Außer Kontrolle - Thread VII

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43. Kapitel - Die Weihnachtsfeier - Teil I

Als Frank am Nachmittag leicht verspätet im Heim erschien, hatte Toni bereits mit Romans Hilfe fast alles aus der Küche des Speisesaales hinüber in den Aufenthaltsraum geschafft. Roman kündigte Franks Erscheinen durch einen schrillen Pfiff durch die Zähne an, der Toni erschrocken herumfahren ließ. Frank stand in der Tür zum Aufenthaltsraum und grinste seine Kollegen freundlich an.

 

„Ich weiß, ich bin zu spät. Tut mir leid, Leute. Ich hab´ voll verpennt und dadurch kam ich irgendwie plötzlich schwer in die Bredouille.“

 

„Egal! Dafür hat es sich aber echt gelohnt“, jubelte Roman anerkennend. „Holla, die Waldfee – du siehst echt toll aus. Ach, Mensch, es ist wirklich ein Jammer“, fügte er noch bedauernd hinzu und alle wussten, was gemeint war.

 

„Tja, Pech gehabt“, antwortete Frank trocken, während er sich extra übertrieben posierend einmal um die eigene Achse drehte, bevor er schließlich seinen Blick gespannt auf Toni richtete. „Und? Was sagst du?“, erkundigte er sich gespannt und fühlte sich gleichzeitig leicht unbehaglich, weil Toni ihn derart offen und intensiv von oben bis unten taxierte, dass es ihm durch Mark und Bein ging.

 

Die Rothaarige hingegen war gerade sehr froh darüber, dass Frank keine Vorstellung davon haben konnte, dass sie sich mit dieser gründlichen Musterung lediglich etwas Zeit verschaffte, um sich zu sammeln. Sie hatte zwar darüber nachgedacht, aber nicht damit gerechnet, wie Frank sich jetzt präsentierte. Er trug eine tiefschwarze enge Jeans mit Ledergürtel. Dazu ein schlichtes weißes Hemd, dessen Kragen er offen gelassen hatte. Ein perfekt sitzendes dunkles Sakko komplettierte sein Outfit, das schlicht und doch elegant wirkte. Seine heißgeliebten Motorradstiefel hatte er gegen ein Paar schwarze Lederhalbschuhe eingetauscht. Er hatte sich rasiert und das Haar fiel ihm schwarz glänzend in weichen Wellen auf, und im Nacken bis über den Kragen. Statt seines auffälligen Lieblingsohrrings trug er nur einen winzigen silbernen Stecker im linken Ohrloch und seinen Hals schmückte eine schmale, ebenfalls silberne, Gliederkette. Obwohl er nach wie vor fast von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war, erinnerte nichts mehr an den Chaoten, den sie erst vor einigen Wochen kennengelernt hatte und vor dem sie sich zu Beginn ihrer Bekanntschaft fast gefürchtet hatte. Sie konnte Roman nur zustimmen: Frank sah klasse aus und Toni blieb bei seinem Anblick fast die Spucke weg, was sie natürlich nicht zugeben wollte.

 

„Ganz okay“, sagte sie daher sehr allgemein gehalten und hoffte, dass ihre Stimme sie nicht durch ein Zittern verriet.

 

„Ganz okay? Bist du verrückt? Was soll das heißen, ganz okay? So ein Blödsinn“, rief Roman prompt dazwischen und ignorierte gekonnt, dass Toni ihn erbost anfunkelte. „Der Junge ist `ne echte Schnullerbacke, und das weißt du ganz genau. Wenn du ihn nicht willst, also, ich nehm´ ihn sofort.“

 

„Hallo? Hab´ ich da nicht vielleicht auch noch ein Wörtchen mitzureden?“, erkundigte Frank sich schmunzelnd.

 

„Leider ja“, seufzte Roman theatralisch.

 

„Schluss jetzt“, machte Toni dem Geplänkel energisch ein Ende. „Wir haben noch `ne Menge zu tun. Auf geht´s – an die Arbeit. Die ersten Gäste werden gleich eintrudeln.“

 

Beim Verlassen des Raumes konnte es Frank sich nicht verkneifen, Toni verschwörerisch: „Du siehst auf jeden Fall echt süß aus“, ins Ohr zu raunen. Toni, die zu Stiefeln einen wadenlangen, olivfarbenen Bahnenrock und eine exotisch gemusterte Tunika trug, die sie in der Taille mit einem breiten Gürtel gerafft hatte, spürte prompt, wie sie über und über rot wurde.

 

„Danke“, sagte sie hastig und beeilte sich, vor Frank den Flur entlangzugehen, damit er keinen Blick auf ihr Gesicht erhaschen konnte, das mit Sicherheit schon wieder puterrot anlief.

 

„Dafür nicht“, rief er ihr lachend hinterher. Wie es schien hatte er ihre Verlegenheit trotzdem durchschaut. „Was wahr ist, muss wahr bleiben.“

 

**************

 

Die Drei waren gerade mit den letzten Arbeiten fertig, als sich tatsächlich schon die ersten Gäste im Aufenthaltraum einfanden. Einige Heimbewohner konnten es einfach nicht abwarten und ein paar Angehörige kamen auch, wie erwartet, früher. Roman und Frank machten sich auf den Weg, die Heimbewohner, die den Weg in den Aufenthaltsraum nicht selber bewältigen konnten und für die sich keine Angehörigen angemeldet hatten, abzuholen. So viele Bewohner wie möglich sollten an der Feier teilnehmen. Nur die, deren Gesundheitszustand es leider absolut nicht zuließ, waren von Anfang an ausgeklammert worden, doch das waren glücklicherweise derzeit nicht viele. Inzwischen begrüßte Toni gemeinsam mit Schwester Maria die ersten Besucher. Der Saal füllte sich nun rasch und schon nach kurzer Zeit waren nicht mehr nur anerkennendes Gemurmel zu hören, sondern aus allen Ecken angeregte Unterhaltungen. Nachdem Roman und Frank mehrfach Bewohner in Rollstühlen an Tische geschoben hatten und wieder gegangen waren, um andere zu holen, waren endlich irgendwann alle Personen, die sich für die Feier angemeldet hatten, anwesend.

 

Schwester Maria sprach einige Begrüßungsworte und bat anschließend Toni und Frank auf die provisorisch aus einigen alten Holzpaletten, die man mit einem dunklen Samttuch abgedeckt hatte, errichtete Bühne. Obwohl Toni ja durchaus Bühnenauftritte gewöhnt war, war jetzt der Moment gekommen, wo sie sich am liebsten verdrückt hätte. In diesem Zusammenhang war ihr ein Auftritt an vorderster Front irgendwie peinlich. Außerdem erschien es ihr nicht richtig, die Lorbeeren zu kassieren, wo doch Frank den Löwenanteil der Arbeiten verrichtet hatte. Dass er dies richtig gut gemacht hatte, konnte sie neidlos anerkennen. Auch den zufriedenen Gesichtern der Anwesenden war anzusehen, dass ihnen gefiel, was sie mit den begrenzten Mitteln, die ihnen zur Verfügung gestanden hatten, auf die Beine gestellt hatten.

 

Frank hatte Tonis Bedenken anscheinend vorausgeahnt und sie kurzerhand an der Hand gepackt und hinter sich her mit nach vorne gezogen. Schwester Maria würdigte noch einmal ihren Einsatz bei den Vorbereitungen und auch Toni entspannte sich schließlich und freute sich über den freundlichen Applaus der Gäste. Sie überließ es Frank, die Gäste im Namen der Belegschaft willkommen zu heißen, und auf das geplante Programm nach dem Kaffeetrinken hinzuweisen. Sie hatten Bingokarten besorgt und dazu eine Box gebastelt, aus der später die Nummern gezogen werden sollten. Preise für die Gewinner der einzelnen Spielrunden hatten sie durch Bittbriefe an verschiedene Firmen und Geschäfte in der Stadt genügend zusammen bekommen und in den letzten Tagen hübsch weihnachtlich verpackt. Jetzt lagen die bunten Päckchen auf einem Tisch neben der Bühne. Frank hatte Toni davon überzeugt, dass Gewinnspiele und eine Tombola, bei der es so gut wie keine Losnieten gab, immer gut ankamen.

 

Offenbar lag er damit völlig richtig, denn die Lose, die sie während des Kaffeetrinkens an den Tischen verkauften, fanden reißenden Absatz. Der Erlös aus dem Losverkauf wiederum sollte dem Heim in irgendeiner Form zugute kommen. Schwester Maria war begeistert von der Idee gewesen und jetzt zahlte sie sich noch besser aus, als erwartet. Insbesondere, da Frank nicht müde wurde, jeden Loskäufer noch extra darauf hinzuweisen, dass selbstverständlich auch zusätzliche Spenden herzlich willkommen wären.

 

Im Saal herrschte schnell eine lockere und gelöste Stimmung und als Frank endlich an den Tisch des Generals kam, war er allerbester Laune, weil sein Konzept geradezu grandios aufging.

 

„Hallo“, begrüßte er seinen Schachpartner, der mit dem Gesicht zur Bühne mit seiner Familie an einem Tisch weiter hinten im Saal saß. „Schön, dass Sie heute auch Besuch …“ … haben, hatte er sagen wollen, als ihm die Worte buchstäblich im Hals steckenblieben. Erst jetzt erkannte er den Besuch des Generals. Es handelte sich um seine Bewährungshelferin und mit dem Rücken zu Frank saß ihr Vater, Richter Dohmen, der sich gerade zum ihm umdrehte und ihm durchaus anerkennend zunickte.

 

„Herr Baumann … Sie wirken überrascht“, stellte er dabei fest.

 

„Ja, ich äh …“ Hilfesuchend blickte Frank sich um, doch weder Toni, noch Roman schienen seine Not zu bemerken. Okay, dachte er sich. Reiß dich zusammen. Bloß nicht ausfallend werden. Laut sagte er nach einem Räuspern: „Tja, Sie haben recht. Mit Ihnen hatte ich … äh … tatsächlich nicht gerechnet.“

 

„Frank“, mischte sich da der General ein. „Ich glaube, du kennst meinen Sohn und meine Enkelin schon, nicht wahr?“

 

Sohn? Enkelin? In Franks Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie zum Teufel konnte so ein alter Knochen wie der Richter noch irgendjemandes Sohn sein? Außerdem wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er bislang tatsächlich keine Ahnung gehabt hatte, wie der General hieß. Selbst an seiner Zimmertür stand schlicht nur `General´. Verdammt, er sollte etwas sagen. Alle Augen am Tisch blickten ihn erwartungsvoll an.

 

„Allerdings“, brachte er schließlich gepresst heraus. „Das ist also Ihre Familie? Die, die immer so viel zu tun haben, richtig? So war es doch, nicht wahr?“ Idiot, schalt er sich kaum, dass er den letzten Satz ausgesprochen hatte. Vorwürfe waren vermutlich nicht gerade das, was der Richter jetzt von ihm hören wollte, doch wider Erwarten lächelten sowohl der Richter, wie auch seine Tochter etwas verschämt.

 

„Sie haben völlig recht. Wir sollten uns wirklich etwas häufiger hier sehen lassen.“

 

„Oh, äh … so war das nicht gemeint“, sagte Frank schnell. „Ich denke, mir steht kein Urteil darüber zu.“ Dann wandte er sich direkt an den General. „Sie wussten es“, stellte er mit leichtem Vorwurf in der Stimme fest. „Sie hätten mich wenigstens vorwarnen können. Warum haben Sie nichts gesagt?“

 

„Nun…“, Der alte Mann, dessen schmächtiger Körper in dem Rollstuhl fast ein wenig verloren wirkte, grinste verschmitzt. „Ich wollte meinen Schachpartner nicht verlieren. Ich hatte selten einen so guten.“

 

„Sehr witzig, wirklich.“ Frank hatte Mühe, seinen plötzlich aufwallenden Zorn unter Kontrolle zu halten. „Okay, gut, ich kann´s nicht ändern.“ Er atmete einmal tief durch und blickte jedem Einzelnen am Tisch ins Gesicht, während er immer noch nach seiner Beherrschung suchte. „Ich hoffe, Sie haben sich wenigstens alle gut auf meine Kosten amüsiert“, sagte er schließlich leise, wobei er nicht verhindern konnte, dass man seiner Stimme die Bitterkeit anhörte, die er gerade empfand.

 

„Im Gegenteil“, antwortete Richter Dohmen anstelle des Generals. „Niemand hat sich über Sie lustig gemacht. Ich war sehr überrascht, als mein Vater mir erzählte, dass Sie beide näheren Kontakt pflegen.“ Er machte eine kurze Pause. „Und erfreut, als ich von den Ansätzen Ihrer positiven Entwicklung erfuhr.“ Er machte eine weitreichende Handbewegung. „Jetzt sehe ich außerdem, was Sie hier aus dem Boden gestampft haben … Wirklich, Hut ab. Das haben Sie sehr gut gemacht.“

 

„Oh, das war nicht ich alleine. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen hierzu gerne die entsprechenden Namen der Mittäter nennen“, konnte Frank es sich nicht verkneifen, bissig hinzuzufügen, woraufhin sich die Lippen des Richters säuerlich kräuselten. Der Hieb hatte offenbar gesessen. Gut so! Er wusste immer noch nicht genau, wie er sich verhalten sollte und diese Unsicherheit setzte ihm ziemlich zu.

 

„Herr Baumann, wir sollten das lassen. Um der schönen Feier willen. Finden Sie nicht auch?“

 

„Bitte, Frank.“ Dem General war jetzt offensichtlich nicht mehr wohl in seiner Haut. „Ich entschuldige mich hiermit feierlich, Ich sehe ein, dass ich es dir hätte sagen müssen.“

 

„Oh ja, verdammt, das hätten Sie.“

 

„Ich hoffe, du setzt dich trotzdem nachher noch ein Weilchen zu uns an den Tisch. Bring Toni mit, wenn du magst.“

 

Es war zu hören, wie viel dem alten Mann daran lag, doch noch konnte Frank nicht aus seiner Haut. Der Schock, ausgerechnet hier in dieser friedlichen Atmosphäre dem Richter, den er immer noch als sein erklärtes Feindbild betrachtete, zu begegnen, saß tief. „Geben Sie mir etwas Zeit. Mal sehen“, sagte er daher ausweichend. „Sie wissen, ich werde nachher noch gebraucht. Toni weigert sich nach wie vor konsequent, die Spielleitung zu übernehmen. Was mich dann endlich zu dem Grund meines Besuches hier bringt: Möchte jemand Lose kaufen? Oder vielleicht etwas spenden...

44. Kapitel - Die Weihnachtsfeier - Teil II / Überraschende Enthüllung

 

Kurz darauf war Frank froh, den Tisch des Generals endlich hinter sich lassen zu können. Aufatmend bediente er noch die letzten beiden Tische, machte hier und da etwas Small-Talk und gesellte sich dann zu Roman und Toni, die neben der Bühne schon auf ihn warteten.

 

„Versucht ja nicht, mir zu erzählen, dass ich das nicht wusstest“, zischte er den beiden zu, während sie eilends alles für die erste Bingorunde vorbereiteten. „Ich lass mich nicht für dumm verkaufen. Verdammt noch mal: Konntet ihr mich nicht wenigstens vorwarnen?“

 

„Oh, oh“, sagte Roman. „Dicke Luft. Das muss ich nicht haben. Sorry, Leute. Macht das unter euch aus.“ Er winkte kurz und suchte sich schleunigst eine andere Beschäftigung im entgegen gesetzten Teil des Raumes.

 

„Mann“, schimpfte Frank leise weiter. „Ihr habt mich ins offene Messer laufen lassen. Macht euch das Spaß, oder was sollte das?“

 

„Wie ist es denn gelaufen?“, fragte Toni ebenso leise zurück.

 

Frank starrte sie erstaunt an. „Wie es gelaufen ist? Das fragst du nicht im Ernst, oder? Keine Ahnung `wie es gelaufen ist´. Mensch, Toni, ich dachte, mich tritt ein Pferd, als ich erkannte, wer da alles am Tisch des Generals sitzt.“

 

„Ich musste dem General versprechen, den Mund zu halten“, verteidigte Toni sich. „Er hatte Angst, dass du …“

 

Frank machte eine wegwerfende Handbewegung. „Geschenkt. Das hab´ ich schon gehört. Gott, ihr haltet mich wohl immer noch alle für ein ausgemachtes Arschloch.“

 

„Nein, aber …“

 

„Stopp“, unterbrach er sie schon wieder und holte einmal tief Luft. „Jetzt ist nicht die richtige Zeit und der richtige Ort für eine solche Diskussion. Los, rauf da jetzt. It´s Showtime.“ Mit zwei, drei schnellen Handbewegungen scheuchte er Toni vor sich her auf die Bühne und winkte gleichzeitig mit der anderen Hand Roman wieder heran.

 

*************

 

Alles lief wie am Schnürchen und der Nachmittag verging wie im Flug. Nach dem Abendessen, ein abenteuerlich zusammengestelltes Büffet, zu dem jeder aus der Belegschaft etwas beigesteuert hatte, verabschiedeten sich die ersten Gäste. Zudem wurde es langsam Zeit, die Patienten der Pflegestation, die an der Feier hatten teilnehmen können, wieder zurück auf ihre Zimmer zu bringen, sie mit Medikamenten zu versorgen und sie bettfertig zu machen. Es war eine Menge Arbeit, bei der jedoch alle, angespornt und hoch motiviert durch den schönen Tag, bereitwillig mithalfen. Alle waren emsig bei der Arbeit, und bis auf einen kleinen Zwischenfall, als Toni und Frank sich im Eingangsbereich des Aufenthaltsraumes begegneten und kurz stehenblieben, um den weiteren Ablauf abzusprechen, passierte nichts außergewöhnliches.

 

Frau Schneider, die in ihrem Rollstuhl geduldig darauf wartete wieder zurück auf ihr Zimmer gebracht zu werden, klatschte urplötzlich begeistert in die Hände und wies aufgeregt zur Decke. „Da, der Mistelzweig“, jubelte die alte Dame entzückt. „Ihr steht genau darunter! Jetzt müsst ihr euch aber auch küssen.“

 

Toni und Frank hoben die Köpfe und blickten völlig verblüfft zur Decke empor. Tatsächlich, genau über ihren Köpfen baumelte dieser verflixte künstliche Mistelzweig mit den kleinen, pinken LED-Lämpchen, auf dessen Verwendung Roman so vehement bestanden hatte. Zuerst hatten sie sich geweigert, das Ding aufzuhängen, doch Roman hatte einfach keine Ruhe gegeben und so hatte Frank schließlich klein beigegeben und Toni mit der Aussage getröstet, dass das Teil dort oben unter der Decke eh kaum jemandem auffallen würde. Tja, da hatte er sich wohl getäuscht. Jetzt stand sie wie vom Donner gerührt da und verwünschte ihre Gutmütigkeit. Sie hätte sich durchsetzen sollen. Das hatte sie jetzt davon. Schon spürte sie, wie die Hitze langsam aber sicher in ihr hoch kroch. Na prima: In spätestens zehn Sekunden hatte sie bestimmt mal wieder eine feuerrote Birne. Sehr kleidsam.

 

Trotzdem verspürte sie eine seltsame Mischung aus Vorfreude und Unsicherheit, die sie selber als paradox empfand. Schließlich hatten sie sich ja schon einmal geküsst – na ja, natürlich nicht so richtig, aber immerhin … ihre Lippen hatten sich berührt und es war kein Zufall gewesen. Aber jetzt? Hier? Vor allen Leuten? Nervös blickte Toni zu Frank, der genauso verdattert wirkte wie sie. Im Hintergrund hörte sie wie aus weiter Ferne, wie Roman sie frenetisch anfeuerte und dafür prompt von Schwester Maria gerügt wurde. Während Toni noch hoffte und betete, dass Frank sie souverän, so wie er den ganzen Nachmittag über gewesen war, aus der Situation herausmanövrierte, zuckte der plötzlich mit den Schultern, legte den Kopf etwas schief und zwinkerte ihr kurz zu. Was sollte das? Was erwartete er von ihr? Während Toni noch darüber nachgrübelte, spürte sie wie sich Franks Hand warm und sanft in ihren Nacken legte.

 

„Komm schon. Was soll´s? Ist ja noch nicht mal `ne Premiere. Machen wir ihnen halt die Freude“, flüsterte er leise und beugte sich zu ihr herunter. Weich legten sich seine Lippen auf Tonis und verharrten dort für einen Moment. Als er sich kurz darauf wieder ein wenig von ihr zurückzog, murmelte er direkt in ihr Ohr: „Daran könnte mich gewöhnen. Ernsthaft: Das gefällt mir immer besser.“

 

Nur gut, dass er mit der anderen Hand ihre Hüfte abstützte, sonst wäre sie jetzt vermutlich auf der Stelle zusammengesackt. Ihre Beine schienen nur noch aus Gelee zu bestehen und irgendwie beschlich sie die Befürchtung, dass sie ihr plötzlich den Dienst verweigern könnten. Bevor Toni jedoch dazu kam, näher über den seltsamen, urplötzlichen Schwund an Muskelmasse und die Gänsehaut, die sich wie ein Flächenbrand ihrer kompletten Hautpartien bemächtigt hatte, nachdenken zu können, war alles schon wieder vorbei. Frank richtete sich zu seiner vollen Größe auf und seine Hand an ihrem Hals verschwand. Immer noch etwas unsicher auf den Beinen wankte Toni ein paar Schritte rückwärts und prallte dabei prompt mit dem restlos begeisterten Roman zusammen, der sie sofort fröhlich in die Arme schloss.

 

„Gott, wie ich dich beneide“, sagte er dabei immer wieder. „Aber ich gönn´s meiner besten Freundin natürlich. Das weißt du doch, oder?“

 

Endlich kam Toni wieder zu sich. „Hast du nichts zu tun?“, fragte sie Roman brüsk und begann damit, schmutziges Geschirr auf einen der Rollwagen zu stapeln.

 

„Sicher“, antwortete Roman trocken in ihrem Rücken. „Aber das hätte ich um nichts in der Welt verpassen wollen. Soviel Zeit muss einfach sein.

 

Zu Tonis grenzenloser Erleichterung bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass Frank schon längst wieder mit anderen Dingen beschäftigt war. Er kümmerte sich um Frau Schneider und schob sie gerade aus dem Raum. Gott sei Dank. Sie hätte ihm jetzt nicht in die Augen sehen können. Wieder einmal verfluchte sie, dass sie zu den Menschen gehörte, denen man ihre Empfindungen zumeist überdeutlich am Gesicht ablesen konnte und Franks Berührungen brachten sie einfach immer wieder total aus der Fassung. Gott, wenn sie nur wüsste, wie sie das abstellen könnte.

 

 

Überraschende Enthüllung

 

Frank half unterdessen Frau Schneider vorsichtig in ihr Bett und richtete alles so her, dass sie es bequem hatte. „Möchten Sie vielleicht  noch etwas fernsehen?“, fragte er abschließend.

 

„Nein, danke. Ich bin ziemlich müde. Es war ein anstrengender Nachmittag für mich. Aber sehr schön – ihr habt eure Sache wirklich gut gemacht.“

 

„Danke, das freut mich. Schwester Karola wird sicher gleich wegen der Nachtwäsche und Ihrer Medikamente kommen. Heute verschiebt sich alles ein wenig.

 

„Natürlich, aber das ist doch verständlich.“ Die alte Dame wirkte seltsam nachdenklich. Irgendetwas schien sie zu bedrücken.

 

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich der junge Mann.

 

„Ja, schon…“ Frau Schneider stockte kurz, bevor sie leise hinzufügte. „Frank?“

 

„Ja?“

 

„Ich möchte mich entschuldigen. Es tut mir ehrlich leid, dass ich Toni und dich eben in eine solch peinliche Situation gebracht habe. Das wollte ich nicht.“

 

„Schon gut.“ Frank lächelte andeutungsweise. „Machen Sie sich keinen Kopf.“

 

„Ich hielt es einfach für eine gute Gelegenheit. Ich wollte nur helfen. Du magst sie doch, oder?“

 

„Machen Sie sich keine Gedanken“, wich Frank geschickt einer Antwort aus. „Es ist ja nichts passiert.“

 

„Ja, dieses Mal nicht. Obwohl, Toni ist bestimmt jetzt böse auf mich.“

 

Frank wunderte sich ein wenig darüber, wie verzweifelt Frau Schneider über den kleinen Vorfall zu sein schien. „Nee, das kann ich mir nicht vorstellen“, tröstete er ein wenig unbeholfen indem er den Arm der Seniorin tätschelte. „Aber wenn Sie es möchten, rede ich mit ihr, okay?“

 

„Immer, wenn ich versuche, Toni zu helfen, geht alles schief“, klagte die alte Dame nun und blickte ihn aus wachen Augen an. „Meine verstorbene Freundin wäre sehr enttäuscht, wenn sie davon wüsste. Sie hat mir doch aufgetragen auf Toni aufzupassen. Sie war ihre Oma, musst du wissen?“

 

„Ich weiß. Toni hat es mir erzählt.“ Frank zögerte einen Moment. „Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr so genau, worüber wir hier gerade reden“, setzte er dann hinzu. „Was hat das mit dem Vorfall unter dem Mistelzweig zu tun?“

 

„Ich bin schuld daran, dass Toni all diese Schwierigkeiten bekommen hat“, redete sich die alte Dame nun ihren Kummer von der Seele

 

„Was? Sie waren das?“ Frank war völlig perplex. „Sie haben Toni verzinkt? Wow.“ Das musste er erst einmal verdaue

 

Frau Schneiders Augen füllten sich mit Tränen. „Ja, aber ich tat es doch nur, um ihr helfen. Ich wollte ihr etwas Zeit verschaffen und sie entlasten. Das Letzte, was ich wollte, war, dass sie vor Gericht muss.

 

„Na, der Schuss ist aber mächtig nach hinten losgegangen“, meinte Frank trocken. „Hey, nicht weinen.“ Er kramte in seiner Hosentasche und reichte Frau Schneider ein Papiertaschentuch. „Bitte, beruhigen Sie sich. Ich bin mir sicher, dass Toni das verstehen wird

 

„Nein! Du darfst es ihr nicht sagen, hörst du? Sie darf es nie erfahren. Niemals! Nicht, solange ich lebe. Das wird sie mir nie verzeihen“, schluchzte die alte Dame und schnäuzte sich.

 

„Aber … Frau Schneider … Ich …“ Verwirrt fuhr Frank sich durchs Haa

 

In diesem Augenblick betrat die diensthabende Nachtschwester das Zimmer und Frank stockte. Gleich darauf traf ihn ein strafender Blick

 

„Was hast du mit ihr gemacht?“, fauchte Schwester Karola empört

 

„Was? Ich? Nichts“, antwortete Frank ehrlich entrüstet

 

„Warum ist sie dann völlig aufgelöst? Was ist passiert?“

 

„Ehrlich, ich hab´ nichts gemacht. Bis eben war sie noch total gut drauf“, verteidigte Frank sich vehement und streifte die alte Dame im Bett mit einem hilfesuchenden Seitenblick.

 

„Es war wohl heute doch alles ein bisschen viel für mich“, erklärte Frau Schneider der Krankenschwester und beruhigte sich langsam wieder.

 

„Äh … ich geh´ dann mal“, sagte Frank unbehaglich und wandte sich zur Tür. „Es gibt noch `ne Menge zu tun.“

 

„Frank?

 

In der Tür stehend drehte er sich noch mal um. „Keine Angst, ich weiß von nichts“, sagte er und blinzelte Frau Schneider beruhigend zu.

 

Frau Schneider lächelte dankbar und Frank schloss die Tür von außen. Dabei murmelte er frustriert vor sich hin: „Oh Mann, ich wünschte wirklich, es wäre so. Verdammt! Wer hätte das gedacht?“

45. Kapitel - Böse Vorahnungen / Gute Neuigkeiten

Während Toni nach den Aufräumarbeiten so schnell wie möglich das Weite gesucht hatte, tat Frank alles, um Rechtfertigungen zu finden, sich noch möglichst lange im Heim aufhalten zu können. Eine seltsame, innere Unruhe, die er sich nicht erklären konnte, hatte plötzlich Besitz von ihm ergriffen. Nur eines war klar: Dies hatte nichts, aber auch gar nichts mit dem Kuss unter dem Mistelzweig zu tun, den er Toni – einmal mehr – gestohlen hatte. Die Berührung war intensiver gewesen, als am Abend zuvor und hatte ihn auch deutlich mehr aufgewühlt, als er vermutet hätte, aber das spielte jetzt keine Rolle.

 

Immer wieder ging ihm Trixies Warnung durch den Kopf. Er wusste, dass er Nick auf gar keinen Fall unterschätzen durfte. Nick war sicherlich alles Mögliche: Skrupellos, Brutal, Kompromisslos und noch vieles mehr. Ein echter Scheißkerl eben. Aber bei allen schlechten Eigenschaften die Nick hatte, eines war er ganz gewiss nicht: Dumm! Was, wenn er Trixie gefolgt war und das Heim beobachtet hatte? Dann musste ihm klar sein, dass das die Gelegenheit war. Er musste mitbekommen haben, dass der Tag etwas Besonderes gewesen war und er konnte sich leicht ausrechnen, dass die Bewohner entsprechend geschafft waren. Außerdem war Wochenende. Jeder wusste, dass an den Wochenenden das Personal auf ein Minimum beschränkt wurde.

 

Je länger Frank darüber nachdachte, desto sicherer wurde er. Falls Nick tatsächlich etwas plante, würde er heute zuschlagen. Irgendwann in dieser Nacht. Frank verabschiedete sich und verließ das Heim. Er stellte sich gut sichtbar ins Licht der Bushaltestelle und stieg in den nächsten Bus, den er allerdings bereits an der nächsten Haltestelle wieder verließ. Vorsichtshalber nahm er auf dem Rückweg zum Heim ein paar kleinere Umwege in Kauf. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bezog er dann in einer dunklen Ecke Posten und richtete sich aufs Warten ein. Schon nach einer Viertelstunde fror er, trotz der dicken Daunenjacke, die er über dem Sakko trug, erbärmlich. Zudem wünschte er sich dringend seine Stiefel herbei, denn schon nach der kurzen Zeit hatten sich seine Füße dank der Halbschuhe mit den dünnen Ledersohlen in Eisklötze verwandelt. Verzweifelt versuchte er in den engen Schuhen seine Zehen in Bewegung zu halten, um sich wenigstens einen Rest von Gefühl zu erhalten. Den Haupteingang des Heimes ließ er dabei keine Sekunde aus den Augen. Er beobachtete, wie einige der Angestellten, ein paar noch übriggebliebene Angestellte und schließlich auch Schwester Maria das Heim verließen. Ein paar schlossen ihre Fahrräder auf, andere gingen zum Parkplatz und wieder andere warteten an der Bushaltestelle auf den nächsten Bus, der einige Minuten später vorbeifuhr, die wartenden Personen verschluckte und dann nach wenigen Metern in der Dunkelheit verschwand. Es wurde still in der Straße und nach und nach verlöschten nun auch die letzten Lichter hinter den Fensterscheiben des Heimes.

 

Frank fluchte unterdrückt vor sich hin. Diese vermaledeite Kälte machte ihn zusehends steifer. Wenn Nick nicht bald aufkreuzte … Nein, daran wollte er gar nicht erst denken. Er würde wach und fit bleiben und wenn der Scheißkerl sich endlich blicken ließ, würde er, Frank, ihn stoppen. Egal wie und egal was das für ihn bedeutete. Sein Entschluss stand fest. Die Sache musste endlich ein Ende finden!

 

 

Gute Neuigkeiten

 

Toni erwartete indessen eine dicke Überraschung, als sie zu Hause ankam. Sie hatte kaum den Schlüssel ins Schloss gesteckt, als die Tür von innen von einer über das ganze Gesicht strahlenden Sarah aufgerissen wurde. Überschwänglich warf sich Sarah in die Arme ihrer großen Schwester.

 

„Toni! Da bist du ja endlich.“

 

„Hey, pass auf“, versuchte Toni ihre Schwester zu bremsen. „Du wirfst mich ja glatt um. Was ist denn los?“

 

„Es ist was Tolles passiert! Ehrlich, was ganz, ganz tolles. Komm mit, nun mach schon.“ Ungeduldig zerrte Sarah ihre Schwester, die noch im Begriff war sich ihrer Jacke zu entledigen, hinter sich her in Richtung Wohnzimmer. „Beeil dich.“

 

„Ja, ja, schon gut, ich bin ja schon unterwegs.“

 

Im Wohnzimmer wartete zu Tonis Überraschung die komplette Familie auf sie. Sogar die Kleinen tobten noch herum. Toni runzelte die Stirn. Um diese Zeit? Was hatte das zu bedeuten? Langsam wurde sie wirklich neugierig. Was zum Beispiel wollte ihr Anwalt um diese Zeit bei Ihnen? Dr. Becker saß auf dem Sofa und wirkte sehr zufrieden mit sich und der Welt.

 

Die größte Überraschung aber bot Tonis Meinung nach, zunächst einmal ihr Vater. Er saß mit seinem Rollstuhl ausnahmsweise mal nicht direkt vor dem Fernseher, sondern stand inmitten der Runde neben dem Sofa. Lukas turnte lachend auf seinem Schoß herum und er war … Toni blinzelte zweimal kurz, um sich zu überzeugen, doch es änderte sich nichts an dem Anblick, der sich ihr bot. Der Abend war schon weit vorangeschritten und ihr Vater schien tatsächlich stocknüchtern zu sein. Gott, wenn das zutraf … Das war schon seit Monaten nicht mehr vorgekommen.

 

„Hallo, Große“, begrüßte Herr Schiffer seine Tochter jetzt gut gelaunt. „Wie ist es gelaufen? Hattet ihr eine schöne Feier?“

 

„Ja, hatten wir …“ Misstrauisch blickte Toni von einem zum anderen. „Was ist hier los?“, verlangte sie schließlich Auskunft.

 

„Stell dir vor“, platzte Sarah heraus. Sie konnte einfach nicht mehr an sich halten. „Papa hat bald wieder Arbeit!“

 

„Was?“ Toni riss überrascht die Augen auf und blickte verwirrt von einem zum anderen.

 

„Ja, hier in der Stadt. Als Pianist! Ist das nicht irre?“ Die zehnjährige strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

 

Toni konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. „Wie das?“, fragte sie völlig perplex.

 

„Jetzt setz´ dich doch erstmal hin“, sagte Dr. Becker und klopfte einladend mit der Hand auf die Sitzfläche des Sofas. „Dann erzählen wir dir alles in Ruhe.“

 

Zögernd und immer noch ungläubig kam Toni der Aufforderung nach. Zehn Minuten später genoss sie dann das tiefe Glücksgefühl, das sich in ihr ausbreitete. Das war die Wende, auf die Mike und sie so lange gewartet hatten. Von jetzt an würde ihr aller Leben endlich, endlich wieder besser werden. Sie konnte es kaum fassen! Sicher, es war erst einmal nur ein Jobangebot, aber ihr Vater hatte schon in wenigen Tagen einen Termin mit diesem Freund von Dr. Becker, in dessen Verlauf alle Einzelheiten besprochen werden sollten. Becker ließ keinen Zweifel daran, dass sein Freund ihren Vater unbedingt einstellen wollte. Vorausgesetzt, er hörte mit dem Trinken auf. Aber dass er das tun wollte, daran ließ wiederum ihr Vater keinen Zweifel.

 

„Dafür habe ich von jetzt an gar keine Zeit mehr“, teilte Herr Schiffer allen im Brustton der Überzeugung mit. „Bis zur Eröffnung der Piano-Bar muss ich unbedingt mein Spiel wieder auf Vordermann bringen. Ich will mir doch nicht meinen guten Ruf kaputtmachen. Das bedeutet, ich muss üben, üben und nochmals üben.“

 

„Und ich helfe dir dabei“, bot Lukas eifrig an. „Ja, Papa, darf ich?“

 

Herr Schiffer tätschelte seinem Sohn den Kopf. „Natürlich darfst du. Wir beide kriegen das schon hin, was?“

 

„Ja“, seufzte Lukas inbrünstig. „Jetzt wird alles wieder gut.“

 

Toni beobachtete glücklich, wie sehr sich ihr kleiner Bruder über den Zuspruch freute und horchte still in sich hinein. Dabei stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass sie ihrem Vater ohne Vorbehalte glaubte und grenzenlose Erleichterung mischte sich in ihr Glücksgefühl. Fast schien es, als hätte ihr Vater nur auf eine solche Gelegenheit gewartet. Er wirkte Jahre jünger und trotz der Tatsache, dass er natürlich nach wie vor im Rollstuhl saß, versprühte er eine fast greifbare Energie. Er steckte plötzlich voller Tatendrang und schien es kaum noch abwarten zu können, sich endlich wieder an sein heißgeliebtes Instrument zu setzen. Toni stand auf, ging um den Tisch herum und umarmte ihren Vater mit Tränen in den Augen.

 

„Ich bin ja so froh“, flüsterte sie in sein Ohr. „Du ahnst ja gar nicht, wie sehr ich mich für dich freue.“

 

Herr Schiffer war gerührt und drückte seine Tochter innig an sich. „Ich weiß“, antwortete er leise mit leicht zitternder Stimme. „Ich weiß. Glaub mir, jetzt wird alles besser. Das verspreche ich euch. Mike und du, ihr werdet …“

 

„Schluss jetzt!“ Mike unterbrach seinen Vater entschlossen. „Ihr benehmt euch alle, als wäre ein Unglück passiert. Dabei sollten wir den Freund von Dr. Becker hochleben lassen und ihm danken, dass er an uns gedacht hat. Mann, Leute, wir haben wirklich allen Grund zu feiern. Also, Schluss jetzt mit der Heulerei!“

 

46. Kapitel - Die Konfrontation

Frank trat verzweifelt von einem Fuß auf den anderen, um sich warm zu halten. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und seufzte. Seit fast einer Stunde stand er sich jetzt schon die Beine in den Bauch und nichts tat sich. Es kam ihm so vor, als würde er so langsam aber sicher auf der Stelle festfrieren. Eisige Kälte und ein schneidender Wind, dazu menschenleere Straßen und ein absolut friedlich wirkendes Altenheim auf der anderen Straßenseite. Nichts, aber auch gar nichts hatte sich in der letzten Stunde dort getan. Er begann, an seiner Idee zu zweifeln. Sollte er sich tatsächlich geirrt haben? Obwohl er sich so sicher gewesen war, sah es inzwischen ganz danach aus. Vielleicht sollte er sich besser auf den Heimweg machen, bevor er sich hier noch den Tod holte.

 

Fast war er schon soweit aufzugeben, als plötzlich doch wieder etwas seine Aufmerksamkeit, die inzwischen aufgrund der äußeren Umstände bereits merklich nachgelassen hatte, mit einem Mal wieder fesselte. Wie gebannt starrte er auf die andere Straßenseite. Alles schien wieder normal, doch Frank war sich absolut sicher, dass er etwas gesehen hatte. Keine Person. Kein Licht. Irgendetwas nicht wirklich Greifbares. Er hätte nicht ausdrücken können, was es gewesen war und doch war er sich hundertprozentig sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte. Alle seine Sinne waren plötzlich wieder in Alarmbereitschaft, während er überlegte, um was es sich gehandelt haben könnte. Auf seine Lippen stahl sich, ohne dass er es bemerkte, ein grimmiges Lächeln. Toll Frank, lobte er sich ironisch in Gedanken. Du bist ein Zeuge, wie ihn sich die Polizei wünscht.

 

Da! Da war es wieder! In einem der Zimmer huschte ganz kurz ein schwaches Flimmern von links nach rechts. Gleich darauf war es wieder verschwunden und alles lag wieder im Dunkeln da. Frank überlegte. Wenn er sich nicht sehr täuschte, war es eines der Fenster des Verwaltungstraktes gewesen. Das war merkwürdig. Es schien nicht zu passen. Frank hatte damit gerechnet, dass Nick versuchen würde, an Medikamente heranzukommen. Eventuell auch noch an Schmuck oder andere Wertgegenstände in den Patientenzimmern. Auf jeden Fall Irgendetwas, was er versuchen konnte, gewinnbringend zu verticken. Im Verwaltungstrakt hingegen befand sich nichts von Wert. Nur alte Patientenakten, Unterlagen für die Abrechnungen und ähnlicher Papierkram. Nichts, was für Nick und seine Leute von Interesse sein könnte. Außer vielleicht … Frank ging plötzlich ein Licht auf. Falls Nick tatsächlich von der Weihnachtsfeier und vielleicht sogar von der Spendenaktion Wind bekommen hatte, konnte er sich leicht ausrechnen, dass Geld im Hause sein musste. Logisch! Er würde versuchen, das Bargeld zu klauen. Das Risiko war außerdem viel geringer, weil er keinen Hehler einschalten musste. Je weniger Personen eingeweiht waren, desto besser.

 

Frank erinnerte sich sehr gut, dass Nick immer dafür gewesen war, das Risiko so gering wie möglich zu halten. Besonders, wenn er selber in Erscheinung trat. Und für ihn, Frank, wäre es fatal, wenn man am nächsten Morgen feststellen würde, dass das Geld verschwunden war. Damit konnte Nick dann gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, denn wahrscheinlich würde niemand Frank glauben, dass er nichts damit zu tun hatte. Schließlich hatte er mitbekommen, wie Schwester Maria das Geld in einen dicken Umschlag gepackt und verkündet hatte, sie würde es bis Montag in ihrem Büro, in dem sich ein kleiner Tresor befand, einschließen.

 

Fieberhaft dachte Frank nach. Wenn er sich richtig erinnerte, könnte das Flimmern durchaus aus Schwester Marias Büro gekommen sein. Und wenn nicht, so war es auf jeden Fall in unmittelbarer Nähe davon gewesen. Unbewusst straffte er seinen Körper. Jetzt ging es auch um seine Zukunft. Er musste etwas unternehmen. Egal, wie Nick Wind von der Sache bekommen hatte, er musste ihn jetzt daran hindern, seinen Plan umzusetzen.

 

Zügig überquerte Frank die Straße. Um den Nachtpförtner im Eingangsbereich zu umgehen, schlich er sich hintenrum durch den Lieferanteneingang hinein. Er nahm einfach den gleichen Weg, den Toni und er genommen hatten, um Trixie ungesehen ins Heim zu schaffen. Dank Toni wusste er ja nun, dass diese Tür meist unverschlossen blieb, da sie gleichzeitig als Notausgang und Fluchtweg diente. Doch wie zum Teufel war Nick ins Heim gekommen? Er konnte diesen Weg eigentlich nicht kennen. Frank beschloss, sich später um die Einzelheiten zu kümmern. Jetzt war es erst einmal wichtiger, Nick zu stoppen. Hoffentlich war er alleine. Frank war sich unsicher, ob er es mit mehreren Gegnern aufnehmen konnte. Sein Körper war immer noch total steif vom langen Warten in der Kälte.

 

So schnell wie möglich schlich er leise durch die im Halbdunkel liegenden Flure auf den Verwaltungstrakt zu. Dabei lauschte er unaufhörlich in alle Richtungen, denn er wollte auf gar keinen Fall unliebsame Überraschungen erleben. Nach kurzer Zeit, die Frank allerdings wie eine Ewigkeit vorkam, erreichte er Schwester Marias Büro. Vorsichtig legte er ein Ohr an die Tür und horchte. Gott sei dank: Die leisen Geräusche, die aus dem Inneren des Büros an sein Ohr drangen, verrieten ihm, dass er noch rechtzeitig kam. Sachte öffnete er die Tür einen Spalt breit und versuchte, die Lage im Büro zu erfassen.

 

Scheiße! Nick hatte den kleinen Tresor bereits gefunden. Er stand hinter Schwester Marias Schreibtisch und versuchte gerade, das Schloss zu knacken. Offensichtlich waren seine Bemühungen von Erfolg gekrönt, denn ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er griff nach dem Umschlag und drehte sich im gleichen Augenblick zur Tür, als Frank diese mit einem Ruck aufstieß und Nick im Rahmen stehend den Fluchtweg versperrte.

 

Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte Nick, doch dann grinste er böse: „Sieh man einer an. Frank. Wer hätte das gedacht? Einmal böser Junge, immer böser Junge, was?“

 

„Laber keinen Scheiß, Nick. Mach den Kopp zu.“

 

„Welche Wortwahl. Ich gebe zu, dass ich dir deine Ich-habe-mich-geändert-Masche echt abgekauft hatte. Leider bin ich dir zuvor gekommen. Tja, Pech gehabt, Alter.“

 

„Quatsch keine Opern“, zischte Frank. „Du legst jetzt einfach den Umschlag zurück und dann werden wir beide ganz friedlich hier abzischen, klar?“

 

„Ach ja, glaubst du?“ Nick zog vielsagend die Augenbrauen hoch.

 

„Oh ja. Was willst du tun, Nick? Einen Riesenaufstand anzetteln? Dann kriegen die Bullen dich auch am Arsch.“

 

„Aber nicht nur mich“, antwortete Nick drohend. „Vergiss nicht, du wanderst sofort ab in den Knast.“

 

„Na und? Vielleicht ist es mir ja egal? Schon mal drüber nachgedacht? Solange du nur mitkommst. Wir können ja dann im Knast klären, wer von uns der Schlauere ist. Was meinst du? Immerhin … Ich hätte den Bullen `ne Menge zu erzählen.“

 

„Oh je, Frank der Märchenonkel. Ist ja wirklich rührend.“

 

Schritt für Schritt ging Nick auf Frank zu. Dem wurde plötzlich klar, dass er unbewaffnet war. Verdammt, das war ein Fehler! Er hätte daran denken und vorsorgen müssen. Nun gut, es war nicht mehr zu ändern. Da musste er jetzt durch. Er versuchte zu bluffen und betete gleichzeitig, dass Nick in dem diffusen Licht nicht richtig sehen konnte. Ihm ging es allerdings nicht anders und das war ein Problem.

 

„Bleib stehen! Keinen Schritt weiter!“

 

Zu Franks Überraschung blieb Nick tatsächlich stehen und hob abwehrend die Hände. In seiner rechten Hand hielt er immer noch den Umschlag mit dem Geld.

 

„Und? Was nun?“

 

„Die Bullen sind schon unterwegs“, log Frank und wünschte dabei, es wäre wirklich so. Himmel! Wie hatte er bloß so leichtsinnig sein können, alleine und ohne Rückendeckung in das Heim zu gehen? Für wen zum Teufel hielt er sich? James Bond?

 

Krampfhaft überlegte Frank, wie der nächste Schritt aussehen könnte. Immerhin würde er nicht den Fehler machen, zu glauben, dass Nick ebenfalls unbewaffnet war. Er wusste genau, dass sein ehemaliger Kumpel immer ein Messer einstecken hatte.

 

„Komm, lass uns reden“, versuchte Nick ihn einzuwickeln. „Da ist doch für uns beide was drin.“ Er ließ die Hände sinken.

 

„Pfoten hoch!“

 

„Bitte.“ Nick wirkte fast gelangweilt, als er Franks Bitte nachkam.

 

Frank spürte die Bewegung in seinem Rücken mehr, als dass er sie sehen konnte. Alle inneren Alarmglocken schrillten gleichzeitig los, doch es war bereits zu spät. Gerade als er herumwirbeln wollte, krachte etwas mit voller Wucht auf seinen Hinterkopf. Bunte Blitze explodierten spontan in Franks Schädel und er brauchte eine Sekunde, um sich zu sammeln. Dies reichte seinem Gegner, um ihm einen zweiten Schlag auf den Kopf zu verpassen. Franks Beine versagten ihm den Dienst und er sank völlig unspektakulär in sich zusammen. Er … war … nicht … alleine … Wie konnte ich nur so dämlich sein, war sein letzter Gedanke, bevor er das Bewusstsein verlor.

47. Kapitel - Die Katastrophe nimmt ihren Lauf

Ein stechender Schmerz in seiner Rippengegend holte Frank kurz darauf unsanft zurück in die Realität. Irgendjemand trat ihm immer wieder mit voller Wucht in die Seite. Stöhnend versuchte er sich, zusammenzukrümmen, was sich jedoch überraschend schwierig gestaltete.

 

Blinzelnd versuchte Frank die Augen zu öffnen, um zu sehen, was los war. Das linke Auge war jedoch so verklebt, dass er es gar nicht aufbekam, was sein Sichtfeld extrem einschränkte. Doch es reichte aus, um die Lage zu erfassen. Er lag offenbar auf dem Boden des Schwesternzimmers und war mit Verbänden an die Heizung gefesselt. Na toll! Zwei Meter von ihm entfernt flackerte eine rote Kerze auf dem Fußboden und verbreitete ein beinahe unwirklich anmutendes Licht. Wahrscheinlich war das das Flimmern gewesen, dass er von draußen bemerkt hatte. Diese Idioten hatten sich eine der Kerzen von den Gestecken gegriffen, um sich umzusehen – das stetig leuchtende Licht einer Taschenlampe war ihnen wohl zu hell gewesen.

 

„Hey, los wach auf, du Penner.“

 

Vorsichtig drehte Frank den Kopf und erkannte einen von Nicks treuesten Gefolgsleuten, der seitlich von ihm stand. In Franks Kopf hämmerte ein Presslufthammer und er hatte Mühe, einen klaren Gedanken fassen zu können.

 

„Wo ist Nick?“, brachte er schließlich hervor, was ihm prompt wieder Tritt mit diesen ekelhaften Springerstiefeln einbrachte. Dieses Mal glaubte er sogar, es innerlich knacken zu hören. Ihm blieb die Luft weg und instinktiv schloss er wieder die Augen, während er keuchend nach Atem rang.

 

„Ich stelle hier die Fragen, Arschloch“, herrschte Nicks Kumpel ihn an. „Wo ist der Schlüssel?“

 

„Welcher Schlüssel?“, röchelte Frank, während er sich über den metallenen Geschmack seines Blutes im Mund wunderte. Woher kam das denn nun plötzlich?

 

„Vom Medikamentenschrank, du Idiot! Die dämliche Torte hier will es mir nicht verraten.“

 

Was? Welche Torte? Was faselte der Typ da? In diesem Moment nahm Frank undeutlich unterdrückte Laute von rechts wahr. Wieder bewegte er mühevoll den  Kopf und blickte in die vor Angst weit aufgerissenen Augen von Schwester Karola, die an den einzigen Stuhl im Raum gefesselt war. Ihr Mund war großzügig mit Pflaster verklebt. Frank schoss kurz durch den Kopf, dass er jetzt wenigstens eine Zeugin hatte, die ihn entlasten konnte. Ein leiser Hauch von Erleichterung machte sich in ihm breit, der jedoch durch den nächsten Tritt gleich wieder zerstört wurde.

 

„Der Schlüssel?!“

 

„Scheiße, Mann! Ich weiß nicht, wo der verdammte Schlüssel ist“, stieß Frank hervor und spuckte aus. „Glaubst du Penner vielleicht, das verraten die ausgerechnet einem wie mir?“

 

Nicks Kumpel fluchte irgendetwas Unverständliches und machte sich wieder an dem Schloss zu schaffen. Schlösser zu knacken schien eindeutig nicht zu seinen Talenten zu gehören. Frank versuchte, die starken Schmerzen an seinen Rippen und das unaufhörliche Hämmern in seinem Kopf zu verdrängen und in Ruhe nachzudenken. Er rieb das Gesicht an seiner Schulter, um wenigstens das Blut, das sein eines Auge verklebte, abzuwischen, damit er wieder klar sehen konnte. Doch allein bei dem Versuch, überkam ihn ein solch heftiger Schwall Übelkeit, dass er es nicht weiter probierte. Das fehlte noch, dass er sich zu allem Übel hier jetzt auch noch selber bekotzte.

 

Irgendetwas übte einen permanenten Druck an seiner Hüfte aus. Frank bewegte sich vorsichtig, um herauszubekommen, was das sein könnte und plötzlich durchfuhr ihn die Hoffnung, wie das berühmte Licht am Ende des Tunnels. Das musste sein Handy sein. Wenn es so war, war das zwar geradezu sträflich nachlässig von Nicks Kumpel, aber der Typ war dafür bekannt, nicht allzu helle im Kopf zu sein. Er musste versuchen, an seine Hosentasche zu kommen. Nur, wie sollte er das anstellen? Mit über dem Kopf zusammengebundenen Armen gestaltete sich das recht schwierig. Langsam spannte Frank seine Handgelenke an und ließ kurz darauf wieder locker. Gut, die Fesseln gaben nach. Offenbar hatte der Idiot auch noch elastische Verbände verwendet. Nun, ihm konnte es nur recht sein. Frank war jetzt zuversichtlich, dass er die Fesseln loswerden konnte. Dazu musste er Nicks Handlanger nur für ein paar Minuten loswerden.

 

„Hör zu“, sagte er. „Kann sein, dass der Schlüssel über Nacht im Tresor eingeschlossen wird. Du weißt schon, damit sich keiner an dem Zeug vergreift.“ Großer Gott, er konnte nur hoffen, dass der Schwachkopf ihm den Mist, den er da gerade verzapfte, glaubte.

 

„Wo ist der Tresor?“

 

„Da wo du mich niedergeschlagen hast.“                  

 

„Hey, erzähl keinen Scheiß! Dann hätte Nick doch diesen Scheiß-Schlüssel gesehen.“

 

Oho, ganz so doof war der Knabe wohl doch nicht. Er musste nachdenken ... „Vielleicht im Schreibtisch. Was weiß denn ich“, sagte er schließlich leichthin. „Mir ist es sowieso scheißegal, ob du hier klarkommst, oder nicht. Du weißt schließlich selbst am besten, wie sauer Nick werden kann, wenn man versagt, oder? Und ohne den richtigen Schlüssel scheinst du ja die Medikamentenschränke nicht auf zu bekommen – tja, zu schade, dass diese Dinger nicht verglast sind, was?“

 

Franks Plan ging auf. Nachdem er seinen Gefangenen noch einen hasserfüllten Blick zugeworfen hatte, verließ der Typ mit langen Schritten wortlos den Raum.

 

Jetzt galt es, keine Zeit zu verschwenden. Anspannen und Lockern. Anspannen und wieder lockern. Und wieder. Zwischendurch versuchte Frank immer wieder, ob er seine Hände schon durch die Schlaufen ziehen konnte. Endlich war es soweit. Er war frei! Mit einem erleichterten Knurren griff er in seine Hosentasche und holte sein Handy hervor. Da bemerkte er den flehenden Blick der Krankenschwester. Er befreite sie von den Pflastern und erkundigte sich hastig: „Der Andere? Wo ist der hin?“

 

„Er wollte in den Patientenzimmern nach Schmuck suchen.“

 

Frank lachte bitter auf und schüttelte den Kopf. Typisch Nick. Wenn er schon einmal da war, wollte er sich garantiert nichts entgehen lassen.

 

„Frank, bind´ mich los. Schnell.“

 

Er zögerte. „Gleich.“

 

„Nein.“ Ihre Stimme klang völlig verzweifelt. „Jetzt! Bitte!“

 

„Nein! Wir haben nicht viel Zeit. Ich muss erst Hilfe rufen.“ Draußen auf dem Flur näherten sich unüberhörbar Schritte. „Scheiße!“ Mit Panik in den Augen schaute Frank sich um und drückte gleichzeitig die Wahlwiederholungstaste auf seinem Handy. Er musste das Gerät so positionieren, dass es nicht auffiel, aber der angerufene Teilnehmer möglichst alles mitbekam, was gleich in dem Raum passieren würde. Er schaffte es gerade noch, das Handy hinter der Kaffeemaschine zu platzieren, als die Tür zum Schwesternzimmer auch schon wieder aufgerissen wurde.

 

Mit einem Blick erfasste Nick die Situation und stürzte sich mit einem wütenden Aufschrei auf Frank. Sein Helfershelfer schoss auf die Krankenschwester zu, die hysterisch zu schreien begonnen hatte. Nick und Frank gingen gleichzeitig zu Boden, wobei Frank zum wiederholten Male die Luft wegblieb. Ein ungleicher Kampf begann, doch Frank war fest entschlossen, sich bis zum bitteren Ende zur Wehr zu setzen.

 

Mitten in das Kampfgetümmel mischte sich plötzlich das empörte Piepsen von Franks Handy, das offensichtlich dringend nach Strom verlangte. Für einen Moment lang war es totenstill im Raum. Nicks Blicke flogen hin und her.

 

„Was zum Henker …“ Nick richtete sich auf.

 

In dem Augenblick, als er das Handy hinter der Kaffeemaschine entdeckte, gab das Gerät ein dreimaliges letztes Piepsen von sich, bevor es sich schließlich endgültig ausschaltete. Frank konnte nicht anders: Er musste einfach grinsen, als er Nicks verblüfften Gesichtsausdruck sah. Das hätte er besser nicht getan.

 

„Du verdammter Hurensohn!“ Nick geriet völlig außer sich. „Wen hast du angerufen?“

 

Frank sah den Schlag kommen, doch er besaß nicht mehr genügend Reaktionsfähigkeit und Kraft, um rechtzeitig ausweichen zu können. Er torkelte zu Boden und riss in dem verzweifelten Versuch, sich abzufangen, noch verschiedene Gegenstände mit sich. Noch bevor er auf den kalten Fliesen aufschlug, registrierte er das panische Kreischen von Nicks Kumpel.

 

„Nick! Verdammt! Wir müssen raus hier! Schnell! Verdammte Scheiße, es brennt!“

 

Frank drehte schwerfällig den Kopf und erkannte blinzelnd, dass im Verlauf ihres Kampfes offenbar auch die Kerze, die seinen Kontrahenten als einzige Lichtquelle gedient hatte, umgefallen war. Die Gardine hatte bereits Feuer gefangen und Frank sah in einer seltsam unbeteiligten Mischung aus Resignation und Faszination zu, wie die Flammen gierig an dem dünnen, leicht brennbaren Stoff nach oben züngelten, sich schnell an dem hölzernen Gardinenbrett entlang fraßen und dann in Windeseile im ganzen Raum auszubreiten schienen. Er bekam noch mit, wie Nick und sein Kumpel eilig das Weite suchten und spürte dann, wie sein Bewusstsein langsam aber sicher drohte, sich wieder zu verabschieden.

 

Das war es also, dachte er frustriert. Er hatte mal wieder alles falsch gemacht. Wie so oft! Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und er war sich so sicher gewesen, dieses Mal alles richtig zu machen. Aber jetzt … jetzt musste er sich eingestehen, dass er verloren hatte. Einmal mehr war er mit Pauken und Trompeten untergegangen. Wie naiv war er eigentlich, dass er hatte glauben können, er würde die Kurve kriegen? Nein, Nick hatte Recht. Einmal ein Loser – immer ein Loser. Nick …

 

Es fiel Frank mittlerweile schwer, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Verzweifelt versuchte er die drohende Bewusstlosigkeit zurück zu drängen. Nick hatte ihm eine Frage gestellt. Eine interessante, eine wichtige Frage. Mit wem hatte er eigentlich zuletzt telefoniert? Oder besser gefragt: An wen hatte er seinen hoffnungsvollen Notruf losgeschickt? Falls er überhaupt noch jemanden erreicht hatte, bevor der Akku seinen Geist aufgegeben hatte.

 

Frank beschloss matt, dass es sinnlos war, darüber nachzudenken. Es würde ihm sowieso nicht einfallen. Erschöpft schloss er die Augen. Sie mussten hier raus, soviel war klar. Aber vorher musste er sich kurz etwas ausruhen. Seine Rippen schmerzten, seine Lungen und Augen brannten wie die Hölle und das gottverdammte Hämmern in seinem Schädel wollte einfach nicht aufhören. Die Verlockung sich einfach in die dunkle Wolke fallen zu lassen wurde größer und größer. Schlaf! Er brauchte jetzt dringend `ne Mütze voll Schlaf. Nur ein bisschen. Ganz kurz. Etwas Kraft tanken, um dann gleich alle in Sicherheit bringen zu können. Dann würde wenigstens Toni stolz auf ihn sein. Oder? Das musste sie doch! Er wollte unbedingt, dass sie stolz auf ihn war. Nun, dafür musste er etwas tun. Und das würde er auch! Gleich! Und wenn es verdammt noch mal das Letzte war, was er tat …

 

48. Kapitel - Schreck in der Abendstunde

„So“, sagte Dr. Becker nach einem flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. „Für mich wird es langsam Zeit. Ich habe morgen früh einen wichtigen Termin bei Gericht. Kann mir bitte jemand ein Taxi rufen? Mein Handy liegt leider noch im Büro.“

 

„Sicher.“ Mike griff zum Mobilteil des Festnetzanschlusses auf dem Beistelltisch neben dem Sofa und seufzte nach einem Blick auf das Display. „Nicht schon wieder. Leer. Sorry, das passiert uns dauernd.“ Er stand auf. „Sekunde, ich hol´ nur kurz mein Handy.“ Kurz darauf kehrte er mit dem Handy in der Hand zurück, welches er dann aber zu aller Überraschung nicht an Becker weitergab, sondern auf den Tisch legte. „Ich hatte einen Anruf in Abwesenheit“, erklärte er. „Unterdrückte Rufnummer, aber das, was auf der Mail-Box gelandet ist, solltet ihr euch mal anhören.“

 

Er schaltete den Lautsprecher ein und gab dem Gerät den Befehl, die Nachricht abzuspielen. Gleich darauf erfüllten die Kampfgeräusche aus dem Schwesternzimmer den Raum. Als die Krankenschwester im Hintergrund angstvoll aufschrie zuckte nicht nur Toni erschrocken zusammen. Die Aufnahme endete schließlich undeutlich knisternd mit den Worten `Was zum Henker´. Dann knackte es kurz und es wurde still im Wohnzimmer der Schiffers.

 

Mike nahm sein Handy wieder an sich und blickte daraufhin ringsum in betroffene Gesichter. „Kann mir vielleicht irgendeiner erklären, was das zu bedeuten hat? Was zum Teufel ist das? Ein Scherz? Wenn, dann aber ein verdammt schlechter. Ehrlich, ich kann mir keinen Reim darauf machen.“

 

„Diese eine Stimme …“ Toni zögerte. „Ich meine, das Stöhnen … das hörte sich beinahe wie Frank an.“ Nervös knetete sie ihre Finger ineinander und schaute die anderen unsicher an. „Ich bin mir nicht sicher, aber … ich denke, er könnte es sein.“

 

„Ich halte das nicht für einen Scherz.“ Becker blickte Mike ernst an. „Hat Frank deine Handy-Nummer?“, wollte er dann wissen.

 

„Ja, ich hab´ sie ihm unlängst gegeben. Damit wir uns wegen der Dacharbeiten absprechen konnten. Aber trotzdem, was soll der Scheiß? Warum sollte er mich anrufen und nichts sagen?“

 

„Hm, vielleicht konnte er ja nicht“, gab Becker zu bedenken. „Es hörte sich an, als hätte die Person Probleme. Toni, weißt du, wo Frank nach eurer Feier hin wollte?“

 

„Nein, aber ich denke, er wollte genau wie wir alle nach Hause. Es war zwar schön, aber auch anstrengend. Wir haben noch aufgeräumt und danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.“ Sie zögerte kurz bevor sie weiter redete. „Aber er hat letzte Nacht nicht viel geschlafen, weil er fast die ganze Nacht bei einer Freundin im Krankenhaus war.“

 

„Was meinst du? Könnte es vielleicht sein, dass er wieder ins Krankenhaus gefahren ist?“

 

„Ich weiß nicht, vielleicht. Aber …“ Toni stockte als ihr plötzlich eine Erkenntnis bewusst wurde. Ihr wurde richtiggehend übel, als sie den Gedanken noch einmal überdachte. Nein, das konnte doch nicht sein. Sie musste sich irren.

 

„Aber was?“, unterbrach der Anwalt Tonis Gedanken.

 

„Die Frauenstimme. Die, die im Hintergrund geschrien hat. Ich glaube, das ist Schwester Karola. Sie hat heute Nachtdienst.“

 

Becker stand auf. „Wenn du recht hast, würde das bedeuten, dass der Anruf aus dem Heim kam. Mike, wann genau kam der Anruf?“

 

Mike griff erneut nach seinem Handy und schaute schnell nach. „Vor einer guten Viertelstunde“, gab er dann Auskunft. „Glauben Sie da ist was passiert?“

 

„Würdest du mich fahren?“, beantwortete Becker Mikes Frage mit einer Gegenfrage, wobei sein Gesichtsausdruck Bände sprach.

 

„Klar, kommen Sie.“

 

„Ich komme mit“, sagte Toni sofort. „Papa, du schaffst das doch mit den Kleinen, wenn Sarah und Daniel dir helfen, oder?“

 

„Natürlich, Kind“, antwortete Herr Schiffer. „Aber tut mir bitte den Gefallen und stellt das Telefon in die Ladestation. Und meldet euch mal.“

 

Toni nickte, tat, worum ihr Vater sie gebeten hatte und umarmte ihn dann kurz: „Danke“, flüsterte sie leise. „Es tut mir leid, aber ich muss da jetzt einfach mit.“

 

„Schon gut“, antwortete Herr Schiffer. „Ich hoffe nur, dass ihr euch irrt und dass es nichts Ernstes ist …“

 

„Toni? Kommst du dann?“ Mike und der Anwalt standen schon in der Tür zum Flur und Becker fügte hinzu. „Beeil dich. Ich hab´ irgendwie ein ganz komisches Gefühl bei der Sache.“

 

Toni presste die Lippen zusammen, nickte und folgte den beiden schweigend und in Gedanken versunken hinaus zu Mikes Wagen. Beckers Worte hatten ihr Gefühlschaos, das sich nach der merkwürdigen Nachricht auf Mikes Mailbox noch verstärkt hatte, nicht gerade beruhigen können.

 

„Ruf die Polizei“, bat Becker Mike, kaum dass sie im Wagen saßen. „Ich will lieber auf Nummer sicher gehen.“

 

Mike, der gerade den Wagen startete, reichte sein Handy an seine Schwester weiter. „Hier, mach du das.“

 

„Warum denn gleich die Polizei?“, fragte Toni unentschlossen, die hin und hergerissen war. Sie wollte so gerne glauben, dass Frank sich geändert hatte, doch tief in ihrem Inneren hatte sich ein Stachel eingenistet und sie spürte einen Rest Zweifel. Ob sie es wollte oder nicht: Der Vorfall aus dem EKZ war urplötzlich wieder sehr präsent in ihrem Kopf. Sie hatte damals gesehen, wie rücksichtslos er vorgehen konnte und nun fragte sie sich unwillkürlich, ob Franks Verhalten ihr gegenüber – sein Charme, all die Freundlichkeiten und Blicke, die er ihr in der letzten Zeit immer wieder zugeworfen hatte, selbst der Kuss heute unter dem Mistelzweig – nur Berechnung gewesen war? Alles nur eine einzige, geschickt inszenierte, große Lüge? Ein Fake, um sie einzulullen, damit sie ihm vertraute? Doch würde er wirklich so weit gehen, Schwester Karola an ihrem Arbeitsplatz zu überfallen? Und warum hatte er dann gestöhnt? Die Antwort auf diese Frage konnte sie sich gleich selber geben. Die Kampfgeräusche waren eindeutig gewesen und so wie sie Schwester Karola kannte, würde sie sich sicher nicht widerstandslos überwältigen lassen. Frank wusste, wo die Medikamente gelagert wurden – vielleicht hatte die Schwester ihn dabei überrascht, wie er versucht hatte, das Schloss des Schrankes zu knacken und es war zu einem Handgemenge gekommen, bei dem er dann versehentlich auf die Wahlwiederholungstaste seines Handys gekommen war. Ein weiterer unliebsamer Gedanke schoss durch ihren Kopf. Verdammt! Frank wusste auch, dass an diesem Wochenende Geld im Haus sein würde. Er hatte es schließlich selber eingesammelt und den Umschlag an Schwester Maria übergegeben! Je länger Toni nachdachte, desto unsicherer wurde sie und desto schwerer wurde ihr Herz. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals und hinter ihren Augen brannten Tränen der Enttäuschung, denen sie aber noch den befreienden Weg nach draußen kategorisch verweigerte.

 

„Toni“, wiederholte Becker eindringlich. „110 – mach schon. Ruf die Polizei – sie sollen so schnell wie möglich zum Heim kommen.

 

„Ich …“ Toni blickte unschlüssig auf Mikes Handy in ihrer Hand. „Ich glaube eigentlich nicht, dass Frank wieder irgendeinen Mist baut“, brachte sie schließlich gleichermaßen verunsichert, wie fast trotzig hervor.

 

„Eben“, entgegnete Becker grimmig. „Das glaube ich auch nicht. Ich glaube, dass er in Schwierigkeiten steckt. In großen Schwierigkeiten. Also bitte, Toni, mach schon. Ich will nicht, dass wir unnötig Zeit verschwenden, indem wir uns erst selbst davon überzeugen, was dort los ist.“

 

Toni nickte und wählte endlich den Notruf. Nachdem sie sich bemüht hatte, dem Beamten am anderen Ende, die Sachlage zu erklären, legte sie schließlich auf und schaute hilflos zu den anderen. „Ich glaube, der Mann hält mich für völlig durchgeknallt, aber er hat gesagt, er will trotzdem mal `ne Streife beim Heim vorbeischicken.“

 

„Na bitte, mehr wollen wir ja auch gar nicht. Was die von uns denken, ist mir gerade ziemlich egal.“

 

Toni beobachtete, wie Becker nervös mit den Fingerspitzen auf dem grauen Kunststoff der Konsole herumtrommelte, als würde er dafür bezahlt. So hatte sie den souveränen Anwalt noch nie gesehen und sie sprach ihre Gedanken laut aus. „Sie machen mir Angst.“ Dass dabei ihre Stimme leicht zitterte, war ihr mittlerweile auch schon egal. Sollten die anderen doch merken, was mit ihr los war – es gab schließlich Schlimmeres. Zum Beispiel, die Vorstellung, dass Frank entgegen allen Anzeichen rückfällig geworden war, oder … noch schlimmer: Dass ihm gerade etwas zustieß und sie nicht mehr rechtzeitig kämen, um zu helfen.

 

„Toni, ich habe Angst“, betonte Becker. „Mike, bitte, kannst du nicht schneller fahren? Mein Gott, nun drück´ schon das Pedal durch. Wenn du geblitzt wirst, nehme ich das auf meine Kappe.“

 

Mike tat wortlos, was von ihm verlangt wurde und fünf Minuten später bog der Wagen in die Straße ein, an deren Ende das Heim lag. Schon aus der Entfernung war zu erkennen, dass Beckers Befürchtungen berechtigt gewesen waren. Das Ende der Straße lag beinahe taghell erleuchtet vor ihnen. Das Blaulicht verschiedener Streifenwagen blinkte stumm vor sich hin und die Scheinwerfer von drei großen Feuerwehrfahrzeugen taten ihr Übriges. Die größte Lichtquelle bot jedoch zweifellos das Alten- und Pflegeheim selbst. Aus mehreren Fenstern schlugen die Flammen in die Nacht hinaus und suchten gierig züngelnd nach immer neuer Nahrung. Männer in Polizei- und Feuerwehruniformen bellten sich über das Knistern hinweg lautstark Befehle und Anordnungen zu. Schläuche wurden hektisch ausgerollt und an einen in der Nähe befindlichen Hydranten angeschlossen und irgendjemand übertönte schließlich alle anderen barsch mit den Worten: „Wasser marsch!“

 

Fassungslos beobachteten die Neuankömmlinge, während Mike den Wagen langsam noch näher heranrollen ließ, das Unglück, das sich da direkt vor ihren Augen abspielte und versuchten – jeder für sich – die Bilder zu verarbeiten. Die Evakuierung des Gebäudes schien parallel zu den Löscharbeiten zu laufen, denn schon wurden erste Krankenbetten auf die Straße und weg von den todbringenden Flammen geschoben und Toni erkannte trotz der Entfernung einige der nicht pflegebedürftigen Bewohner, die – lediglich mit ihrer Nachtwäsche bekleidet – in kleinen Gruppen zusammenstanden und mit verwirrten Gesichtern diskutierten.

 

„Oh, mein Gott“, murmelte sie und schlug sich in fassungslosem Entsetzen die Hand vor den Mund. „Es brennt.“

 

„Was du nicht sagst“, kommentierte Mike tonlos die Bemerkung seiner Schwester, während er vorsichtig den Wagen in Schrittgeschwindigkeit durch die immer dichter werdende Menschenmenge steuerte, bis schließlich ein Polizist direkt vor seinem Wagen auftauchte und ihn mit erbosten Handzeichen zum Halten zwang. Mike befolgte den Befehl mit einem ruckartigen Tritt auf die Bremse, woraufhin er und Becker trotz der geringen Restgeschwindigkeit fast gegen das Armaturenbrett schlugen, weil sie bei ihrem überstürzten Aufbruch vergessen hatten, sich anzuschnallen. Nachdem das Auto stand, starrte Tonis Bruder mit großen Augen durch die Windschutzscheibe auf das vor ihnen liegende Chaos. Es war offensichtlich, dass er darauf nicht vorbereitet gewesen war. „Verdammt! Mit was für einer Flachpfeife hast du da eben telefoniert?“, fauchte er wütend. „Für mich sieht das so aus, als hätte es sich schon längst herumgesprochen, dass hier was nicht stimmt.“

 

49. Kapitel - Eingeschlossen in der Flammelhölle

„Frank! Frank! Du musst aufwachen! Nun mach schon! Wir müssen hier raus! Schnell! Bitte, so wach doch endlich auf!“

 

Alles, was Frank von sich gab, war ein unwilliges Knurren. Lieber Gott, konnte man ihm denn nicht wenigstens einmal seine Ruhe gönnen? Er wollte sich doch nur kurz ausruhen. Mehr am Rande bekam er mit, dass die Stimme, die ihm so permanent auf die Nerven ging, brach und in ein verzweifeltes Schluchzen überging. Na toll, das nervte fast genauso, wie das hysterische Gekeife zuvor. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das er im Augenblick noch nicht fassen konnte, aber es störte ihn noch viel mehr, als die Stimme dieser Frau. Frank holte tief Luft und zuckte gleich darauf vor Schmerz zusammen. Warum zum Teufel fiel ihm bloß das Atmen so verdammt schwer? Das konnte doch nicht nur an seinen lädierten Rippen liegen. Nein, es war irgendwie so, als käme einfach nicht genügend frische Luft in seinen Lungen an. Woran konnte das liegen? Außerdem stank es wie Hölle. Gott, konnte diese Nervensäge nicht endlich mal mit dem Gezetere aufhören? Da konnte man ja keinen klaren Gedanken mehr fassen. Frank riss sich zusammen und versuchte, sich zu konzentrieren. Dieser Geruch. Was war das? War da etwa …? Ja, es roch fast so, als ob …

 

Mit einem Mal riss er die Augen auf. Plötzlich ergab auch das hysterische Gekreische einen Sinn. Das Schwesternzimmer stand inzwischen lichterloh in Flammen. Gerade stürzte mit einem hässlichen Knacken und Krachen die Gardinenstange mitsamt den Resten der lichterloh brennenden Vorhänge auf den Boden. Einer der Gardinenreste landete brennend genau auf Franks linkem Oberschenkel und erschrocken schüttelte er instinktiv die unwillkommene Last ab. Seine angeknacksten Rippen dankten ihm die hastigen Bewegungen mit stechenden Schmerzen, die ihm prompt wieder die Luft nahmen. Frank kam es so vor, als drehe jemand langsam und genüsslich ein Messer in seinen Eingeweiden um.

 

Er presste sich eine Hand in die Seite, die stärker schmerzte und versuchte gleichzeitig wackelig auf die Beine zu kommen. Mit der freien Hand stützte er sich auf dem Boden ab. Es war gar nicht so einfach, aber schließlich stand er. Wenn er flach atmete, waren die Schmerzen auch einigermaßen auszuhalten. Okay, also los, an die Arbeit, feuerte er sich selber an. Wenn er sich umschaute, war ihm klar, dass Beeilung durchaus vonnöten war. Er wankte hinüber zu der Krankenschwester, die auf ihrem Stuhl wild herumzappelte und dabei immer noch haltlos vor sich hin schluchzte.

 

„Oh, bitte Schwester Karola“, bat er krächzend. „Könnten Sie wohl bitte mit der verdammten Heulerei aufhören? Das macht mich völlig fertig.“

 

„Tut mir leid. Aber ich bin so erleichtert, dass du nicht tot bist. Als du dich nicht rührtest, dachte ich schon …“

 

„Hey, es ist gut. Ganz ruhig. Ich lebe ja noch. Halten Sie still. Gott, wie haben Sie es bloß geschafft, diese Knoten so fest zu zurren?“ Verzweifelt fingerte Frank an den Fesseln herum. Von draußen klang entfernt Sirenengeheul an seine Ohren, das sich rasch zu nähern schien. „Na bitte“, murmelte er und gestattete sich einen Moment der Erleichterung. „Die Kavallerie ist schon unterwegs. Trotzdem … Karola, ich brauche eine Schere – oder irgendwas in der Art. Ich bekomme die Fesseln so nicht auf.“

 

Die Krankenschwester schniefte mittlerweile nur noch leise vor sich hin und deutete wortlos mit dem Kopf auf eine Schublade der ebenfalls schon brennenden, kleinen Küchenzeile. Ohne groß nachzudenken griff Frank nach dem Metallgriff, zuckte zurück und fluchte laut, denn der Griff war bereits siedend heiß. Er griff sich ein Handtuch, deckte damit den Griff ab und hatte gleich darauf eine Schere in der Hand. Er befreite Karola von ihren Fesseln und reichte ihr das Handtuch.

 

„Hier, nass machen“, befahl er knapp. Das Atmen und Sprechen fiel ihm in dem geschlossenen Raum zunehmend schwerer und er wollte sich lieber nicht ausmalen, was das Feuer da gerade an giftigen Dämpfen freisetzte, die er und Schwester Karola ungefiltert einatmeten. Andererseits zögerte er, die Fensterscheiben zu zerstören, denn er wusste, dass die plötzliche Sauerstoffzufuhr ihre Lage noch verschlimmern könnte. „Ich peile inzwischen die Lage auf dem Flur.“

 

Schwester Karola begab sich zur Spüle, während Frank zur Tür ging und diese voller böser Vorahnungen aufriss. Dieses Mal schien das Glück jedoch auf ihrer Seite zu sein. Flammen waren auf dem Flur noch keine zu sehen. Zwar war auch hier alles voller beißendem Qualm und die Luft war zum Schneiden dick, aber Frank ging davon aus, dass dies besser werden würde, je weiter sie sich vom Brandherd, also dem Schwesternzimmer, entfernten. Sie mussten sich nur beeilen und möglichst nicht zuviel Rauch einatmen. Und vor allen Dingen mussten sie direkt ein paar Patienten mit nach draußen nehmen. Er schaute über die Schulter nach hinten, wo Karola noch immer am Wasserkran beschäftigt war.

 

„Fertig? Wir müssen sehen, dass wir nach draußen kommen.“

 

Schwester Karola reichte Frank ein nasses Handtuch.

 

„Danke.“

 

„Bitte.“ Zweifelnd blickte die Frau an Frank vorbei den Flur entlang. „Glaubst du wirklich, das ist die richtige Entscheidung? Ich meine, wir sind doch nur im ersten Stock. Wir könnten doch vielleicht durchs Fenster. Es ginge viel schneller und falls wir uns dabei was tun, ist Hilfe doch schon unterwegs.“

 

Frank schüttelte energisch den Kopf. „Ohne mich. Am Fenster brennt es lichterloh, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte, und außerdem komme ich in meinem Zustand noch nicht mal auf das Fensterbrett. Ich pack das nicht, tut mir leid. Außerdem will ich keinen Backdraft riskieren. Also, was ist? Trennen wir uns, oder kommst du mit?“ Die Krankenschwester hatte ihm die persönliche Anrede zwar nicht angeboten, aber irgendwie fand Frank, dass es gerade besser zur Situation passte. Für Förmlichkeiten war später noch Zeit. Leider zögerte Karola noch immer. „Nun komm schon, wir müssen uns um die Patienten kümmern“, drängte er. Das gab endlich den Ausschlag.

 

„Gut, gehen wir“, antwortete die Frau immer noch zögernd.

 

Na endlich! „Bleib dicht hinter mir. Atme flach und immer schön das Handtuch vor´s Gesicht halten. Okay, bist du bereit?“

 

Frank ging voraus. Mit der einen Hand hielt er sich die Seite und mit der anderen presste er sich das nasse Handtuch vor Mund und Nase. Die Sicht war mittlerweile fast gleich Null. Bis zum ersten Patientenzimmer waren es nur wenige Schritte und doch wäre Frank um ein Haar an der Tür vorbeigelaufen. Er zeigte Karola durch Hand- und Kopfbewegungen an, dass er sich um das Zimmer, welches dem Brandherd am nächsten lag, kümmern würde und schickte sie weiter nach vorn. Die junge Frau nickte erleichtert und marschierte eilig an ihm vorbei.

 

Vorsichtig öffnete er die Tür und betrat das Zimmer. Auch hier brannten bereits Fensterrahmen und Gardinen und dichter Rauch verteilte sich im ganzen Zimmer. Frank tastete sich zum Bett vor. Die Patientin lag stumm im Bett und guckte ihn aus großen Augen panisch an. Offensichtlich stand sie unter Schock. Frank schoss kurz durch den Kopf, dass er wahrscheinlich furchterregend aussah, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er berührte die alte Dame sanft an der Schulter.

 

„Hey, alles in Ordnung mit Ihnen? Ich bin´s, Frank“, setzte er dann sicherheitshalber noch hinzu, um die alte Dame zu beruhigen. „Kommen Sie, wir müssen hier raus. Versuchen Sie, sich hinzusetzen. Ich suche den Rollstuhl.“ Er ging um das Bett herum und tastete dabei nach dem Gefährt. Dabei registrierte er am Rande, dass sich draußen offenbar eine Menge in Sachen Rettung tat. Wenn er die am Fensterrahmen lodernden Flammen ignorierte und seinen Blick stur nur nach draußen richtete, konnte er erkennen, dass dort immer mehr Lichter in unregelmäßigen Abständen aufblinkten, die offenbar nichts mit dem Feuer zu tun hatten. Auch glaubte er durch das laute Prasseln des Feuers hindurch, aufgeregte Stimmen zu hören. Gott sei Dank!

 

Beeilt euch, flehte er stumm. Bitte, bitte, beeilt euch! Es wird Zeit. Wir brauchen Hilfe! Alleine schaffen wir das nie! In diesem Augenblick stieß er mit dem Fuß gegen den Rollstuhl. Endlich! Schnell schob er ihn seitlich neben das Bett und versuchte keuchend den explosionsartig aufwallenden Schmerz zu ignorieren, während er die alte Dame aus dem Bett hob und in den Stuhl setzte.  Bevor er schließlich mit ihr das Zimmer verließ, musste er einen Moment lang in gebückter Stellung mit den Händen auf den Knien innehalten, weil er glaubte, ihm würde schon wieder schwarz vor Augen. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, richtete er sich vorsichtig so weit wie möglich auf und schob den Rollstuhl tapfer vor sich her. Im Flur traf er wieder auf Karola, die ebenfalls einen Rollstuhl schob. Als sie am Aufzug vorbeikamen, blickte Karola ihn fragend an und er konnte ihre stumm vorgebrachte Frage kaum fassen. Mann, das wusste doch nun wirklich jeder, dass bei einem Feuer Aufzüge absolut tabu waren. Frank schüttelte vehement den Kopf und wies stattdessen nickend nach vorn in Richtung Treppenhaus. Starker Hustenreiz quälte ihn unaufhörlich und als sie endlich die Treppe erreichten, konnte er ihn nicht mehr unterdrücken. Stark und unvermittelt brachen sofort die Schmerzen wieder über ihn herein; so heftig, dass ihm dieses Mal tatsächlich kurz schwarz vor Augen wurde und er mit dem Gesicht gegen das Treppengeländer schlug, an dem er eigentlich hatte Halt suchen wollen. Nur mit äußerster Willensanstrengung und Konzentration schaffte er es, nicht zusammenzubrechen. Etwas berührte seinen Arm und als er den Kopf hob, schaute er direkt in die Atemmaske eines Feuerwehrmannes.

 

„Alles in Ordnung mit dir?“, klang es verzerrt durch die Maske. „Bist du verletzt?“

 

Frank wunderte sich nicht über den metallenen Geschmack in seinem Mund. Irgendetwas war kaputt – vermutlich ein Zahn? Aber vielleicht hatte er sich beim Aufprall auch nur selber auf die Zunge gebissen. Darum musste er sich später kümmern. Jetzt mussten sie erst einmal hier raus! Energisch schluckte er das Blut in seinem Mund hinunter und brachte mit viel Mühe hervor: „Geht schon.“ Hoffentlich klang er überzeugend. Als der Mann daraufhin Anstalten machte, ihm die Sauerstoffmaske vor Nase und Mund zu halten, schüttelte er den Kopf und wehrte ab. „Nein, nicht jetzt! Später.“

 

„Gut, wie du meinst. Komm, ich nehme sie dir ab und bringe sie raus.“ Der Feuerwehrmann hob die alte Dame mühelos auf seine Arme und blickte sich dann noch einmal zu Frank um. „Schaffst du es allein bis nach unten?“

 

Frank klammerte sich immer noch krampfhaft hustend mit tränenden Augen an das Treppengeländer, aber er nickte, woraufhin der Feuerwehrmann aus seinem Blickfeld verschwand. Er versuchte, seinen Blick wieder scharf zu bekommen und registrierte dankbar, dass inzwischen immer mehr Männer mit Atemschutzmasken die Treppen hinaufstürmten und in den Patientenzimmern verschwanden. Gut so! Frank war froh, dass diese Verantwortung jetzt in den Händen anderer lag. Alleine hätte er und Karola diese Aufgabe niemals bewältigen können. Jetzt konnte er nur hoffen und beten, dass es den Feuerwehrmännern gelang, alle Bewohner rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Gerade, als er sich auf den Weg nach unten machen wollte, durchfuhr ihn plötzlich blitzartig ein Gedanke. Der General! Er bewohnte das letzte Zimmer in diesem Flur – das einzige Zimmer, das zurzeit hinter dem Schwesternzimmer noch belegt war. Dazwischen lagen nur ein Badezimmer, ein Materialraum und ein leeres Patientenzimmer. Was, wenn die Retter nun den General vergaßen? Frank machte sich nichts vor, das konnte leicht passieren und vermutlich könnte man im Nachhinein Niemandem einen Vorwurf machen. Frank hob den Kopf und blickte sich vorsichtig um. Um ihn herum herrschte hektische Betriebsamkeit. Polizisten und Feuerwehrmänner wuselten eilig durcheinander und halfen sich gegenseitig bei der Evakuierung der Bewohner. Niemand achtete auf ihn. Entschlossen presste Frank sich die Hände in die Seite und blinzelte die Tränen aus den brennenden Augen. Dann drehte er um und machte sich fest entschlossen auf den Rückweg in die Hölle.

 

50. Kapitel - Rettung in letzter Sekunde

Toni stand zusammen mit ihrem Bruder und Dr. Becker hinter einer von der Polizei eilends aus rot-weißem Flatterband errichteten Absperrung und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Mittlerweile waren auch Schwester Maria, Roman und einige andere Angestellte des Heimes eingetroffen und hatten sich zu ihnen gesellt. Schlechte Nachrichten verbreiten sich eben tatsächlich wie ein Lauffeuer, dachte Toni im Stillen und hätte um ein Haar hysterisch aufgekichert, als ihr das makabere gedankliche Wortspiel auffiel.

 

In bedrückendem Schweigen sahen sie bei den Löscharbeiten und der Evakuierung der Heimbewohner zu. Selbst Roman – der normalerweise immer positiv dachte – war deutlich anzusehen, dass er sich Sorgen machte. Große Sorgen. Auf der Straße wimmelte es inzwischen vor Krankenwagen und Notärzten. Warme Decken wurden verteilt und einige der Anwohner hatten angeboten, die nicht pflegebedürftigen, unverletzten Bewohner vorläufig bei sich aufzunehmen, bis das Chaos sich etwas gelichtet hatte und man wusste, wie es weitergehen würde.

 

Toni starrte sich die Augen aus dem Kopf, doch zu ihrem wachsenden Entsetzen konnte sie Frank nirgendwo in dem Durcheinander entdecken. Schwester Maria bemerkte ihr sorgenvolles Gesicht und legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern.

 

„Das wird schon, Toni“, sagte sie tröstend. „Die Hauptsache ist doch, dass Niemandem etwas geschieht und alle heil da raus kommen. Der Rest wird sich schon finden. Mach dir keine Gedanken.“

 

„Ja, aber … wo ist Frank?“, fragte Toni und wunderte sich kurz darüber, wie schrill und fremd ihr die eigene Stimme vorkam. „Ich kann ihn nirgendwo sehen … Sie vielleicht?“

 

„Frank? Aber der ist doch nach den Aufräumarbeiten nach Hause gefahren. Er hat das Heim noch vor mir verlassen.“

 

„Nein!“ Toni schüttelte Schwester Marias Hand ab, die sich beruhigend auf ihren Arm gelegt hatte. „Nein, das kann nicht sein!“ Es hielt sie kaum noch hinter der Absperrung. „Er … er hat uns doch angerufen! Ich meine, Mike – er hat versucht, Mike anzurufen! Er ist in Schwierigkeiten. Er … er muss hier irgendwo sein!“ Sie wippte auf den Zehenspitzen auf und ab, als könne sie dadurch mehr erkennen. „Er muss einfach!“

 

„Was sagst du da?“ Schwester Maria blickte sie überrascht an. „Er hat euch angerufen? Was hat er denn gesagt?“

 

„Nichts!“ Toni schrie inzwischen fast. „Das ist es ja eben!“

 

„Wie jetzt?“ Schwester Maria blickte verwirrt von Einem zum Anderen. „Ich verstehe nicht ganz.“

 

„Sie hat recht“, mischte sich jetzt Dr. Becker ein. Er erklärte Schwester Maria kurz, was vorgefallen war. „Wir haben den Notruf gewählt“, schloss er schließlich. „Zu dem Zeitpunkt wusste offenbar noch niemand Bescheid, was aber irgendwie komisch ist, denn als wir eben hier ankamen …“ Er machte eine Handbewegung, die das Heim, den Garten und die Straße einschloss. „… sah es so aus. Na ja, noch nicht ganz so, aber es war schon `ne Menge los.“

 

„Was? Jetzt reicht es aber.“ Schwester Maria hob entschlossen das Flatterband an und duckte sich hindurch.

 

Die anderen betrachtete das als Einladung, ihr zu folgen. Ein Polizist wollte sie am Weitergehen hindern, doch Schwester Maria fegte ihn rigoros mit den Worten: „Junger Mann, stehen Sie mir nicht im Weg. Ich habe für all´ diese Leute hier die Verantwortung“, beiseite.

 

Ein Feuerwehrmann stolperte gerade über und über mit Ruß verschmiert aus dem Heim, riss sich die Atemmaske vom Gesicht, atmete einmal tief durch und wandte sich dann an seinen Einsatzleiter. „So …“ Seine Stimme klang erleichtert. „… ich glaube, wir haben jetzt alle draußen.“

 

„Sehr gut“, sagte der Angesprochene tief befriedigt. „Dann können wir uns ja jetzt voll auf die Löscharbeiten konzentrieren. Unter Kontrolle haben wir den Brand ja schon. Ein Übergreifen des Feuers ist inzwischen Gott sei Dank auch auszuschließen.“

 

„Entschuldigung, aber der Mann irrt sich“, mischte sich Schwester Maria forsch in das Gespräch ein. „Ein meiner Mitarbeiter fehlt noch. Er war im Gebäude als das Feuer ausbrach und hat eine Kollegin telefonisch alarmiert.“ Die Nonne warf Roman, der bei Schwester Marias gekonnter Zurechtlegung der Wahrheit die Augenbrauen hochzog, einen vernichtenden Blick zu. „Frank Baumann. Achtzehn Jahre alt. Ich will, dass Sie nach ihm suchen lassen. Sofort!“

 

„Sind Sie sich sicher? Sie haben gehört, was der Kollege sagte.“

 

„Ob ich mir sicher bin? Fragen Sie doch lieber mal Ihren Mann, ob er sich sicher ist. Guter Mann, wenn meinem Mitarbeiter etwas geschieht, nur weil Sie Ihre Arbeit nicht …“

 

Einer der Feuerwehrmänner, der sich seitlich von ihnen aufgehalten und das Gespräch mitbekommen hatte, kam nun näher. „Ungefähr einen Meter Achtzig groß? Schlank? Südländischer Typ? Dunkle, etwas längere Haare?“, erkundigte er sich.

 

Schwester Maria nickte und Toni grub sich unwillkürlich die Fingernägel in die Handballen.

 

Der Mann lächelte. „Da kann ich Sie beruhigen. Ich habe dem jungen Mann vorhin im ersten Stock eine Patientin abgenommen und ihn dann rausgeschickt, nachdem er mir versichert hat, dass er alleine zurechtkommt. Der muss hier draußen irgendwo sein.“

 

Toni verlor die Beherrschung. „Verdammt noch mal: Er ist aber nicht hier!“, schrie sie laut und unbeherrscht dazwischen. „Oder sehen Sie ihn hier vielleicht irgendwo?“ Sie fuchtelte mit den Händen von rechts nach links und von vorne nach hinten. „Nein? Sehen Sie? Er ist nicht hier! Also muss er wohl noch drinnen sein!“ Mike legte beruhigend einen Arm um seine Schwester und drückte sie leicht an sich was zur Folge hatte, dass sie wieder etwas ruhiger wurde. „Er ist nicht hier“, wiederholte sie nur noch einmal leise und mit zittriger Stimme.

 

Der Einsatzleiter wirkte zunehmend unsicher. „Hat ihn irgendjemand aus dem Haus kommen sehen?“, fragte er schließlich an seine Mitarbeiter gewandt und blickte sich suchend um.

 

Einstimmiges Kopfschütteln war die Antwort. Der Einsatzleiter warf dem Feuerwehrmann, der offensichtlich mit Frank gesprochen hatte, einen fragenden Blick zu. Doch der zuckte ratlos mit den Schultern.

 

„Ich habe ihn danach nicht mehr gesehen. Im Treppenhaus war aber definitiv niemand mehr. Und die Patientenzimmer waren leer. Wenn da wirklich noch Jemand drin ist, gibt es nur eine Erklärung. Er muss …“

 

In diesem Augenblick stieß Toni einen schrillen Schrei aus, der alle Umstehenden erschrocken zusammenzucken ließ. Aufgeregt wies sie mit einer Hand auf das Haus. Durch den dichten Rauch war dort schemenhaft eine Gestalt zu erkennen, die sich jetzt stark schwankend am Rahmen anlehnte, während sie in die Runde blickte. Jetzt war auch deutlich zu erkennen, dass sie eine zweite Person auf den Armen trug.

 

„Frank!“, schrie Toni laut und die Gestalt auf dem Treppenabsatz drehte den Kopf, als schien sie nach dem Ursprung der Stimme zu suchen. „Mein Gott“, schrie Toni wieder. „So helft ihm doch jemand! Er braucht Hilfe!“ Sie machte einen Schritt nach vorn und wollte sich in Bewegung setzen.

 

Mike schaffte es gerade noch, seine Schwester am Arm zurückzuhalten: „Den Teufel wirst du tun“, sagte er mit fester Stimme.

 

„Aber ich…“

 

„Sie bleiben hier! Wir gehen“, mischten sich da 2 Feuerwehrleute sehr bestimmt in den kleinen Disput der Geschwister ein und machten sich bereits auf den Weg. Der eine nahm Frank, der völlig am Ende schien, den General ab und der andere stützte Frank und half ihm vorsichtig die wenigen Stufen hinunter. „Sauerstoff – wir brauchen Sauerstoff. Schnell! Und eine Trage!“

 

Zwei Sanitäter eilten mit dem gewünschten heran, doch noch bevor sie Frank erreicht hatten, versagten dem plötzlich ohne jede Vorwarnung die Beine und er rutschte dem Feuerwehrmann, der ihm behilflich war, einfach durch den Arm und sank haltlos auf dem durch das Löschwasser aufgeweichten Boden zusammen. Toni war nun nicht mehr zu halten und entwischte ihrem Bruder. Zwei Sekunden später kniete sie an Franks Seite und griff nach seiner Hand.

 

„Hey“, flüsterte sie. „Was machst du denn für Sachen? Jetzt noch schlappmachen gilt nicht.“

 

Frank öffnete die Augen soweit es ihm möglich war und als er Toni erkannte bekam sein Gesicht einen Ausdruck, der zwischen Erleichterung und Entsetzen gleichermaßen zu schwanken schien. Er versuchte zu sprechen, doch es kam nur ein Krächzen aus seinem Mund. Erst nachdem er sich zweimal geräuspert hatte, wurden aus seinen Versuchen auch Töne. „Toni … ich …“

 

„Nein … psst.“ Tonis Zeigefinger legte sich sanft auf seine aufgesprungenen Lippen. „Nicht sprechen.“ Sie unterbrach sich und schaute zu, wie die Sanitäter Frank vorsichtig auf die Bahre betteten. Dann trat sie wieder an seine Seite und bat die Männer kurz: „Nur einen Moment noch, ja? Bitte.“ Als die Sanitäter nickten, griff sie wieder nach Franks Hand. „Hör zu, sie bringen dich jetzt ins Krankenhaus. So wie du ausschaust hast du ganz schön was abbekommen. Ich werde dich dann später besuchen kommen, okay?“

 

Frank deutete ein Nicken an, doch als Toni seine Hand loslassen wollte, packte er nach und hielt sie fest. „Es tut mir leid – ehrlich, es tut mir so leid“, stammelte er mit Mühe.

 

„Aber es braucht dir doch nichts leid zu tun“, antwortete Toni weich. „Du kannst doch nichts dafür. Mach dir keine Sorgen.“

 

„Doch, ich …“

 

„Genug jetzt! Wir müssen los.“ Der Sanitäter legte Frank mit geübtem Griff die Sauerstoffmaske an und schnitt ihm so das Wort ab.

 

„Ja, klar.“ Toni drückte Franks Hand noch einmal kurz und lächelte ihm zu. „Wir sehen uns - ich bin so froh, dass du wieder in Ordnung kommst.“ Sie trat zurück und machte Schwester Maria Platz, die ebenfalls herangekommen war.

 

„Himmel!“, rief die Nonne bestürzt aus, als sie Frank aus der Nähe betrachtete.

 

Frank hob die Maske an und riskierte ein schiefes Grinsen. „Halb so wild“, krächzte er rau.

 

„Halb so wild?“, antwortete Schwester Maria entrüstet. „Von wegen! – Wohin bringen sie ihn?“, fragte sie dann die Sanitäter.

 

„In die Uniklinik.“

 

„Gut, ich …“ Sie blickte sich um. „Roman? Ich brauche Ihr Mobiltelefon! – Ich denke, es ist an der Zeit, die Eltern zu informieren“, setzte sie dann leise, aber sehr entschlossen hinzu und entfernte sich eilends von der kleinen Gruppe. Den verwunderten Seitenblick, den Toni ihr aufgrund ihrer letzten Bemerkung zugeworfen hatte, registrierte sie nicht mehr.

51. Kapitel - Bestandsaufnahme

Als Frank am nächsten Vormittag in der Klinik wieder zu sich kam, wusste er zunächst gar nicht, wo er sich befand und was passiert war. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren und starrte mit offenen Augen an die weiß getünchte Decke. Irgendetwas steckte störend in seinen Nasenlöchern und hinter ihm blubberte es permanent. Was zum Teufel war das? Es nervte! Er wollte sich nach hinten drehen, doch die stechenden Schmerzen und die Welle der Übelkeit, die postwendend über ihn hereinbrach, brachten ihn umgehend von diesem Vorhaben ab. Gütiger Gott, was war denn das? Zischend sog er die Luft ein, sank zurück in die Kissen und wartete still und absolut bewegungslos darauf, dass der Schmerz abebbte. Äußerst verwirrt griff er an seine Nase und wollte sich zumindest von diesem Fremdkörper befreien, doch eine warme Hand legte sich auf die seine und hielt ihn davon ab. Gleichzeitig tauchte ein ihm fremdes Gesicht über ihm auf.

 

„Da bist du ja wieder“, sagte eine freundliche Stimme, die er definitiv nicht kannte. Die warme Hand wanderte zu seiner Stirn. Das hatte seine Mutter auch immer gemacht, wenn er als kleines Kind krank gewesen war. War er das jetzt auch? War das die Erklärung? War er krank? Die Schmerzen von eben sprachen auf jeden Fall dafür. Ein Unfall! Bestimmt hatte er einen Unfall gehabt – das verdammte Glatteis!

 

„Fieber scheinst du nicht zu haben“, sagte die Stimme, bevor sich gleich darauf etwas in sein Ohr pulte. Es piepste kurz und der Gegenstand verschwand wieder. „Nein, alles gut. Ich werde kurz den Arzt holen, okay? Und bitte bleib von deiner Nase weg. Du hast eine Rauchvergiftung. Du brauchst den Sauerstoff. – Ich bin gleich wieder da.“ Schritte entfernten sich und kurz darauf wurde eine Tür geschlossen.

 

Rauchvergiftung! Das war das Stichwort. Schlagartig fiel Frank wieder ein, was geschehen war. Allerdings hatte er keinen Schimmer, wie er aus dem Heim rausgekommen war. Nun, offenbar hatte er es irgendwie geschafft. Wie, war ja letztendlich egal. Die Hauptsache war, dass er es geschafft hatte! Die Tür öffnete sich wieder und ein Arzt erschien in Begleitung seiner Eltern. Gut so, jetzt musste er nur noch die Untersuchung über sich ergehen lassen und dann konnte er endlich all die Fragen, die ihm auf der Seele brannten, stellen.

 

Der Arzt meinte zwar, er solle seine Stimme schonen und noch nicht so viel sprechen, doch das war ihm erst einmal egal. Den Mund halten konnte er später immer noch. Er brauchte Antworten. Was war mit dem General? Waren alle gerettet worden oder gab es Opfer zu beklagen? Hatte er es tatsächlich alleine bis nach draußen geschafft? Hatte sein Notruf jemanden erreicht? Falls ja, wen? Und, und, und… Seine Eltern, die direkt nachdem Schwester Marias Anruf sie erreicht hatte, ins Krankenhaus geeilt waren und seitdem angstvoll darauf gewartet hatten, dass er endlich wach wurde, hatten Erbarmen mit ihm und beantworteten Frank geduldig alle Fragen, die er ihnen mit einer ihm fremd klingenden, rauchigen, kratzigen Stimme stellte. Als sie ihm erzählten, dass der General die Rettungsaktion den Umständen entsprechend gut überstanden hatte und sich nun ebenfalls mit einer Rauchvergiftung in einem Nebenzimmer von der Aufregung erholte, seufzte Frank erleichtert auf. Er hätte es sich nie verziehen, wenn er zu spät gekommen wäre. Aber wenn er den Beiden Glauben schenken durfte, dann war dem alten Haudegen außer ein paar leichten Blessuren und der Rauchvergiftung weiter nicht viel geschehen. Je mehr Frank redete, desto mehr schmerzten seine Kehle und sein Hals, doch das verschwieg er seinen Eltern wohlweislich. Er ließ sich nur ein paar Mal von seiner Mutter das Wasserglas reichen. Doch der quälende Husten verriet ihn und er musste immer häufiger Pausen einlegen.

 

„Okay, wann kann ich hier raus?“, erkundigte er sich schließlich erschöpft und die Antwort gefiel ihm gar nicht.

 

„Die Ärzte sagen, frühestens in einer Woche“, antwortete seine Mutter.

 

„Das ist nicht euer Ernst“, reagierte Frank empört. „Die spinnen ja wohl.“

 

„Frank, du hast eine Rauchvergiftung, drei gebrochene und eine angeknackste Rippe, etliche Prellungen, ein paar kleinere Brandwunden und das riesige Loch in deinem Schädel mussten die Ärzte mit zehn Stichen nähen.“

 

Unwillkürlich fuhr Franks Hand zu der Stelle an seinem Hinterkopf, wo ihn Nicks Kumpan mit was auch immer getroffen hatte. Er zuckte zusammen, als er die Stelle erwischte, die jetzt durch ein großes Pflaster abgedeckt war und registrierte fast nebenbei, dass man ihm offensichtlich in diesem Bereich sehr großzügig die Haare abrasiert hatte – wohl um die Wunde besser versorgen zu können. Entsetzt stöhnte er auf. Auch das noch.

 

„Es ist nicht ausgeschlossen, dass du auch eine Gehirnerschütterung hast“, sprach sein Vater weiter. „Das wird sich erst jetzt zeigen, wo du wach bist.“

 

„Habe ich nicht“, widersprach Frank bestimmt.

 

„Sie wollen auf jeden Fall noch ein CT vom Kopf machen. Aber selbst wenn nicht, du musst ruhig liegen – wegen deiner Rippen.“

 

„Das kann ich zu Hause auch“, kam die trotzige Antwort.

 

„Frank, bitte sei vernünftig. Was sind schon ein paar Tage Krankenhaus? Du solltest froh sein, dass alles so gut ausgegangen ist. Gib dir etwas Zeit.“

 

Frank seufzte. Er war ja froh, dass alles glimpflich ausgegangen war. Aber Vernunft konnte er sich jetzt nicht leisten und Zeit hatte er schon mal gar nicht. Als er im Matsch vor dem Heim gelegen und Toni seine Hand gehalten hatte, da war ihm mit einem Mal klar geworden, dass er nun unwiderruflich auffliegen würde. Deshalb hatte er ihr gesagt, dass es ihm leid tat, aber sie hatte natürlich keine Ahnung gehabt, was er damit gemeint hatte. Logisch! Woher sollte sie auch?

 

Jetzt war seine größte Sorge, dass er erst einmal so schnell wie möglich hier abtauchen musste, um in Ruhe über eine Möglichkeit nachzudenken, wie er Toni am besten die Wahrheit beibringen konnte. So weit er sich erinnerte, hatte sie gesagt, dass sie ihn hier besuchen wollte. Was wäre, wenn sie dabei zufällig auf seine Eltern traf? Das wäre wirklich der Supergau schlechthin. Er bezweifelte stark, dass Toni ihm einen Krankenhausbonus einräumen würde. Oder wusste sie vielleicht sogar schon Bescheid? Immerhin hatte er in den letzten zwölf Stunden auf eine Menge Dinge keinen Einfluss nehmen können. Frank seufzte abermals, was seine Mutter falsch deutete.

 

„Warten wir es ab.“ Frau Baumann stand auf. „Wir sollten es langsam angehen. Du bist bestimmt müde. Wir kommen vielleicht später noch einmal vorbei. Ach ja, da ist noch etwas: Richte dich darauf ein, dass die Polizei einen Beamten vorbeischicken wird. Sie wollten sofort benachrichtigt werden, wenn du vernehmungsfähig bist. Sie brennen darauf, mit dir zu reden und ich fürchte, die Ärzte werden sie schon informiert haben. Frank, die Krankenschwester hat zwar schon ausgesagt, dass du auch ein Opfer dieser Jugendlichen warst, aber, du … du hast doch mit der ganzen Sache wirklich nichts zu tun, oder? Du hast ihnen keinen Tipp gegeben oder so etwas? Sie sagen, es fehlt Geld und …“

 

Die Zweifel seiner Mutter taten Frank beinahe körperlich weh. „Nein“, antwortete er grimmig. „Das hab´ ich nicht. Aber sie sollen ruhig kommen. Am besten schnell. – Ich … ich hab´ ihnen eine Menge zu sagen.“

 

Franks Vater griff nach seiner Hand und drückte sie vorsichtig. „Das ist gut, Junge“, sagte er. „Es ist an der Zeit. Ich bin stolz auf dich und das solltest du auch sein. Du hast Leben gerettet.“ Er klang erleichtert.

 

„Ich weiß nicht“, zweifelte Frank. „Ich hätte tatsächlich früher den Mund aufmachen sollen aber ich wurde erpresst. Trotzdem, wenn ich geredet hätte … vielleicht hätte das Ganze dann vermieden werden können“, setzte er nachdenklich hinzu. „Wie sieht das Heim aus?“, fragte er dann. „Ist es sehr schlimm?“

 

Frau Baumann zuckte mit den Schultern. „Ja, schon. Aber wer weiß schon, ob es etwas geändert hätte? Dann wären womöglich andere, noch schlimmere Dinge geschehen, die womöglich nicht so gut ausgegangen wären“, sagte seine Mutter sanft.

 

„Tja, du hast Recht. Wer weiß das schon? – Ihr könnt mir einen Gefallen tun. Fragt Dr. Becker, ob er mitkommen kann, wenn die Polizei kommt. Wer weiß … vielleicht brauche ich ja einen Anwalt.“

 

„Versprochen. Ich werde ihn gleich anrufen“, versprach sein Vater.

 

„Und jetzt wird geschlafen“, mischte sich seine Mutter bestimmt ein. „Du musst dich ausruhen.“

 

To be continued - in Thread VIII

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