und sollte sich später herausstellen, dass ihr Plan nicht umzusetzen war…nun, dann würde ihr sicher etwas anderes, ähnlich effektvolles einfallen, da war sie sich absolut sicher. Erneut blickte sie verstohlen in Tony´s Richtung, der gerade wieder relativ gelöst mit seinen Freunden lachte. `Lach nur, solange du noch kannst´, dachte Rebekka grimmig bei sich. `Es wird dir schon bald vergehen, dein dämliches Lachen.´

 

                                                   **********

                                   

Vor einer halben Stunde war Gibbs aufgetaucht, nachdem Tony leicht enttäuscht schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, dass ihr Boss noch zu ihrem Kreis dazu stoßen würde. Umso mehr freute er sich jedoch darüber.

 

„Und? Alles erledigt, Boss?“, hatte er Gibbs grinsend empfangen. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“

 

Gibbs Antwort bestand aus einer leichten Kopfnuss und einem kurzen Kopfschütteln.

 

„He“, beschwerte sich Tony in altbekannter Manier und rutschte ein Stück beiseite, damit sein Chef auch noch Platz auf der glatten Holzbank neben ihm fand. „Ja, ja, ich weiß, wenn du sagst, du kommst, dann kommst du auch.“ Nachdem Gibbs sich gesetzt hatte, fügte er noch hinzu: „Schön, dass du da bist.“

 

„DiNozzo, übertreib´s nicht“, war Gibbs trockener Kommentar dazu und er orderte per Handbewegung ein Bier bei Jim hinter der Theke, während er zufrieden registrierte, wie gut es Tony offenbar im Kreise seiner Freunde ging. Er wirkte gelöst und entspannt und lachte herzlich über ein paar Witze, die Palmer zum Besten gab. Auch eine noch nie gehörte Geschichte von Ducky, was allgemein ungläubig zur Kenntnis genommen wurde, kam bei allen ausgesprochen gut an, was wiederum den alten Pathologen offensichtlich sehr freute. Es herrschte eine lockere und gelöste Stimmung und jeder an diesem Tisch schien sich einfach nur wohlzufühlen.

 

So entspannt hatte Tony sich lange nicht mehr gefühlt, allerdings hatte er kurz bevor Gibbs eingetroffen war, doch nochmals mit einer Pille nachhelfen müssen, da er ganz plötzlich eine bleierne Müdigkeit gespürt hatte. Aber nichts desto trotz war es ein schöner Abend, sagte er sich. Der schönste, den er seit langem hatte und er war nicht gewillt, diese Zeit früher zu beenden, als es nötig war. Nein, er wollte das gute Gefühl so lange wie möglich auskosten und er machte sich schon längst keinen Kopf mehr darüber, dass er hin und wieder etwas „nachhelfen“ musste, um bei der Stange zu bleiben. Wenn er müde war, half ihm einer seiner kleinen „Muntermacher“ und wenn er mal wieder nicht einschlafen konnte…nun, auch dafür hatte er schließlich „Helferlein“. Was sollte daran falsch sein? Damit tat er schließlich Niemandem weh und ihm selber half es, seine Tage besser zu überstehen. „He“, rief er rüber zur Theke. „Was ist mit Gibbs´ Bier?“

 

„Kommt gleich“, rief Jim zurück und deutete seiner neuen Kellnerin, das Glas an den Tisch zu bringen. „Übernimmst du das bitte…“ Damit war für ihn die Sache erledigt. Er konnte ja nicht ahnen, was er mit dieser kurzen Anweisung anrichtete.

 

Für einen Moment schoss eine geballte Ladung Adrenalin durch Rebekkas Eingeweide, als ihr bewusst wurde, dass das jetzt schon die Feuertaufe für ihre Tarnung bedeuten würde. Denn alles andere, als Gibbs zu bedienen, würde mit Sicherheit auffallen. Sie strich noch kurz mit beiden Händen über ihren Rock, um den letzten Rest Nervosität, die sie erfasst hatte, abzustreifen, dann hatte ihre Kaltblütigkeit wieder die Oberhand gewonnen. `So sei es´, sagte sie sich und ging mit dem Glas auf einem Tablett an den Tisch ihrer ärgsten Feinde, innerlich gewappnet, für den Fall, dass sie enttarnt werden würde, das Glas zu zertrümmern und es DiNozzo kurzerhand in den Hals zu rammen. `Und wenn es das letzte ist, was ich tue. Es wäre zwar schade, wenn´s so schnell gehen sollte, aber dich nehme ich mit!´, schwor sie sich im Stillen. Dankbar registrierte sie, dass wenigstens Ziva gerade nicht anwesend war. Die Bar hatte sie nicht verlassen – das hätte sie bemerkt – somit musste sie wohl in Richtung Toiletten verschwunden sein. Umso besser!

 

Mit einen Lächeln auf den Lippen, dem man in keinster Weise ansah, dass es mühsam erzwungen war, stellte sie das Bier vor Jethro hin und sagte scheinbar freundlich: „Bitte sehr, Sir.“

 

Der Chefermittler streifte die ihm unbekannte Frau mit einem schnellen Seitenblick: „Sie sind neu hier“, stellte er dann kurz fest.

 

„Ja, ich bin Maureen“, antwortete Rebekka. Dabei bemühte sie sich äußerst konzentriert, völlig akzentfrei zu sprechen, was ihr bei den wenigen Wörtern auch nicht weiter schwer fiel.

 

Obwohl Gibbs´ Instinkte fast legendär waren, schöpfte er keinen Verdacht gegen die neue Bedienung, sondern dankte ihr auch noch mit einem für ihn fast ungewöhnlich freundlichen Nicken.

 

Rebekka hätte am liebsten geschrien vor Glück, doch sie wusste sich zu beherrschen und frohlockte lediglich innerlich. `Seht her, hier bin ich! Ich bin alles andere als tot!´ Kaltschnäuzig fragte sie in die Runde, ob sie noch etwas bringen dürfe, wobei ihr Blick ein, zwei Sekunden länger als bei den Anderen auf Tony verweilte, der sie daraufhin völlig ungezwungen anlachte. Doch da alle noch mit ausreichend Getränken versorgt waren, drehte sie sich um und verließ mit wiegenden Schritten den Tisch.

 

Während alle anderen wieder nahtlos an ihre vorangegangenen Gesprächsthemen anknüpften, sah Tony, ohne dass er den Grund dafür benennen konnte, der Bedienung nach, wie sie zum Tresen zurückging. Plötzlich jagte jedoch völlig unvermittelt ein Frösteln über seinen Rücken. Das Lachen auf seinem Gesicht fror augenblicklich ein. Verunsichert und von einer irrationalen Panik erfasst blickte er sich gehetzt in der Bar um. Was war das? Gefahr! Sein Instinkt schlug Purzelbäume und er signalisierte eindeutig Gefahr! Wieder ließ ihn ein eiskalter Schauer unkontrolliert zittern. Auf seinen Instinkt hatte er sich doch bislang immer verlassen können? Während Tony´s Augen flatternd durch die Bar flogen, manifestierte sich bei ihm das Gefühl einer drohenden Gefahr!

 

Aber er konnte keine Bedrohung ausmachen, alles schien völlig normal. Jim hantierte routiniert hinter seinem Tresen, an den anderen Tischen herrschte reger Betrieb und niemand kümmerte sich um ihn. Auch die paar Leute an der Theke schienen ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Maureen, die sich gerade wieder mit einem voll beladenen Tablett auf den Weg zu einem der anderen Tische machte, nickte ihm noch einmal kurz zu, bevor sie sich wieder auf ihre Aufgabe konzentrierte. Trotzdem…dieses undefinierbare Gefühl einer Gefahr blieb, doch langsam drangen auch wieder andere Dinge in sein Bewusstsein vor, z.B. dass er sich hier wahrscheinlich gerade mächtig zum Idioten machte. Noch immer ging sein Atem stoßweise und es gelang ihm nur langsam, sich wieder zu beruhigen. Plötzlich zuckte er jedoch abermals heftig zusammen, als Ziva, die inzwischen ohne von ihrem Freund bemerkt zu werden, zurück an den Tisch gekommen war,  ihn vorsichtig am Arm berührte. Sie hatte beim Näherkommen entsetzt mit verfolgt, wie Tony´s Panikattacke ihren Lauf nahm. Jetzt fuhr er abrupt herum und warf dabei ein Glas um, was ihm unbeherrscht einen derben Fluch entlockte. Die Flüssigkeit ergoss sich auf Tim´s Hose, der wie von der Tarantel gestochen aufsprang.

 

„Was ist los?“ fragte Abby, in die allgemeine Verwirrung hinein. Alle starrten Tony an, dem sein Fauxpas mehr als peinlich war.

 

„Nichts … nein wirklich.“ DiNozzo wedelte ein wenig hilflos mit den Händen in der Luft herum. „Es ist alles in Ordnung, ehrlich. ich weiß auch nicht…was da eben in mich gefahren ist. Ich habe mich nur erschreckt.“ Er sah sich entschuldigend um und setzte ein etwas schiefes Lächeln auf: „Das muss ich mir unbedingt schnellstens wieder abgewöhnen, sonst geht Tim nie wieder in eine Bar mit mir. – Tut mir leid McGee“, entschuldigte sich Tony bei seinem Kollegen, während er still bei sich dachte, dass er vielleicht in Zukunft doch etwas vorsichtiger mit seinem Pillenkonsum umgehen sollte.

 

„Schon okay, kann ja mal passieren“, erwiderte der Computerspezialist ein wenig verstimmt. „Aber ich werde mich jetzt trotzdem mal auf den Heimweg machen. Ich muss mich dringend trockenlegen und brauch ´ne neue Hose. Es ist ja eh schon spät.“ Alle blickten automatisch zu der altmodischen Wanduhr, die seit Jahren über dem Tresen hing und die – wie Jim nicht müde wurde zu betonen – trotz ihres Alters immer noch punktgenau die Zeit ansagte. Das tat sie auch jetzt. Ihre Zeiger zeigten genau 20.55 Uhr an.

 

Tony wurde mit einem Mal leichenblass und konnte ein Zittern nicht mehr unterdrücken. Er fühlte, wie sich erneut kalter Angstschweiß auf seiner Stirn sammelte. „Aber… das … das kann doch nicht sein“, stammelte er leise vor sich hin. Völlig fassungslos blickte er auf die Zeiger der Uhr. „Das gibt´s doch nicht…ich…“

 

26. Kapitel

Bei Dr. Randolph – einige Tage später

 

Widerwillig und unkooperativ, wie auch schon die letzten Sitzungen, hatte Tony die letzte Stunde bei dem schwarzhaarigen Psychiater hinter sich gebracht. Doch dieses Mal war er fest entschlossen. Heute würde er ihm sagen dass es das letzte Mal war. Es brachte ja sowieso nichts. Zweimal die Woche saß er hier und vergeudete lediglich seine Zeit. Gerade fragte er sich zum wiederholten Male, warum er so lange damit gewartet hatte. Soll Vance doch machen, was er will, dachte er trotzig bei sich. Er würde ihm schon nicht den Kopf abreißen und wenn, dann würde Gibbs ihm sicherlich zur Seite stehen. Immerhin hatte er ja nicht vor, die Therapie komplett einzustellen. Nach wie vor führte er lange Gespräche mit Ducky, wann immer es dessen Zeit erlaubte und danach fühlte er sich auch immer deutlich besser, als nach den frustrierenden Sitzungen bei Dr. Randolph. Ducky hatte u.a. auch eine psychologische Ausbildung – er war also ausgebildeter Therapeut, wenn er diesen Beruf auch schon seit Jahren nicht mehr ausübte. Die Grundlagen verlernte man nie – das war wie das Fahrradfahren. Dies hatte Ducky ihm bei ihrem letzten Gespräch noch mit einem stolzen Schmunzeln bestätigt, als er ihn danach gefragt hatte, denn wenn er ehrlich zu sich selber war…ein bisschen mulmig war ihm schon, wenn er an Vance´s Reaktion dachte, wenn dieser von seinem endgültigen Schritt erfuhr. Am liebsten wäre es ihm, wenn Vance gar nichts davon erfahren müsste, aber hier war wahrscheinlich der Wunsch der Vater des Gedanken. Dass er die verordnete Therapie abgebrochen hatte, würde Dr. Randolph seinem Chef sicherlich schon sehr bald stecken.

 

Tony veränderte die Sitzposition und bemerkte bei der Gelegenheit, dass er schon seit einigen Minuten nichts mehr von dem mitbekommen hatte, was der Psychiater, der ihm gegenüber saß, redete. `Es nützt ja alles nichts´, dachte er bei sich. `Bring es hinter dich, dann wirst du dich besser fühlen.´

 

Unbewusst kam ihm in diesem Moment Dr. Randolph zu Hilfe. Er hatte die ablehnende Haltung seines Patienten durchaus bemerkt und sprach nun, zum Ende der Sitzung, das auf der Hand liegende Problem an. Wie so oft setzte er dazu eine Miene offensichtlicher Missbilligung auf, lehnte sich bequem in seinem wuchtigen schwarzen Ledersessel zurück, schlug die Beine mit den teuren Designerschuhen an den Füßen übereinander und holte einmal tief Luft, bevor er zum Sprechen ansetzte. Er ahnte ja nicht, wie sehr er Tony mit diesen theatralischen Gesten auf den Geist ging, der sich dann immer vorkam, wie ein dummer Schuljunge, den man beim Täuschungsversuch erwischt hatte und der nun ängstlich auf seine Bestrafung wartete. „Agent DiNozzo, ich habe ihnen ja schon einmal erklärt, dass Fortschritte nur zu erreichen sind, wenn sie sich öffnen, wenn Sie dazu bereit sind, mitzuarbeiten – aber ich bekomme mehr und mehr das Gefühl, es wird mit jeder Sitzung schlechter. Wir kommen keinen Schritt weiter und mit Ihrem so offen zur Schau getragenen Desinteresse an meiner Arbeit helfen Sie sich nicht, das dürfte Ihnen doch klar sein.“ Der Arzt lehnte sich wieder vor und stützte sich mit den Ellbogen vor sich auf den Schreibtisch aus edlem Holz. Seine sorgfältig manikürten Fingerspitzen tippten ungeduldig aneinander, während er sein Gegenüber mit strengem Blick tadelnd betrachtete. Sein Verhalten kam einem einzigen stummen Vorwurf gleich, schoss es Tony unwillkürlich durch den Kopf. Doch damit war jetzt endgültig Schluss. Er würde dem Ganzen ein Ende machen! Jetzt!

 

„Doktor….“ Auch Tony atmete tief ein und suchte anscheinend kurz nach den  richtigen Worten, bevor er dann entschlossen fortfuhr: „Dr. Randolph, ich möchte die Sitzungen mit ihnen beenden – die Therapie bei Ihnen abbrechen. Sie haben ja selbst bereits bemerkt, dass wir nicht gut zusammenarbeiten. Sorry, nehmen Sie es mir nicht übel -  vielleicht liegt es an mir, aber vielleicht auch daran, dass zwischen uns die Chemie ganz einfach nicht stimmt. Ich habe mir jemand anderen gesucht, bei dem ich die Therapie auf eigene Faust fortsetzen werden und von dem ich mir mehr Erfolg verspreche.“

 

Dr. Randolph schürzte ein wenig die Lippen und es war deutlich zu erkennen, dass er sich in seiner Ehre gekränkt fühlte. Das war ihm in seiner langjährigen Karriere als Psychologe auch noch nicht vorgekommen, dass ihm ein Patient seine Fachkompetenz absprach und der Meinung war, jemand anderes könnte ihm besser helfen als er. Vor unterdrückter Wut über Tony´s Entscheidung verdunkelten sich die ohnehin schon dunklen Augen des Arztes noch ein wenig mehr. Aber er verstand es, sich zu beherrschen und sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. „Nun – wenn sie sich von einem anderen Therapeuten mehr versprechen – bitte – ich kann und werde sie natürlich nicht aufhalten.“ Ein wenig steif erhob sich der Psychologe aus seinem Sessel und hielt Tony ziemlich distanziert die Hand hin. „Sie werden sicher verstehen, dass ich als Ihr Therapeut Ihre Entscheidung keinesfalls gutheißen kann. Sie haben noch viel aufzuarbeiten und ich kann nur hoffen, dass Sie sich tatsächlich wieder in Behandlung begeben. Wenn Sie mir verraten, wer mein…Nachfol…wer Ihnen weiterhelfen soll, dann werde ich dem Kollegen selbstverständlich Ihre Akte zur Verfügung stellen und sie ihm zukommen lassen.“

 

Der Braunhaarige war ebenfalls aufgestanden, schüttelte dem Arzt kurz die Hand und antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Vielen Dank, aber das wird nicht nötig sein. Sie können mir die Akte aber gerne mitgeben – ich werde sie dann…“

 

„Agent DiNozzo, ich bitte Sie…“ Auf Dr. Randolph´s schmalen Lippen erschien kurz ein beinahe mitleidiges Lächeln. „Sie wissen sehr gut, dass das nicht geht.“

 

„Gut“, meinte Tony, der diese Antwort natürlich erwartet hatte. „Dann lassen Sie es eben. Ich halte es sowieso für überflüssig.“ Seine Erleichterung, dass nun endlich alles vorbei war, war ihm deutlich anzumerken und das Lächeln, das auf seinem Gesicht erschien, war ehrlich und aufrichtig. Er ließ sich sogar dazu hinreißen, dem Psychiater kumpelhaft auf die Schulter zu klopfen, was dieser mit einem beinahe entsetzten Zusammenzucken quittierte. „Machen Sie sich nichts daraus“, meinte er zum Abschied. „Wenn Sie ehrlich zu sich selber sind, müssen Sie doch zugeben, dass wir beide von Anfang an nicht kompatibel waren. Ich wünsche Ihnen mehr Erfolg mit Ihren anderen Patienten.“

 

Dr. Randolph schwieg eisern und schien ihn mit seinen Blicken durchbohren zu wollen. Was für ein Lackaffe, dachte Tony bei sich und wollte schon die Praxis verlassen, als er sich plötzlich noch einmal umdrehte. „Sagen Sie, schreiben sie eigentlich noch einen abschließenden Bericht?“, fragte er den Psychiater.

 

„Ja, das ist üblich, wenn ein Fall … abgeschlossen ist.“ Dr. Randolph hatte absichtlich vor dem Wort „abgeschlossen“ gezögert, weil für ihn der Fall, wie Tony es nannte, eben noch nicht beendet war, aber er konnte seinen Patienten ja schlecht zwingen, weiterhin zu ihm zu kommen. Das war ihm durchaus klar, aber seit Tony´s Eröffnung arbeitete es bereits in seinem Kopf, wie er den Abschlussbericht verfassen sollte, damit sein Ruf und seine Kompetenz möglichst wenig in Mitleidenschaft gezogen wurden. Er konnte ja schlecht schreiben, dass der Patient ihn für nicht geeignet hielt, ihm bei seinen Problemen zu helfen. Andererseits wiederum verbot ihm seine Berufung so zu tun, als sei der Patient tatsächlich austherapiert, denn davon war der Mann an der Tür seiner Meinung nach noch meilenweit entfernt. „In diesem Haus abgeschlossen ist“, setzte er daher mit Nachdruck noch hinzu,

 

„Nun, ich nehme an, ihre Erkenntnisse sind vertraulich. Verstehen Sie…also ich … es wäre mir einfach unangenehm, wenn beispielsweise mein Chef ihren Bericht lesen würde.“

 

„Selbstverständlich sind unsere Gespräche absolut vertraulich, ich unterliege wie jeder andere Arzt auch der Schweigepflicht darüber, was zwischen mir und meinen Patienten gesprochen wird. Allerdings werde ich ihre Behörde davon in Kenntnis setzen müssen, dass unsere Therapiesitzungen beendet sind. Immerhin hat der NCIS ja auch als Kostenträger der Therapie fungiert.“ Dr. Randolph drehte sich um, ging wieder hinter seinen Schreibtisch, setzte sich und griff nach einem Dokument, dass er einige Augenblicke lang intensiv studierte, bevor er schließlich seinen Kopf wieder hob und Tony nun eindringlich direkt  in die Augen blickte. „Ich wünsche ihnen alles Gute für Ihre Zukunft, Agent DiNozzo. Ich hoffe, dass Sie klug genug sind, zu erkennen, dass Sie noch Hilfe benötigen und ich wünsche Ihnen, dass derjenige, dem sie jetzt ihr Vertrauen schenken – falls es so jemanden tatsächlich geben sollte – Ihnen besser helfen kann als ich.“

 

Der NCIS-Agent hielt dem eindringlichen Blick des Arztes stand, und überlegte kurz, ob er sich in weitere Erklärungen verstricken sollte, da Dr. Randolph ihm ja offensichtlich nicht glaubte. Aber wozu? Ein alter Spruch fiel ihm ein: Wer sich verteidigt, klagt sich selber an. Also verabschiedete er sich lediglich mit einem Kopfnicken und mit den Worten: „Auf Wiedersehen.“ Am liebsten hätte er die Praxis im Laufschritt verlassen, doch er zwang sich dazu, äußerlich ruhig und gelassen aus Randolph´s Sprechzimmer zu gehen.

 

Erst draußen auf der Straße atmete Tony befreit auf. Endlich musste er vor diesem Psychiater nicht mehr sein Innerstes nach außen kehren. Sollte er doch von ihm denken, was er wollte. Er wusste, dass er den Mann nicht belogen hatte. Er hatte sich jemanden gesucht. Und Ducky war bestimmt genauso kompetent wie jeder andere Seelenklempner. Ja gut, er war auch ein Kollege und noch mehr ein Freund, aber was zum Teufel sprach dagegen, sich von einem Freund helfen zu lassen? Schon allein durch diese persönliche Beziehung verstand der alte Pathologe ihn viel eher und besser, als Randolph es je getan hätte. Verdammt ja, er hatte richtig gehandelt, bestärkte sich Tony noch einmal, da plötzlich doch leise Zweifel in ihm wachgeworden waren, ob er seine Entscheidung eventuell besser vorher mit jemand hätte absprechen sollen. Doch rasch verscheuchte er seine Bedenken. Ducky war der Beste; die paar Gespräche, die er bislang mit ihm geführt hatte, hatten ihm schon mehr geholfen, als alle Sitzungen mit Dr. Randolph zusammengenommen. 

 

Trotzdem…bei allem Hochgefühl hatte dieser „Abschied“ auch einen üblen Beigeschmack. Lange würde es gewiss nicht dauern, dann hatte Vance die Mitteilung auf dem Tisch, dass Tony seine Sitzungen bei Dr. Randolph abgebrochen hatte. Oh ja, Tony war sich sicher, dass der Arzt keine Zeit verlieren würde, ihn anzuschwärzen. Und die Tatsache, dass er seine Therapie ohne Rücksprache abgebrochen hatte, würde dem Director sicher nicht gefallen.  DiNozzo kam es ja sowieso schon so vor, als ob Vance ihn jedes Mal besonders kritisch beäugen würde, wenn er ihn ansah. Dass er seine Arbeit noch nicht wieder optimal erledigte, wusste er ja selbst. Wie auch? Seine Hand war immer noch nicht wieder voll funktionsfähig; auch seinen gebrochenen Arm durfte er noch nicht voll belasten und solange das nicht der Fall war, war an Außendienst nicht zu denken, das hatte Gibbs ihm ja mehr als deutlich zu verstehen gegeben. Seine Finger waren zwar schon wesentlich besser geworden, aber bis sie endgültig verheilt sein würden, konnte es noch einige Zeit dauern. Und die Aussagen der Ärzte, die ihm jedes Mal aufs Neue „Geduld“ vorbeteten, konnte er langsam nicht mehr hören. Was zum Teufel also erwartete Vance von ihm? Er konnte nur hoffen, dass der Mann ihm die Zeit bis zur endgültigen Genesung geben würde.

 

Er blickte auf die Uhr, wobei er unwillkürlich zusammenzuckte, als er plötzlich die Szene in Jim´s Bar wieder vor Augen hatte, doch gleich darauf atmete er erleichtert auf, denn die Zeiger seiner Armbanduhr zeigten beruhigende 15:08 Uhr an. Gott, schalt er sich selber, du wirst wirklich langsam paranoid, alter Junge. Automatisch suchte seine Hand nach dem Pillenröhrchen in seiner Hosentasche, doch gerade als seine Finger es ertastet hatten, verwarf er diesen Plan wieder. Schließlich hatte er sich vorgenommen, nur noch im äußersten Notfall auf seine „Helferlein“ zurückzugreifen, denn die mächtige Panikattacke in Jim´s Bar hatte ihm wirklich gereicht. Nein, die Pillen würde er nur noch in Notsituationen einsetzen. Nach Albträumen oder eben wenn er kurz vor dem Zusammenbrechen war. Dieser leichte Schreck gerade eben war definitiv nicht als Notfall einzustufen, also Finger weg, Tony, trichterte er sich selber ein und er schaffte es tatsächlich, seine Konzentration wieder auf seine vorherigen Überlegungen zu lenken.

 

Was sollte er jetzt mit der unverhofften Freizeit anfangen. Um diese Zeit noch ins NCIS-Hauptquartier zurückzukehren, darauf hatte er überhaupt keine Lust. Dort erwarteten ihn nur stapelweise Akten. Klar, er hatte zwar zurück in den Dienst gewollt und sich auch wirklich darauf gefreut, aber jeden Tag von morgens bis abends alte Fälle zu durchforsten, war nicht gerade das, was er sich unter „du darfst wieder arbeiten“ vorgestellt hatte. Missmutig auf der Suche nach einem Taxi schlenderte Tony die Straße entlang. Das war auch so ein Punkt, der ihn maßlos nervte: Ziva hatte ihm ernsthaft verboten, mit der Schiene an seinem Arm Auto zu fahren und dummerweise hatte er sich mal wieder daran gehalten. Wenigstens kam dieses ekelhafte Ding bald ab. Jetzt hätte er sich liebend gern in seinen Flitzer gesetzt, aber der stand ja einsam und verlassen vor ihrem Wohnblock. Mit zusammengebissenen Zähnen schlug er den Kragen seiner Jacke hoch; es war im Laufe des Tages empfindlich kalt geworden. Tony blickte kurz in den Himmel: Wolken über Wolken und sie hingen ziemlich tief. Schnee lag in der Luft und trotzdem es noch früh war, war es schon ziemlich dunkel, aber bestimmt würde es noch drei bis vier Stunden dauern, bis Ziva nach Hause kam. Eigentlich hatte er vorgehabt, das Abendessen vorzubereiten, so wie er es immer tat, wenn er aufgrund einer Reha-Maßnahme oder Sitzung zeitig zu Hause war, aber danach war ihm jetzt wirklich nicht zumute. Die Vorstellung, wie Vance auf die Beendigung seiner Sitzungen reagieren würde, bereitete ihm zunehmend Unbehagen. Immer noch hielt er vergeblich nach einem Taxi Ausschau. Typisch! Wenn man keins brauchte, tauchte jede Minute eines auf; nur jetzt ließ sich keins blicken.

 

Während Tony die letzte Sitzung in Gedanken immer wieder Revue passieren ließ, hatte er ohne wirkliches Interesse auch in die Schaufenster geblickt, an denen er auf seinem Weg vorbeikam. Plötzlich blieb er abrupt stehen, als ob er vor eine Mauer gelaufen wäre und starrte völlig gebannt in die Auslage vor ihm. Mit glänzenden Augen ließ er seinen Blick über die herrlichen Brautkleider schweifen, die sich ihm darboten. Blütenweiß oder Cremefarben, schlicht oder pompös, es war für jeden Geschmack etwas dabei. Langsam spazierte er weiter und sah im nächsten Schaufenster einen verschwenderisch geschmückten Brauttisch. Dekorationen, Geschenkartikel, exquisites Geschirr und vielerlei andere Dinge waren überall drapiert und schließlich entdeckte er etwas, das sein Herz höher schlagen ließ. Eine kleine Auswahl an Trauringen war in einer Vitrine ausgestellt und ein Paar davon traf genau seinen Geschmack.

 

`Das ist es! Mein Weihnachtsgeschenk für Ziva!´, schoss es ihm durch den Kopf, und entschlossen ging er Richtung Eingangstür, während er sich in Gedanken schon ausmalte, was Ziva für Augen machen würde. Sie hatte ihm schließlich zum Vorwurf gemacht, den Hochzeitsplan vergessen zu haben. Mit diesem Geschenk würde er sie endgültig eines Besseren belehren und er freute sich schon jetzt wie ein kleines Kind auf den Moment, wenn sie das Päckchen auspacken würde… Plötzlich jedoch verlangsamte er seine Schritte und blickte sich unbehaglich um. Genau wie neulich in der Bar hatte ihn unvermittelt ein seltsames Unbehagen beschlichen. Argwöhnisch blickte er nach rechts und nach links und auch die gegenüberliegende Straßenseite nahm er genau ins Visier, aber alles schien völlig normal! Da war nichts! Niemand zielte mit einer Waffe auf ihn und kein dunkler Van hielt am Straßenrand, dessen Insassen sich bereit machten, ihn zu überwältigen und zu entführen. Er  konnte nichts Bedrohliches ausmachen; außer vielleicht, dass einige Fußgänger auf dem Bürgersteig ihn schon leicht erbost musterten, weil er sie so anstarrte. Reiß dich zusammen, Tony, da ist nichts! Trotzdem … dieses verdammte Gefühl wollte einfach nicht verschwinden! Kopfschüttelnd versuchte er nach einiger Zeit, die düsteren Gedanken loszuwerden und betrat, nachdem er sich noch ein letztes Mal abrupt prüfend umgesehen hatte, den Hochzeitsladen.

 

 

„Wieg´ dich nur in Sicherheit!“

 

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in einer kleinen Nebengasse, stand Rebekka und beobachtete die Szene vor dem Laden mit mahlenden Zähnen. Manchmal, wenn sie Zeit hatte, beobachtete sie das NCIS-Hauptquartier und hing ihren Rachegedanken nach. Und dann hatte sie ihn heute gesehen – plötzlich war DiNozzo aus dem Navy-Yard getreten und in ein Taxi gestiegen. Sie war ihm gefolgt, hatte vor dem Gebäude, in das er gegangen war, gewartet und war ihm dann später wieder unauffällig hinterhergeschlichen. So nah – so ahnungslos – so verwundbar… Wenn er wüsste, wie gegenwärtig sie war. `Wieg´ dich nur in Sicherheit´ flüsterte sie vor sich hin, während sie ihn weiter mit brennenden Augen fixierte. Die Gedanken entfachten ein Hochgefühl in ihr. Aber noch war es nicht so weit – noch nicht. `Hab Geduld´ sagte sie sich, `der Tag wird kommen´.

 

27. Kapitel

Am gleichen Tag – Verdächtigungen  und Gewissheiten

 

Erleichtert war Ziva schon um 16.25 Uhr zum Aufzug gespurtet, um zu Tony nach Hause zu fahren. Sie hatte ihn vermisst, was aber u.a. auch damit zusammenhing, dass sie sich – besonders nach seiner Panikattacke in Jim´s Bar – wieder vermehrt große Sorgen um ihren Freund machte. Es war offensichtlich, dass er noch lange nicht so stabil war, wie er es allen Glauben machen wollte und am liebsten war es ihr, wenn sie in seiner Nähe sein konnte. Daher hatte sie sich auch nicht zweimal auffordern lassen, als Gibbs ihr vor einer Minute mit einem kurzen „Hey!!!“ und einem Kopfnicken in Richtung Fahrstuhl unmissverständlich bekundet hatte, dass sie nun für heute entlassen war und sich auf den Heimweg machen konnte. Tony hatte den Nachmittag frei gehabt, weil er immer noch regelmäßig zur Physiotherapie wegen seiner Finger musste und außerdem hatte er auch noch einen Termin bei seinem verhassten Psychiater. Nach diesen Terminen war er meistens etwas übel gelaunt und hatte sich ja auch schon zu Dummheiten hinreißen lassen – wenn sie auch ehrlicherweise zugeben musste, dass er sich in letzter Zeit nicht mehr betrunken hatte. Trotzdem…sie fühlte sich einfach besser, wenn sie zusammen waren. Mittlerweile würde er sicher schon zu Hause sein, hoffte Ziva und freute sich auf einen harmonischen Abend zu zweit. Sie würde schon einen Weg finden, Tony wieder besser gelaunt zu stimmen. Bei dem Gedanken daran, wie sie sich das vorstellte, stahl sich ein genüssliches Grinsen auf Ziva´s Züge, was ihr jedoch erst bewusst wurde, als sie bemerkte, wie der Kollege, der unterwegs noch zugestiegen war, sie plötzlich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck musterte.

 

„Was ist? Stimmt was nicht mit meinem Gesicht?“, fauchte sie in seine Richtung und der Mann verneinte hastig. Dieses Mal lächelte Ziva innerlich…manchmal war es wirklich von Vorteil, wenn einem ein gewisser Ruf immer noch vorwegeilte…

 

*************

 

Als sie jedoch eine halbe Stunde später die gemeinsame Wohnung betrat und gut gelaunt „Hallo Schatz“ rief, erlebte sie eine unerwartete Enttäuschung. Tony war nicht da und es sah auch nicht danach aus, als ob er an diesem Nachmittag schon einmal zu Hause gewesen wäre.

 

Sofort schrillten bei Ziva alle Alarmglocken. Die Therapie-Sitzung dauerte – wie sie aus den vergangenen Wochen ja wusste - höchstens eine Stunde und bei Dr. Randolph war er auch nie länger. Er hätte also ohne Probleme schon gegen 15:30 Uhr daheim gewesen sein können. Wo steckte er also? Langsam ging die Israelin zum Sofa und ließ sich schwer darauf fallen. Eine unangenehme Ahnung machte sich in ihr breit und ließ sich – bei allem Wohlwollen für Tony und seine Probleme - nicht mehr verdrängen; Ihr Freund war wohl wieder in irgend einer Bar hängen geblieben und ließ sich volllaufen!! Dabei hatte sie doch so gehofft, dass er diese Phase der Frustbewältigung endgültig überwunden hatte. Zutiefst enttäuscht blieb die junge Frau im Halbdunkel sitzen, während Tränen der Enttäuschung, aber auch der Wut, sich den Weg über ihr Gesicht suchten. Was dachte er sich bloß dabei? Wie sollte das weitergehen? Sie konnte doch schlecht rund um die Uhr auf ihn achtgeben, wie auf ein kleines Kind. Manchmal wurde ihr das alles wirklich zu viel und sie hatte keine Ahnung, wie lange sie das noch durchstehen konnte. Gewiss, sie liebte Tony über alles, und er hatte eine Menge durchgemacht – aber das gab ihm noch lange nicht das Recht sich so gehenzulassen…

 

 

Im NCIS-Hauptquartier

 

Kurz nachdem Ziva das Büro verlassen hatte, klingelte Gibbs´ Handy. Ein Blick auf das Display verriet ihm, wer der Anrufer war. Ungehalten schüttelte er den Kopf. Das passte ihm jetzt gar nicht, doch er wusste, dass er den Anruf entgegen nehmen musste.

 

„Gibbs hier – eine Sekunde.“ Er wartete die Antwort seines Gesprächspartners gar nicht erst ab, sondern fixierte gleich darauf McGee, der an seinem Schreibtisch saß und mit einer Akte beschäftigt war, mit einem unmissverständlichen Blick. „Hast du nichts Besseres zu tun?“, fragte er barsch.

 

„Nein, Chef, ich…“ Tim blickte auf und als er den Gesichtsausdruck des Chefermittlers bemerkte, ruderte er sofort zurück. „Oh…ich...äh…natürlich. Ich könnte mal runter zu Abby gehen und sie fragen, wie weit sie inzwischen mit den Beweisstücken aus dem aktuellen Fall ist.“

 

„Dann tu das!“ Gibbs Antwort schien weniger ein Einverständnis, als viel eher ein Befehl zu sein und McGee erhob sich eilig von seinem Platz.

 

„Bin schon weg!“

 

Gibbs wartete noch ab, bis der MIT-Absolvent im Aufzug verschwunden war, bevor er das Handy wieder ans Ohr hielt. „Tobias?“

 

„Schön, dass Sie doch noch einen Moment Zeit für mich haben“, klang die leicht ungehaltene Reaktion des FBI-Mannes an sein Ohr.

 

„Ich musste erst McGee loswerden“, ließ sich Gibbs zu einer Erklärung herab. „Was haben Sie für mich?“

 

„Nun, ich habe mich ja vor ein paar Tagen mit den Beamten getroffen, die im Mord an dem Besitzer des Waffengeschäftes ermitteln und es war wirklich recht aufschlussreich, was ich dort erfahren habe…“

 

Gibbs Hände wurden feucht und er ahnte instinktiv, dass ihm nicht gefallen würde, was er gleich zu hören bekam.

 

„Einem Hot-Dog-Verkäufer, der seinen Stand in der Nähe des überfallenen Waffengeschäftes hat, ist eine junge Frau aufgefallen, die am Tag des Verbrechens in den Laden gegangen ist. `Ihre Kehrseite wäre ihm aufgefallen´, hat der Typ gesagt, deshalb hat er sich an die Frau erinnert, und die Beschreibung, die er abgegeben hat, könnte auf die Rivkin zutreffen. Die Beamten haben jedenfalls eine Phantomzeichnung anfertigen lassen und haben damit das Viertel abgeklappert. Viel Erfolg hatten sie damit aber nicht. Kurz und gut - als sie mir davon erzählt haben, habe ich mir überlegt, wenn es wirklich diese Israelin ist, muss sie irgendwo untergetaucht sein, wo keine Fragen gestellt werden, denn die würde sie am wenigsten brauchen können. Der Captain der Baltimore-Police ist ein alter Hase, der seine Stadt in- und auswendig kennt und der hat mir ein paar Adressen genannt, die dafür in Frage kämen. Und ich bin tatsächlich fündig geworden…“ Fornell setzte kurz ab, um die Tragweite seiner Aussage wirken zu lassen.

 

„Ja, und?“ Jethro konnte seine Ungeduld kaum noch zügeln.

 

„Es ist eine ziemlich heruntergekommene Pension. Ich bin dorthin gefahren und habe mich einmal mit dem Besitzer unterhalten. Ein gewisser Samuel Reckett – eine unangenehme, schmierige Type…“

 

„Verdammt, Fornell, ich will den Mann nicht heiraten – kommen Sie endlich auf den Punkt“, fauchte Gibbs in den Hörer, während er sich gleichzeitig umblickte, ob McGee nicht womöglich doch schon wieder in der Nähe war.

 

„Ich habe Reckett das Phantombild und das letzte aktuelle Foto von Rebekka Rivkin gezeigt und der Mann schwört Stein und Bein, dass es dieselbe Person ist und sie bis vor kurzem bei ihm in der Pension gewohnt hat. Offenbar hat sie zwar ihr Aussehen wieder verändert, aber der Mann ist sich absolut sicher.“

 

„Und? Halten Sie diese Aussage für zuverlässig?“ Obwohl er die Antwort, die er nun bekam, im Grunde schon erwartet hatte, spürte Gibbs doch, wie ihm die endgültige Gewissheit fast den Boden unter den Füßen wegzog.

 

„Reckett hat mit Sicherheit einiges auf dem Kerbholz und vor Gericht würde der Typ alles andere als einen glaubwürdigen Zeugen abgeben, aber was das angeht, glaube ich ihm. Gibbs, ich bin davon überzeugt, dass die Rivkin lebt. Sie war bis vor wenigen Tagen hier in Baltimore.“

 

„Wann genau ist sie abgereist und wohin?“

 

Tobias Fornell erläuterte dem Chefermittler nun noch alle Einzelheiten, die er Samuel Reckett in dem Zusammenhang hatte entlocken können, bevor er schließlich abschließend sagte.

 

„Ich fürchte, wir müssen davon ausgehen, dass Rebekka Baltimore wieder in Richtung DC verlassen hat. Sie hat hier lediglich ihre Wunden geleckt und ist jetzt bereit, wieder zuzuschlagen. Außerdem hat sie ihr Äußeres wieder verändert, was die Angelegenheit noch gefährlicher macht, denn wir wissen ja, wie gut sie das kann. Gibbs, Sie müssen DiNozzo einweihen – er muss endlich wissen, worum es hier geht. Sie können ihn unmöglich 24 Stunden am Tag im Auge behalten.“

 

„Ich muss gar nichts“, knurrte Jethro aufs Äußerste gereizt. Die Auskünfte, die er von Fornell erhalten hatte, hatten ihm seinen Feierabend gründlichst versaut – es fehlte noch, dass der FBI-Mann ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte. „Aber ich danke Ihnen – wann kommen Sie zurück?“

 

„Gleich morgen. Ich werde den…“

 

„Gut, ich melde mich, wenn ich Sie brauche“, beendete Gibbs kurzerhand das Gespräch und pfefferte sein Handy auf den Schreibtisch. „Verdammt, verdammt“, murmelte er dabei wütend vor sich hin. Was sollte er bloß tun? Was war das Richtige?

 

„Chef, ist was passiert?“ Von Gibbs unbemerkt war McGee zurückgekommen und stand nun, verwundert über den Ausbruch seines Chefs, vor dessen Schreibtisch.

 

„Was soll denn passiert sein?“, fuhr sein Boss ihn an, woraufhin McGee sich mit einem beleidigten „Schon gut“, wieder an seinen Schreibtisch verzog. Aus Erfahrung wusste er, dass es besser war, seinen Chef nicht weiter mit Fragen zu reizen, wenn er in einer derartigen Stimmung war.

 

To be continued - im nächsten Thread...

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