Außer Kontrolle - Thread VIII

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52. Kapitel - Bangen und Hoffen

Frank fühlte sich körperlich immer noch total erschöpft. Es war inzwischen Abend geworden und den ganzen Tag über hatte er weitere Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen, abwechselnd viel Besuch gehabt, zuviel geredet und das Ergebnis davon waren jetzt heftige Hals- und Kopfschmerzen. Die Schwester hatte ihm schon eine zweite Schmerztablette gebracht und doch wollte es ihm nicht gelingen, endlich abzuschalten und einzuschlafen. Seine Verletzungen schmerzten stark und das für seine Lungen so dringend notwendige befreiende Durchatmen bereitete ihm, auch bedingt durch die Rippenbrüche, die Rauchvergiftung und die ihn immer wieder quälenden Hustenanfälle zusätzlich noch ziemliche Schwierigkeiten. Außerdem gelang es ihm nicht, die Gedanken, die unaufhörlich in seinem Kopf kreisten und ihn außerdem noch vom Schlafen abhielten, abzustellen, denn trotz aller körperlichen Erschöpfung fühlte er sich geistig immer noch merkwürdig überdreht.

 

Die Besuche hatten ihn ziemlich angestrengt. In seinem Zimmer war es zeitweise zugegangen wie in einem Taubenschlag und die resolute Krankenschwester war kurz davor gewesen, ein Machtwort zu sprechen. Sogar Richter Dohmen hatte vorbeigeschaut. Das hatte Frank tatsächlich sehr überrascht. Der beinharte, immer so unerbittlich wirkende Mann hatte sich immer wieder bei ihm bedankt, was Frank letztlich sogar ein wenig peinlich wurde. Offenbar lag ihm sehr viel an seinem Vater. Na ja, vielleicht war alte Knochen ja doch nicht so übel, wie er bisher gedacht hatte. Frank hatte ihm erzählt, dass er endlich auspacken wollte und der Richter hatte ihm zu seinem Entschluss gratuliert und ihm mehrfach seine Unterstützung zugesagt, falls er sie benötigen sollte, was er aber anscheinend nicht glaubte. Wenn Frank sich dessen nur auch so sicher sein könnte.

 

Am frühen Nachmittag war dann Becker wie versprochen mit einem Polizeibeamten im Schlepptau aufgetaucht und Frank hatte tatsächlich schonungslos ausgepackt. Nachdem er den Entschluss einmal gefasst hatte, wollte er nun auch unbedingt so schnell wie möglich reinen Tisch machen. Er hatte ihnen alles erzählt, was er wusste: Über Nick, seine Helfershelfer, die Fabrik, die Schließfächer am Bahnhof und auch über die anderen Verstecke, von denen er wusste. Da Nick ihn ein paar Mal mitgenommen hatte, wenn er geklaute Ware an den Mann gebracht hatte, konnte er dem Beamten sogar die Adressen zweier Hehler nennen. Zuletzt berichtete er noch von seiner unguten Vorahnung nach der Weihnachtsfeier; dass er sich sicher gewesen war, dass etwas passieren würde und wie er Nick und seinem Kumpel schließlich aufgelauert und sie im Heim überrascht hatte. Es war merkwürdig. Je mehr er redete, desto weniger Angst verspürte er. Dafür machte sich mehr und mehr ein seltsam befreiendes Gefühl der Erleichterung in seinem Inneren breit. Als der Beamte schließlich gemeint hatte, er bräuchte sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen und auch Becker ihm versicherte, alles würde nun seinen Gang gehen, lächelte Frank sogar – obwohl ihm nicht wirklich zum Lachen zumute war – trotz aller Erleichterung.

 

Fakt war, dass Frank sich derzeit über seine Zukunft am wenigsten Sorgen machte. Er hatte das getan, was er tun musste, basta. Viel mehr Sorgen machte er sich darüber, dass Toni sich noch nicht hatte bei ihm blicken lassen. Einerseits fürchtete er zwar ihren Besuch, doch die Tatsache, dass sie sich noch nicht einmal bei ihm gemeldet hatte, beunruhigte ihn noch viel mehr. Mike war auf einen Sprung vorbeigekommen, Schwester Maria und sogar Roman hatte ihn schon besucht. Nur Toni rührte sich einfach nicht. Frank hoffte inständig, dass er vielleicht doch noch die Chance erhielt, Toni selber reinen Wein einzuschenken. Sicher, er hätte einfach nur Mike oder Roman danach fragen können, wie viel von der Wahrheit eventuell nach seinem Zusammenbruch bereits zu ihnen durchgedrungen war, doch er hatte sich einfach nicht getraut – er war schlicht zu feige gewesen. Da er am Verhalten der beiden nichts hatte ablesen können, hoffte und betete er einfach still weiter. Was blieb ihm sonst schon übrig? Verdammt! Er brauchte unbedingt ne Mütze voll Schlaf. Seine wirren Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als es plötzlich leise an seine Tür klopfte.

 

„Ja?“

 

Ein roter Haarschopf schob sich zögernd durch die Tür. „Hallo“, grüßte Toni zaghaft. „Darf ich …?“

 

Frank fiel ein Riesenstein vom Herzen, während sich gleichzeitig ein unangenehmer Klumpen in seinem Magen breitzumachen schien. „Ja, klar, komm rein, bevor dich die Schwester erwischt. Die meinte eben schon, für heute wäre es genug.“

 

„Ich weiß“, lächelte Toni, huschte schnell ins Zimmer und schloss sorgfältig leise die Tür hinter sich. „Sie hatte mich schon weggeschickt, aber ich habe mich versteckt und einfach gewartet, bis sie in einem der Zimmer verschwunden ist. Na ja …“ Sie zuckte mit den Achseln. „… jetzt bin ich hier.“

 

„Du bist unglaublich.“ Wider Willen war Frank gerührt.

 

„Nein.“ Toni setzte sich zu ihm auf die Bettkante und griff zögerlich nach seiner Hand. „Du … du bist hier derjenige, der unglaublich ist.“ Sie drückte seine Hand und beugte sich kurz vor, um ihm einen schnellen Kuss auf die Wange geben zu können. „Ich bin so stolz auf dich“, sagte sie nach einer Verlegenheitspause leise. „Und ich hatte solch verdammte Angst um dich. Du bist ein Idiot, dass muss dir einfach mal jemand sagen. Wie konntest du dich nur so in Gefahr bringen?“ Sie stupste ihn mit der freien Hand leicht auf die Brust, was Frank ein schmerzerfülltes und spontanes „Uff“ entlockte. „Sorry“, setzte Toni ihre Ansage ungerührt fort. „Aber echt, ich bin fast verrückt geworden vor Angst um dich. Als du da aus dem Haus kamst … mit dem General auf dem Arm … ich dachte echt …“ Bei der Erinnerung an diese Szene vom Vorabend verzog sie kummervoll das Gesicht und brach ab.

 

„Hey, es ist ja noch mal gut gegangen“,  antwortete Frank und erwiderte den sanften Händedruck. Dann holte er tief Luft und ignorierte den mittlerweile fast schon vertrauten Schmerz an den Rippen. Jetzt oder nie! „Toni, wir müssen reden.“

 

„Ja, ich weiß.“ Sie lächelte verlegen und eine leichte Röte legte sich auf ihren Wangen.

 

Frank stutzte. Wusste sie etwa doch schon Bescheid – bisher hatte es für ihn nicht so ausgesehen. „Du weißt …?“, erkundigte er sich vorsichtig. „Was genau weißt du?“

 

Toni lächelte, aber jetzt wirkte sie nicht mehr verlegen, sondern seltsamerweise irgendwie erleichtert. „Später. Mir ist klar, dass wir reden müssen und ich bin ja auch dafür, aber das können wir später auch noch. Du musst dich jetzt erstmal ausruhen. Ich wollte nur mal kurz nach dir sehen, weil …“

 

„Weil?“

 

„… weil ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe. Ich musste dich sehen – musste mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass du das Alles einigermaßen heil überstanden hast. Es hat mir einfach keine Ruhe mehr gelassen.“

 

Toni wollte aufstehen, doch Frank ließ ihre Hand nicht los. Das hier war vielleicht seine allerletzte Gelegenheit und die würde er, verdammt noch mal, nutzen. Er würde jetzt reinen Tisch machen – komme, was da wolle. „Nein, bleib“, sagte er schnell und rieb mit seinem Daumen sanft über ihre Handoberfläche. „Bitte. Über … das Andere können wir auch sehr gerne reden – allerdings wirklich erst später – wenn du dann überhaupt noch mit mir reden willst.“

 

Tonis Gesicht drückte ihre Verwirrung aus. „Wie meinst du das? Wieso sollte ich denn nicht mehr mit dir reden wollen?“

 

„Weil ich dir vorher unbedingt noch was sagen muss.“ Franks Stimme klang fest entschlossen, doch das unsichere Flackern in seinen Augen spiegelte wieder, wie er sich gerade fühlte. „Über mich.“

 

„Über dich? Ich versteh´ nicht. Was soll das?“

 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Franks Eltern betraten zu seinem grenzenlosen Entsetzen den Raum. Oh, nein, dachte er und verdrehte die Augen. Nicht ausgerechnet jetzt. Das darf doch nicht wahr sein. Bitte nicht!

 

Doch es war bereits zu spät.

53. Kapitel - Stunde der Wahrheit

Als die Tür aufging, hatte Toni sich automatisch umgedreht. Sie befürchtete, dass die Krankenschwester sie jetzt unwiderruflich hinauswerfen würde und hatte schon eine Ausrede auf den Lippen. Doch es waren zwei ihr unbekannte Personen, die jetzt ganz selbstverständlich das Krankenzimmer betraten. Eine Frau und ein Mann, beide mittleren Alters und sehr gepflegt. Ihre Kleidung drückte zwar schlichte Eleganz aus, doch Toni erkannte auf den ersten Blick, dass das Kostüm der Frau sehr teuer gewesen sein musste.

 

Zuerst glaubte sie noch, die beiden hätten sich im Raum geirrt, doch als die Frau strahlend und mit ausgestreckten Händen direkt auf sie zukam, schwante ihr, dass die Anwesenheit der beiden in diesem Raum sehr wohl ihren Grund hatte. Vielleicht handelte es sich ja um Trixies Mutter und ihren neuen Freund? Ja, genau, das musste es sein. Erleichtert darüber, dass ihr eine plausible Begründung für die Anwesenheit des Paares in diesem Zimmer eingefallen war, warf sie einen schnellen Seitenblick auf das Bett, um festzustellen, ob Frank diese Leute kannte. Dessen Gesicht drückte allerdings pures Entsetzen aus und prompt geriet Tonis gerade gewonnene Überzeugung wieder ins Wanken.

 

Für weitere Überlegungen blieb ihr jedoch keine Zeit mehr, denn die elegante, südländisch wirkende Frau griff überschwänglich nach ihren Händen. „Du musst Toni sein. Ich freue mich ja so, dich endlich kennenzulernen. Ich habe seit gestern so viel über dich gehört.“

 

Zunehmend verwirrt blickte Toni von der Frau wieder zu Frank. Was hatte das alles zu bedeuten?

 

„Oh, nein“, sprach die Frau schnell weiter. Sie hatte einen klitzekleinen Akzent, wie Toni am Rande bemerkte. Vielleicht Italienerin? Oder Spanierin? „Nicht von Frank. Mein Sohn gibt bei so etwas gerne den Geheimniskrämer. So war er schon immer! Schwester Maria und Dr. Becker haben uns alles erzählt. Gott, wir sind dir und deinem Bruder ja so dankbar. Ihr müsst uns unbedingt im Hotel besuchen kommen. Bald! Ach, was rede ich denn da: Wenn dein Vater erst für uns arbeitet, werden wir uns ja bestimmt sowieso häufiger sehen, nicht wahr?“

 

Sohn? Hotel? Und was hatte ihr Vater mit der ganzen Sache zu tun?

 

Just in diesem Moment fiel Toni Schwester Marias Bemerkung wieder ein: „… ist an der Zeit, die Eltern zu informieren“ Am Abend der Katastrophe hatte sie noch geglaubt, dass die Nonne im allgemeinen Chaos einfach etwas durcheinander gebracht hatte, doch jetzt ergab plötzlich alles einen Sinn. Als Toni langsam zu begreifen begann, hatte sie das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Ihre Welt begann sich zu drehen. Erst ganz langsam und behäbig, dann, als sich Stück für Stück ins Puzzle fügte, immer schneller und schneller, bis sie schließlich lautlos zerbrach.

 

Ungläubig, schier fassungslos starrte sie auf Frank, als erwartete sie, umgehend eine Gegendarstellung von ihm zu hören. Doch er erwiderte ihren Blick nicht minder entsetzt und sagte kein Wort.

 

„Du sagst ja gar nichts“, wunderte sich die fremde Frau.

 

Franks Mutter, rief Toni sich ins Gedächtnis.

 

„Vielleicht solltest du sie einfach mal zu Wort kommen lassen“, meinte nun der Mann an ihrer Seite trocken. Franks Vater?

 

Toni blickte ihn an. Könnte sein, der Mann verfügte offenbar über den gleichen, leicht zynischen Humor wie Frank. Sagte man das so? Oder musste man das nicht eher umgekehrt ausdrücken. Egal! Es war egal! Alles war mit einem Mal egal! Toni bewegte sich wie in Zeitlupe wieder zwei, drei Schritte auf Franks Bett zu.

 

„Toni“, flüsterte er tonlos, hob hilflos die Arme, nur um sie gleich darauf wieder auf die Bettdecke fallen zu lassen. „Glaub mir, ich …“

 

Weiter kam er nicht. Toni holte wortlos und ohne Vorwarnung aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

 

„Wow“, murmelte Herr Baumann wider Willen beeindruckt.

 

„Um Himmels Willen, was …“, fing Frau Baumann an, doch Frank unterbrach seine Mutter schon im Ansatz.

 

„Mama, bitte. Sei still.“ Automatisch fuhr er mit der Hand an seine brennende Wange und betastete die Stelle vorsichtig. „Okay ich schätze, das hab´ ich verdient. Und? Wie geht´s jetzt weiter?“

 

Toni holte erneut aus, doch dieses Mal wehrte Frank die kommende Ohrfeige rektionsschnell ab, indem er ihr Handgelenk packte und mit sanfter Gewalt nach unten zwang. „Nein“, sagte er dazu leise, aber bestimmt und ignorierte das schmerzhafte Aufbäumen seiner Rippen, die mit seiner plötzlichen, ruckartigen Bewegung überhaupt nicht einverstanden waren. „So nicht. Ehrlich, Toni, ich …“

 

Brüsk schüttelte Toni seine Hand mit einer einzigen schnellen Bewegung ab und stand nun mit hängenden Armen vor dem Bett. „Ehrlich? Du sprichst von Ehrlichkeit“, fauchte sie. „Ausgerechnet du?“ In ihren Augen schwammen Tränen, doch ihre Stimme klang überraschend fest. „Findest du das nicht selber ein wenig lächerlich?“

 

„Lass uns reden, Toni. Bitte. Ich weiß, du bist sauer. Natürlich bist du sauer. Damit habe ich gerechnet, aber ich wollte dir doch gerade alles sagen. Wir müssen…“

 

„Nein!“ Tonis scharfe Unterbrechung klang fast wie ein Schrei. „Es gibt kein `Wir´. Wir …“ Sie bemerkte, dass sie die Kontrolle über ihre Stimme verlor, unterbrach sich, holte einmal tief Luft und schluckte heftig. Nein, sie wollte und sie würde jetzt hier garantiert nicht in Tränen ausbrechen. „… wir müssen gar nichts mehr“, schleuderte sie Frank dann noch entgegen, wirbelte herum und musterte seine Mutter aus blitzenden Augen. „Wissen Sie, für einen Geist sehen Sie gar nicht mal so schlecht aus. – Es … es tut mir leid.“ Danach flüchtete sie fast rennend aus dem Krankenzimmer.

 

Mit einem vernehmlichen Knall fiel die Tür hinter Toni ins Schloss. Das laute Klappern ihrer Absätze, das selbst durch die geschlossene Tür noch ins Zimmer drang, ließ vermuten, dass das Mädchen ihr Tempo beim Verlassen des Krankenhauses beibehielt. Nach einem peinlichen Moment des Schweigens fragte Frau Baumann schließlich verwirrt:

 

„Was sollte das denn? Wieso schlägt sie dich? Und wie hat sie das gemeint – ich sei ein Geist?“

 

„Ich hab´ Scheiße gebaut, Mama.“ Frank seufzte tief und registrierte frustriert die unheimliche Leere, die sich in seinem Inneren breit machte. „Wirklich große Scheiße.“

 

„Na, das ist ja mal was ganz Neues“, meinte sein Vater trocken. „Was ist es denn dieses Mal? Und komm´ mir bloß nicht wieder auf die Idee, ausweichen zu wollen. Ich will jetzt endgültig alles wissen. Das war Antonia Schiffer, nicht wahr? Ich will vor allen Dingen, dass du mir etwas über diese Familie erzählst – du scheinst sie ja gut zu kennen. Ich muss wissen, worauf ich mich mit diesen Schiffers einlasse. Die Familie scheint mir ja recht … impulsiv zu sein. “

 

„Keine Sorge, Papa. Der Deal mit Herrn Schiffer wird dein großer Wurf. Glaub´ es einfach.“

 

„Was weißt du denn darüber?“, fragte Herr Baumann nun verwundert. „Ich dachte, das Ganze war eine Idee von Markus?“

 

Wieder seufzte Frank. Alles hatte Becker seinen Eltern offensichtlich doch noch nicht erzählt. Aber auch wenn das verdammte Feuer nun auf einen Schlag alle seine so sorgfältig gesponnenen Pläne zerstört hatte ... jetzt gab´ es kein Zurück mehr. Er durfte nicht zulassen, dass noch mehr kaputtging, als es sowieso schon geschehen war. „Okay“, sagte er und ließ sich schwer zurück in die Kissen sinken. „Ich hoffe, ihr habt ein bisschen Zeit mitgebracht. Vielleicht ist es ja wirklich das Beste, wenn ich euch alles von Anfang an erzähle. Ist ja jetzt eh´ schon alles egal.“

 

Herr Baumann griff nach einem Stuhl, setzte sich rittlings darauf und bedeutete seiner Frau mit einer Kopfbewegung, sich auch hinzusetzen. „Wir sind ganz Ohr“, verkündete er dann und nickte seinem Sohn ermutigend zu. „Ich bin gespannt. Und ja, wir haben Zeit. Viel Zeit.“

 

54. Kapitel - Alltag - ca. 6 Wochen später

Mehrere Wochen nach dem dramatischen Feuer im Altenheim hatte sich die allgemeine Lage wieder etwas beruhigt. Weihnachten und Silvester waren eher unspektakulär über die Bühne gegangen. Allerdings war es bei Schiffers nicht ganz so traurig und trostlos zugegangen wie in den Jahren zuvor.

 

Herr Schiffer hatte Wort gehalten und legte sich mächtig ins Zeug. Er trank tatsächlich seit einigen Wochen keinen Tropfen Alkohol mehr. Da es durchaus Tage gab, an denen es ihm schwerfiel stark zu bleiben, hatte er sich zur Sicherheit einer Therapiegruppe angeschlossen, die er einmal pro Woche aufsuchte. Sein Klavierspiel half ihm zusätzlich. Er übte jeden Tag mehrere Stunden und entwickelte einen gesunden Ehrgeiz. Er allein wusste, dass sein Spiel noch lange nicht wieder perfekt war, auch wenn es sich für Außenstehende vielleicht schon so anhören mochte. Seine älteren Kinder stellten aber erfreut fest, dass der alte Perfektionismus ihres Vaters wieder da war. Ungebrochen, so als wäre er ihm nie abhanden gekommen. Nebenbei gab er Andi und Lukas und einigen anderen Kindern noch geduldig Klavierunterricht. Das Beste an allem jedoch war, dass er dadurch schon jetzt wieder etwas Geld verdiente. Und das, obwohl die Piano Bar noch gar nicht eröffnet hatte.

 

Das Treffen und die Verhandlungen zwischen Herrn Baumann und Herrn Schiffer waren mehr als fantastisch gelaufen. Markus Becker war bei den ersten beiden Terminen dabei gewesen, doch im Grunde wäre seine Anwesenheit gar nicht nötig gewesen. Die beiden Männer hatten sich auf Anhieb sehr gut verstanden und da Herr Baumann auf gar keinen Fall das Risiko eingehen wollte, dass Tonis Vater sich womöglich noch anderweitig orientierte, hatte er dafür gesorgt, dass der Vertrag so schnell wie möglich in trockene Tücher kam. So zählte Herr Schiffer auch jetzt schon, während die Umbauarbeiten noch in vollem Gange waren, zu den Angestellten der Familie Baumann und bezog zusätzlich noch ein kleines Gehalt, selbst wenn er noch gar nicht für Baumanns spielte.

 

Dank gut dosierter und cleverer Promotion hatte es sich in den entsprechenden Kreisen wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass Heinrich Schiffers Rückkehr auf die Bühne nach mehr als zwei Jahren in der Versenkung unmittelbar bevorstand. Die Hotelrezeption der Baumanns konnte sich vor Reservierungsanfragen kaum noch retten und schon jetzt stand fest, dass die Piano-Bar in den ersten eineinhalb Monaten komplett vorreserviert und ausgebucht war. So rechneten sich die „Sicherheitsausgaben“ von Franks Vater auf jeden Fall und er sah es als Geschäftsmann einfach als eine gute Anlage.

 

Mike arbeitete immer noch auf dem Bau, schon allein, weil es der Familie gut tat, sich finanziell etwas erholen zu können, doch für das nächste Studienjahr hatte er sich um einen Platz an der Musikhochschule in Köln beworben und die Zusage lag ihm bereits vor. Die schwierige Aufnahmeprüfung hatte er mit links bestanden und nach dem Sommer, wenn sein erstes Semester begann, würde er nur noch aushilfsweise und in den Semesterferien, wenn er nach Hause kam, für seinen alten Arbeitgeber jobben. So hatte er es zumindest geplant.

 

Toni freute sich sehr für ihren Bruder, auch wenn sie es bedauerte, dass Mike zugunsten seines Traumes nun bald zu Hause ausziehen und nur noch selten daheim sein würde. Nur eines trübte ihre Freude ein wenig. Mike verbrachte neuerdings seine Freizeit neben der Band sehr gerne häufig auch mit Frank. Die Freundschaft der beiden intensivierte sich zu ihrem Leidwesen immer mehr. Auch Roman schloss sich den beiden des Öfteren an und wenn die Band an den Wochenenden keine Auftritte hatte, unternahmen die drei oftmals etwas zusammen. Wenn allerdings Auftritte mit der Band anstanden, dann hielt Frank sich geflissentlich zurück und ließ sich nicht sehen, wofür sie ihm im Stillen sehr dankbar war.

 

Toni hatte in den letzten Wochen zunehmend den Eindruck gewonnen, dass sie die Einzige war, die nicht wirklich von der neuen Situation profitierte. Sicher, ihr Vater hatte eine Haushaltshilfe eingestellt, die sich auch um die Kleinen kümmerte und Toni dadurch sehr entlastete, doch sie konnte die zusätzliche Freizeit einfach nicht genießen. So kam es ihr zugute, dass sie durch den Brand im Altenheim auf der Arbeit zurzeit noch mehr gefordert war als sonst. Während die Aufräum-, Instandsetzungs- und Renovierungsarbeiten andauerten, war das Heim noch längst nicht wieder in allen Bereichen nutzbar. Einige Bewohner hatten für die Dauer der Arbeiten ausquartiert werden müssen und waren vorübergehend in andere Heime verlegt worden. Schwester Maria legte jedoch großen Wert darauf, dass sie trotzdem, zumindest zeitweise, von ihren gewohnten Betreuern versorgt wurden und so pendelten Toni und ihre Kollegen immer wieder zwischen den verschiedenen Arbeitsstätten hin und her.

 

Ihre Ausbildung lief derweil fast nebenbei weiter, was bedeutete, dass sie, neben den normal anfallenden und den Extra-Arbeiten im Heim, zusätzlich die ausquartierten Patienten und natürlich auch die Schule besuchen musste. Bei allem, was mit dem Heim zu tun hatte, tat sie deutlich mehr, als sie musste und nebenher lernte sie, was das Zeug hielt, damit sie die Chance auf eine Verkürzung ihrer Ausbildungsdauer auf jeden Fall wahrte. Doch in den wenigen ruhigen Momenten, die sie sich gönnte, musste sie vor sich selbst zugeben, dass es sich bei ihrem momentanen Zeitdefizit um hausgemachten Stress handelte. Sie überhäufte sich selber mit Aktivitäten und Terminen; alles nur, um nicht zuviel zum Nachdenken zu kommen.

 

Frank war sie seit ihrem Besuch im Krankenhaus nicht mehr begegnet, und sie redete sich selber ein, dass sie froh darüber war. Er hatte seitdem ein paar Mal versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen, doch sie hatte sich jedes Mal, wenn er angerufen und nach ihr gefragt hatte, verleugnen lassen. Etliche Versuche auf ihrem Handy, ignorierte sie indem sie die ankommenden Gespräche wegdrückte und ihm so die Möglichkeit nahm, seine Lügen auf ihre Mail-Box zu texten. Einmal hatte er sogar die Frechheit besessen, bei Schiffers zu Hause aufzukreuzen. Sie hatte es knapp geschafft, rechtzeitig in ihr Zimmer zu flüchten, und so eine persönliche Begegnung gerade noch vermeiden können. Frank hatte daraufhin sage und schreibe zweieinhalb Stunden mit Mike in der Küche gehockt und dabei, wie Mike ihr später hochgradig vorwurfsvoll erzählt hatte, die ganze Zeit über gehofft, dass sie sich doch noch zu einem Gespräch erweichen ließe. Doch darauf konnte er lange warten. Nicht mit ihr!

 

Seine Päckchen zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten hatte sie ungeöffnet zurückgehen lassen und allmählich schien es so, als hätte er es endlich aufgegeben ihr nachzustellen. Toni war nicht stolz auf ihr Verhalten und es tat ihr weh, denn sie vermisste Frank in vielerlei Hinsicht. Aber es war das kleinere Übel. Es würde ihr noch viel mehr zusetzen, so zu tun, als sei nichts gewesen und ihm dadurch immer wieder begegnen zu müssen. Sie hatte noch lebhaft in Erinnerung, wie sie sich gefühlt hatte, nachdem Paul sich damals von ihr getrennt hatte und sie weiter in der Band zusammen spielten. Zu Anfang war jede Probe, jeder Auftritt für sie zur Tortour geworden und es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sich dieses Gefühl gebessert hatte und sie wieder einigermaßen normal miteinander umgehen konnten. Eine solch emotionale Achterbahn wollte sie nicht noch einmal durchleben.

 

Bei Frank kam zusätzlich erschwerend hinzu, dass sie ihm einfach nicht verzeihen konnte, dass er sie derartig angelogen hatte. Mike hatte ihr erzählt, dass Frank mit dem Gedanken spielte nach dem Abi im Sommer wahrscheinlich die Stadt zu verlassen. Er wollte sich um einen Ausbildungsplatz in einem Hotel in Süddeutschland bemühen. Toni versuchte sich einzureden, dass das gut war. Irgendwann würde sie schon über ihn hinwegkommen, und wenn sie dabei nicht permanent aufpassen musste, ihm zu begegnen, konnte das für sie nur hilfreich sein. Bis es soweit war, würde sie einfach weitermachen wie bisher und versuchen, ihm so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.

 

Toni stand in ihrem Zimmer am Fenster und starrte nachdenklich in die Dunkelheit hinaus. Der Termin für die Eröffnung der Piano-Bar stand fest – in zwei Wochen war es soweit. Das würde mit Sicherheit noch einmal ein richtig harter Abend für sie werden, auch wenn sie sich nach langer und reiflicher Überlegung dazu entschieden hatte, nicht an der Veranstaltung teilzunehmen. Ihr Vater war zunächst sehr enttäuscht über ihre Entscheidung gewesen, doch schließlich hatte er sie akzeptieren müssen. Verdammt noch mal, alle hatten auf sie eingeredet, wie auf ein krankes Pferd, doch ihr Entschluss stand fest. Ihr Plan war gewesen, sich mit Arbeit abzulenken und so hatte sie sich freiwillig dazu bereit erklärt, einen Abenddienst zu übernehmen. Sie hatte die Rechnung allerdings ohne Schwester Maria gemacht, die ihr einen dicken Strich durch ihre Planung gemacht hatte, indem sie kategorisch darauf bestanden hatte, dass Toni selbstverständlich frei hatte. Nun gut, dann würde sie den freien Abend eben zum Lernen nutzen. Es konnte sie schließlich niemand dazu zwingen, an dieser verdammten Eröffnung teilzunehmen. In einem Punkt machte sie sich aber nichts vor: Es würde die Hölle für sie werden, alleine daheim rumzusitzen, während ihre komplette Familie und auch ihre Freunde dabei wären, wenn ihr Vater den Weg auf die Bühne – und zurück in die Öffentlichkeit – wagte.

 

Ein tiefer Seufzer kam aus Tonis Kehle. Tief in ihrem Inneren wusste sie natürlich sehr gut, dass sie auf dem besten Wege war, sich zu verrennen, doch sie kam einfach nicht gegen ihre Überzeugungen und Ängste an. Es war so verdammt schwer. Allein, wenn sie sich vorstellte, dass alle dabei sein würden. Nicht nur ihre Geschwister und natürlich die Baumanns, nein, auch Dr. Becker war selbstverständlich eingeladen. Ebenso wie Schwester Maria und Roman. Richter Dohmen und seine Tochter hatten ihre Teilnahme ebenfalls schon zugesagt. Es war geplant, eventuell sogar Frau Schneider dazuzuholen, wenn deren Gesundheitszustand es zuließ. Ihr Vater fieberte seinem ersten Bühnenauftritt mittlerweile regelrecht entgegen und konnte es kaum noch erwarten. Nur sie, ausgerechnet sie würde fehlen. Wenn Toni daran dachte, wurde sie wieder schwermütig und hätte heulen können, doch sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut.

 

„Kannst du nicht, oder willst du nicht, du dumme Ziege?“, fragte sie sich selber leise und blinzelte die aufsteigenden Tränen weg.

 

55. Kapitel - Ein neuerlicher Tiefschlag

Leicht deprimiert – wie eigentlich immer in der letzten Zeit – betrat Toni das Altenheim im Süden der Stadt, wo Frau Schneider vorübergehend einen Pflegeplatz gefunden hatte. Die Busfahrt war mal wieder viel zu lang gewesen und dadurch hatte sie eine Menge Zeit zum Nachdenken gehabt. Nun hoffte sie, dass wenigstens die alte Dame heute Ruhe geben und ihr nicht wieder zusetzen würde Auch sie hatte in den vergangenen Wochen nämlich immer wieder versucht, Toni ihr Vorhaben auszureden, doch sie war, wie alle anderen, kläglich gescheitert.

 

Die Tür zu Frau Schneiders Zimmer war nur angelehnt und leise Stimmen klangen auf den Flur hinaus. Toni stutzte und blieb abwartend neben der Tür stehen. Einer fremden Kollegin wollte sie lieber nicht ins Gehege kommen. Sie horchte. Anscheinend befand sich ein männlicher Pfleger bei Frau Schneider. Die Stimme kam Toni irgendwie bekannt vor und sie konzentrierte sich. Roman? Nein, das konnte nicht sein – schließlich gab es seit kurzem einen Extra-Dienstplan, der Schwester Marias Mitarbeiter so auf die externen Patienten verteilte, dass nicht gleichzeitig mehrere von ihnen dort auftauchten. Toni konnte sich nicht vorstellen, dass Roman sich nicht an diese Vereinbarungen hielt. Aber womöglich hatte er ja etwas durcheinandergebracht. Oder sie? Plötzlich erstarrte Toni. Das war nicht Roman. Nein, es war Franks Stimme, die da gedämpft durch die angelehnte Tür, an ihr Ohr drang. Verdammt, was machte der denn hier? Woher wusste er überhaupt, wo Frau Schneider untergebracht war? Blöde Frage, von Roman natürlich, gab sie sich gleich darauf selber die Antwort auf ihre Frage. Toni ging näher ran und legte ungeniert neugierig ihr Ohr an die Tür.

 

„Hat Toni es sich immer noch nicht anders überlegt, Junge?“

 

„Nein“, hörte sie Franks tiefe Stimme. „Ich schätze, das wird sie auch nicht mehr. Der Zug ist wohl abgefahren.“

 

„Das klingt ja fast so, als hättest du dich damit abgefunden?“

 

„Ich kann´s nicht ändern. Ehrlich, ich habe getan, was ich tun konnte. Ich werde wegen dieser Frau nicht zum Stalker mutieren.

 

„Was?“

 

„Vergessen Sie´s, ist nicht so wichtig. Haben Sie denn eigentlich schon mit Toni gesprochen?“

 

„Nein.“ Frau Schneiders Stimme zitterte zu Tonis Überraschung etwas. Was hatte denn das nun wieder zu bedeuten?

 

„Aber, Frau Schneider, das wollten Sie doch. Im Ernst, wenn Sie es von jemand anderem erfährt, möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken“, antwortete Frank und klang merkwürdig ernst. „Ich spreche da aus leidvoller Erfahrung, wie Sie wissen.“

 

„Ja, aber bei mir sieht es anders aus. Du bist der Einzige, der Bescheid weiß … und du hast doch mit niemandem darüber gesprochen, oder?“

 

„Nein, das habe ich nicht.“ Frank machte eine Pause, bevor er weiter redete. „Ich finde nur … Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren.“

 

Genau, was auch immer es ist. Spucks aus, dachte Toni neugierig und klebte förmlich mit ihrem Ohr an der Tür. Schlimmer kann es eh nicht mehr werden. Na los, mich wirft garantiert nichts mehr um. Ihr braucht keine Rücksicht zu nehmen.

 

„Ja, ich wollte es ihr ja auch sagen, aber nachdem was ich jetzt von dir weiß, habe ich mich erst recht nicht mehr getraut. Sie wird sicherlich fürchterlich böse auf mich sein.“

 

Frank seufzte. Die alte Dame rührte ihn an und er würde ihr so gerne helfen, aber in diesem Fall ging das nicht. „Es ist Ihre Entscheidung, Frau Schneider. Ich bin nur froh, dass Toni mich noch nicht kannte, als Sie diese fatale Entscheidung getroffen haben. Sonst würde sie mir das garantiert auch noch anhängen. Obwohl, darauf käme es jetzt auch schon nicht mehr an.“

 

Oh ja, dachte Toni vor der Tür bitter. Was bin ich doch für eine Hexe.

 

„Wenn Toni erfährt, dass ich es war, die ihr diese ganzen Schwierigkeiten eingebrockt hat, dann wird sie mir das nie verzeihen.“

 

Ungläubig vernahm Toni die zittrig gesprochenen Worte der alten Dame, schwankte vor Überraschung leicht und wäre fast gegen die Tür gefallen.

 

„Doch, ich bin sicher, das wird sie. Sie müssen ihr nur erklären, warum Sie es getan haben. Sie hatten doch nichts  Böses im Sinn.“ Franks Stimme klang tröstend. „Sie wollten Toni doch nur helfen und haben nicht geahnt, was für eine Lawine Sie damit lostreten.“

 

„Nein, ganz bestimmt nicht. Ich liebe Toni, als wäre sie mein eigenes Enkelkind.“

 

„Ich weiß ja. Und genau das müssen Sie ihr sagen. Ich kann Ihnen nur raten, warten Sie nicht zu lange damit. – Frau Schneider, es tut mir ehrlich leid, aber ich muss jetzt gehen.“

 

Was? Nein! Wie konnte Frank jetzt gehen wollen? Scheiße, sie musste weg hier, und zwar auf der Stelle!

 

„Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“

 

Panisch blickte Toni zur Seite. Eine hilfsbereite Krankenschwester stand neben ihr und guckte sie fragend an. Auch das noch!

 

„Nein, ich …“ Oh Gott, auch das noch. Hatten sich denn alle gegen sie verschworen? Toni gab sich einen Ruck. „Nein, danke, ich komme zurecht“, murmelte sie leise, während sie auf dem Absatz kehrt machte und mit schnellen Schritten den Gang entlang eilte. Bloß jetzt nicht umdrehen. Nichts wie weg hier!

 

**********

 

Die Krankenschwester hatte unterdessen Frau Schneiders Zimmer betreten. In den Händen belancierte sie ein Tablett. „Hallo“, begrüßte sie ihre Patientin und Frank. „Zeit für Ihre Medikamente.“

 

„Was war denn da vor der Tür los?“, erkundigte sich Frau Schneider neugierig.

 

„Wie bitte? Ach das. Da war nur ein junges Mädchen, das sich in der Tür geirrt hatte“, gab die Krankenschwester abwesend Auskunft, während sie auf ihre Armbanduhr blickte, als sie der alten Dame den Puls maß.

 

Frank horchte auf und drehte sich um. „Rothaarig?“

 

„Ja“, antwortete die Krankenschwester verblüfft und blickte auf. „Woher wissen Sie …“

 

„Mist.“, stieß Frank hervor. „Frau Schneider …“

 

„Geh ruhig“, unterbrach Frau Schneider ihn. „Schnell, nun mach schon. Beeil dich.“

 

Frank griff bereits nach seiner Jacke. „Danke.“

 

„Ich halte die Daumen. Und Frank … falls sie etwas gehört hat, sag ihr bitte, es tut mir leid.“

 

Er hob eine Hand zum Abschied. „Mach ich.“

 

56. Kapitel - Total- oder doch nur Kollateralschaden?

Frank stürzte aus dem Zimmer und blickte sich hektisch um. Toni war schon fast am Ende des langen Flures angelangt. Gleich hatte sie den Aufzug erreicht und sollte die Kabine zufällig in diesem Stockwerk auf neue Passagiere warten, dann … Frank überlegte nicht lange und spurtete ihr eilends hinterher. Dieses Mal würde er nicht zulassen, dass sie sich ihm entzog. Nein, dieses Mal verdammt noch mal nicht! Unmittelbar vor dem Aufzug holte er sie ein und stoppte unmittelbar neben ihr. Toni betätigte den Knopf und tat so, als wäre er unsichtbar.

 

„Toni, rede mit mir“, bat er leise. „Bitte.“

 

Frank griff nach Tonis Hand, doch die wich abrupt vor ihm zurück und hob abwehrend beide Hände. „Fass mich nicht an!“

 

„Okay, okay.“ Frank zog seine Hand zurück. „Aber bitte, sprich mit mir.“

 

„Ich wüsste nicht, was es zwischen uns noch zu bereden gäbe“, fauchte Toni böse. „Du hast mich verarscht, und ich war naiv genug darauf hereinzufallen. Glückwunsch. Das hast du wirklich sehr gut hingekriegt. Clever. Aber nachdem, was ich eben mitbekommen habe, gelingt das ja auch noch anderen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Mein Fehler! Blödheit muss eben bestraft werden.“

 

„Du hast es also gehört? Ich meine, was Frau Schneider getan hat.“

 

„Ja, habe ich. Ehrlich, man könnte fast meinen, sie sei bei dir in die Lehre gegangen.“

 

Frank spürte den Stich. Toni legte es darauf an, ihn zu verletzen und wenn er ehrlich war, sie schaffte es geradezu spielend. Er versuchte den Schmerz auszublenden, denn hier ging es jetzt nicht um ihn. „Frau Schneider macht sich die allergrößten Vorwürfe. Nimm es ihr bitte nicht übel. Sie wollte nur das Beste für dich und ganz sicher wollte sie nicht, dass das solche Kreise zieht.“

 

„Das glaube ich ihr sogar“, sagte Toni nach einer Pause, während sie unverwandt die Aufzugtüren anstarrte. „Du kannst ihr von mir ausrichten, dass ich es ihr nicht übel nehme.“

 

„Willst du ihr das nicht lieber selber sagen?“, fragte Frank sanft. „Es würde ihr sicher viel bedeuten.“

 

„Ein anderes Mal vielleicht. Jetzt muss ich weg. Wo bleibt bloß dieser verdammte Aufzug. Ah, endlich.“ Ein leises `Pling´ ertönte und die Aufzugtüren fuhren auf. Leider war die Kabine mit Ärzten, Schwestern und einem Krankenhausbett voll belegt. „Mist“, fluchte Toni. Mit einem Seitenblick stellte sie fest, dass der zweite Fahrstuhl außer Betrieb war und ihr nichts anderes übrig blieb, als weiter zu warten. „Oh, Scheiße – muss das sein?“

 

Frank witterte seine Chance. „Was mich angeht … ich kann nur sagen, da irrst du dich“, sagte er leise. „So war es nicht. Toni, ich schwöre, ich hab´ dich nicht verarscht.“

 

„Ach nein? Wie war es dann? Nee, lass stecken“, sagte sie schnell, als Frank Luft holte, um ihr zu antworten. „Ich will es gar nicht wissen. Null Interesse. War `ne rhetorische Frage.“

 

Frank kümmerte sich nicht um ihre Worte. Er war im Augenblick nur froh, dass sie nicht umgehend vor ihm ins Treppenhaus flüchtete. „Am Anfang, ich meine, ganz am Anfang, als ich zu euch ins Heim kam, da war es vielleicht ein bisschen so, wie du glaubst. Ich wollte meine Bewährung nicht vergeigen und ja, da war ich vielleicht nur auf meinen Vorteil bedacht. Ich wollte dir gefallen. Aber dann lernte ich dich näher kennen und du hast mich … verdammt, du warst so unheimlich beeindruckend. Von da an wollte ich dir erst recht gefallen und ab da hatte es dann auch schon nichts mehr mit meiner Bewährung zu tun. Aber du fingst an Fragen zu stellen. Eine Lüge kam zur anderen, weil … weil … Mann, ich wollte einfach nicht als Loser dastehen, verstehst du? Nicht vor dir. Ich dachte, wenn du erst mal weißt, dass es für all den Mist, den ich gebaut habe eigentlich keinen Grund und noch weniger eine Entschuldigung gibt, hältst du mich für den Arsch der Nation. Also habe ich gelogen. Nicht in allem, was ich sagte, aber in vielem. Mir war schon klar, dass ich damit nicht ewig durchkommen würde und ab einem gewissen Zeitpunkt wollte ich dir ja auch die Wahrheit sagen, aber irgendwie ist mir dann alles aus den Fingern geglitten. Der Ärger mit Nick und der Clique. Die Arbeit und dann noch die Vorbereitungen für die Weihnachtsfeier. Außerdem noch die Tatsache, dass wir uns immer näher kamen. Und Trixie – ich konnte sie doch nicht einfach hängenlassen … erst ist mir alles über den Kopf gewachsen und dann irgendwann total außer Kontrolle geraten. Toni, bitte. Versuch doch wenigstens mich zu verstehen. Das soll keine Entschuldigung sein, aber es kam einfach alles zusammen.“

 

„Verstehe. Immer ungünstige Zeitpunkte, richtig?“

 

„Genau.“ Frank nickte erleichtert. Vielleicht bestand ja doch noch eine Chance. „Es war einfach nie der richtige Zeitpunkt. Aber ich wollte mit dir reden … eigentlich ja auch unbedingt, bevor … du weißt schon, bevor wie uns noch näher kommen. Doch dann konnte ich einfach nicht widerstehen. An dem Abend als das mit Trixie passiert ist. Du hast dich da so großartig verhalten. Und dann auf der Weihnachtsfeier, als Frau Schneider das mit dem Mistelzweig bemerkte, da …“

 

„… da konntest du wohl wieder nicht widerstehen?“

 

„Ja, genau – du sahst du süß aus in dem Moment und ich …“

 

„Bist du jetzt fertig?“, unterbrach Toni ihn schneidend. „Das ist ja wirklich eine rührende Geschichte, aber leider, leider … meine Zeit ist begrenzt. Vielleicht findest du ja jemand anderen, den du zutexten kannst – ich wünsch´ dir auf jeden Fall viel Glück bei der Suche. Vielleicht versuchst du es ja mal bei Frau Schneider – ich meine, ihr seid ja eh schon so dicke Freunde geworden – da hört sie dir doch bestimmt gerne zu.“

 

Toni versuchte an Frank vorbei zur Treppenhaustür zu kommen, doch Frank drückte sie mit dem Rücken gegen die Wand und versperrte ihr den Weg, indem er sich mit beiden Armen seitlich von ihrem Kopf an der Wand abstützte. Mit zu Schlitzen verengten Augen schaute er auf Toni hinunter. Die verwunderten Blicke einiger vorbeikommender Besucher ignorierte er tapfer.

 

„Tu das nicht“, bat er äußerlich ruhig, doch er hatte Angst, dass sie sein Herz klopfen hörte – so laut wie es gegen seine Brust schlug. „Tu bitte nicht so, als ginge dich das Ganze nichts an, denn so ist es nicht.“  

 

Toni wich seinen forschenden Blicken aus und starrte auf den Boden.

 

„So ist es ganz und gar nicht, und ich denke, das weißt du sehr genau. Toni, ich bitte dich um Entschuldigung. Verzeih mir und lass uns ganz neu anfangen – gib dir einen Ruck und lass es uns versuchen. Aus uns könnte was werden, da bin ich mir sicher. Vielleicht sogar etwas ganz Besonderes.“

 

Toni klaubte all ihren Mut zusammen und blickte ihm gerade in die Augen. „Kann ich jetzt gehen?“, fragte sie gepresst. „Ansonsten wäre das nämlich Freiheitsberaubung. Ich fühle mich von dir bedroht. Ich könnte dich anzeigen. Die restlichen Sozialstunden haben sie dir ja wegen deiner Heldentat schon erlassen. Ich habe aber gehört, der Rest deiner Strafe steht aber noch zur Debatte. Was würde wohl bei einer Anzeige geschehen? Mit deiner Vorgeschichte? Hm, schwierig. Wer weiß schon, wie die bei der Polizei ticken?“

 

„Das würdest du nicht tun“, zischte Frank und spürte, wie ihm schlecht wurde. Das Gespräch lief völlig aus dem Ruder. So hatte er sich das Ganze nicht vorgestellt.

 

Tonis Augen blitzten wütend auf. „Ach nein? Glaubst du? Sei dir da mal nicht zu sicher.“

 

Frank stieß sich von der Wand ab und ging wütend im Gang auf und ab. Entgegen ihrer Behauptung gehen zu wollen, blieb Toni aber wie angetackert an der Wand stehen und beobachtete ihn stumm.

 

„Woher nimmst du nur diese verdammte Selbstgerechtigkeit? Ich weiß, du bemühst dich immer perfekt zu sein, aber du bist auch keine Maschine, Toni. Du machst Fehler – genau wie wir alle.  Du wirfst mir vor, dass ich nicht mit dir geredet habe. Bitte, ja, ich geb´s zu, das war ein Fehler, Okay, aber wenn du ehrlich bist, hättest du von selber darauf kommen können, dass an meiner Geschichte etwas nicht stimmt. Es gab genügend Hinweise, die du aber offensichtlich nicht sehen wolltest.“

 

„Ach, interessant! Nun bin ich also selber schuld dran, dass du mich die ganze Zeit über angelogen hast. Hey, ich hab´ dir sogar mal gesagt, dass alles, was ich verlange, nur die Wahrheit ist. Nicht mehr und nicht weniger. Und jetzt stehst du hier und behauptest, ich hätte deine Lügen provoziert, oder was?“

 

„Nein, ich wollte damit doch nur sagen … Ach, zum Teufel, ich weiß auch nicht. Toni bitte. Mach nicht alles kaputt. Ich weiß, dass du es auch spürst. Du weißt genauso gut wie ich, dass sich da etwas zwischen uns entwickelt hat.“ Frank blieb vor Toni stehen, holte tief Luft und musterte sie eingehend, bevor er leise fortfuhr. „Gib´s zu: Du hast Angst. Angst vor deinen Gefühlen – du verschanzt dich hinter einer Mauer, aber bitte, das kann es doch nicht sein. Lass die Trauer endlich zu. Deine Mutter ist tot. Sie wird nicht wiederkommen, egal wie sehr du dir deinen entzückenden Hintern aufreißt. Schlag dir aus dem Kopf, dass du Schuld daran hast. Das hast du nicht. Es war die Entscheidung deiner Eltern, an diesem Abend noch loszufahren. Es war ein Unglück, an dem du nicht die geringste Schuld trägst. Das Leben geht weiter, Toni und es besteht nicht nur aus Arbeit. Was versuchst du wieder gutzumachen? Du hast nichts gutzumachen, verdammt! Das Leben passiert, aber an dir läuft es vorbei. Es ist eine Schande! Lass es wieder zu! Nimm teil am Leben – geh Risiken ein. Das Leben besteht aus Risiken. Aber solange du dich und deine Gefühle nur hinter Arbeit versteckst, wirst du nicht glücklich werden. Nicht alle, die du liebst werden dich verlassen. Deine Mutter hatte keinen Einfluss darauf. Es war ein Unfall! Gut, Paul hat die Entscheidung selber getroffen, aber mein Gott, wir sind jung, so was passiert halt. Ich glaube, du weißt das sehr gut. Nachdem wir uns kennengelernt hatten, ich meine näher kennengelernt, warst du endlich drauf und dran, wieder ins Leben zurückzukehren und ein Risiko einzugehen. Aber dann nimmst du den geringsten Anlass, den ich dir blöderweise auch noch auf dem Silbertablett liefere, um dich sofort wieder im Nichts zu verschanzen. Willst du wirklich so weitermachen? Ja? Wie lange noch, Toni? Wie lange noch? Glaubst du, deine Mutter würde wollen, dass du wie ein Roboter lebst?“ Schwer atmend hielt Frank inne. Er hatte sich in Rage geredet und Sachen gesagt, die er eigentlich gar nicht hatte sagen wollen, aber nachdem er einmal in Fahrt geraten war, hatte er nicht mehr aufhören können. Er warf einen vorsichtigen Blick auf Toni und ahnte bereits, dass er endgültig verloren hatte – wieder einmal hatte er alles falsch gemacht!

 

„Es reicht! Lass meine Mutter aus dem Spiel! Und überhaupt, seit wann bist du unter die Psychologen gegangen?“, fragte Toni mit tränenerstickter Stimme. „Ich brauche keine Therapie. Von dir schon gar nicht.“ Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie Frank jetzt direkt ansah. „Meine Trauer und wie ich damit umgehe, das … das geht dich einen Scheißdreck an! Das ist allein meine Sache! Es ist mein Leben! Halt dich da gefälligst raus! Du hast nichts in meinem Leben zu suchen – es geht dicht nichts an! Habe ich mich klar ausgedrückt?!“

 

Frank zuckte zurück, als hätte er einen Schlag erhalten. „Du hast Recht.“ Er strich sich mit einer müden Geste die Haare zurück. „Ich hatte meine Chance und ich hab´ sie vergeigt. Okay, du hast gewonnen. Ich werde gehen und dich von jetzt an in Ruhe lassen. Trotzdem, danke für alles und viel Glück. Ohne dich … wenn ich dir nicht begegnet wäre … Ach was, vergiss es. “ Damit drehte er sich abrupt um und verschwand schnell im Treppenhaus. Toni sollte auf keinen Fall bemerken, dass auch er plötzlich mit den Tränen zu kämpfen hatte. Er hatte sich schon genug zum Affen gemacht. Es reichte!

 

Nachdem Toni einen verschwommenen letzten Blick auf Franks Rücken geworfen hatte, ließ sie sich mit dem Rücken an der Wand herunter rutschen und legte den Kopf auf ihre Knie. Dabei schluchzte sie hemmungslos in dem sicheren Bewusstsein, dass hier gerade etwas völlig aus dem Ruder gelaufen war. Aber komisch, war das nicht genau das, was sie gewollt hatte? Frank auch mal so richtig wehtun und ihn dann endgültig loswerden? Dumm nur, dass sie nicht annähernd damit gerechnet hatte, wie weh das auch ihr tun würde.

 

Nachdem Toni sich nach einigen Minuten wieder etwas beruhigt hatte, stand sie auf, putzte sich geräuschvoll die Nase und überlegte. Es war wohl an der Zeit, sich einmal in aller Ruhe mit Frau Schneider zu unterhalten.

 

57. Kapitel - Zukunftsweisende Entscheidungen

Zwei Wochen später war es soweit. Am Abend stand die große, lang erwartete Eröffnung der Piano-Bar an. Dank der Berichte in den Medien stand zu befürchten, dass es ein weitaus größeres Event werden würde, als im Vorfeld geplant. Mittlerweile hatte sich nicht nur die lokale Presse angesagt; sogar ein Fernsehteam hatte sich angekündigt, um Heinrich Schiffers ersten großen Auftritt in der Öffentlichkeit nach seiner langen Abstinenz in allen Einzelheiten aufzunehmen und zu dokumentieren. Noch am Vormittag wurden hektisch letzte Feinarbeiten durch die von Baumann beauftragten Handwerker ausgeführt, während die Fernsehleute parallel schon ihr Equipment aufbauten – Scheinwerfer wurden aufgehängt und ausgerichtet, Kameras aufgebaut, Mikrofone positioniert und Unmengen an Kabel verlegt. Auch in der Küche des Hotels tobte das Chaos, denn entgegen den ursprünglichen Planungen war quasi in letzter Minute entschieden worden, doch ein Buffet aufzufahren. Bei Franks Eltern lagen die Nerven blank und er selber konnte ihnen nicht zur Hand gehen, da er ausgerechnet an diesem Vormittag vor Gericht erscheinen musste, wo dann die endgültige Entscheidung darüber, ob man seine Reststrafe und somit auch seine Bewährung komplett aufheben, reduzieren, oder ob gegebenenfalls auch alles beim Alten bliebe, fallen würde.

 

Es war unerlässlich, dass Frank zusammen mit seinem Anwalt und seiner Bewährungshelferin unbedingt persönlich vor Gericht erscheinen musste – der Antrag, den Dr. Becker auf Verschiebung des Termins gestellt hatte, war rundweg abgeschmettert worden. Den Vorsitz führte ein ihm unbekannter Richter, da man Richter Dohmen aufgrund der Geschehnisse inzwischen Befangenheit unterstellte. Der allerdings hatte nicht vergessen, was Frank für seinen Vater riskiert hatte und er hatte ihm hoch und heilig versprochen, alles in seiner Macht stehende für ihn zu tun.

 

Frank sah dem Gerichtstermin gelassen entgegen, denn mittlerweile war es ihm tatsächlich relativ egal, wie die Entscheidung über seine Zukunft ausfiel. Wichtig war für ihn nur, dass ihm die restlichen Sozialstunden erlassen worden waren. Das war überraschend schnell und unbürokratisch per Schnellbeschluss bereits unmittelbar nach seiner dramatischen Rettungsaktion im Altenheim geschehen. Wohl auch aufgrund der zahlreichen nicht unerheblichen Verletzungen, die er dabei davongetragen hatte und die ihm immerhin einen fast zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt eingebracht hatten.  

 

Ganz besonders die letzte Begegnung mit Toni hatte Frank noch einmal in seiner Überzeugung bestärkt, dass er auf gar keinen Fall ins Altenheim zurückkehren würde. Er wusste genau, dass er es nicht verkraften würde, wieder mit ihr arbeiten zu müssen und womöglich woanders eingesetzt zu werden und wieder von vorne anzufangen … darauf hatte er erst recht keinen Bock. Gott sei Dank brauchte er sich darüber keine Sorgen mehr zu machen.

 

Genauso wenig, wie er sich über Nick und seine ehemalige Clique noch den Kopf zerbrechen musste. Dank seiner umfassenden Aussage im Krankenhaus hatte die Polizei das Lager in der Fabrik noch am gleichen Abend hochgenommen. Nick und einige seiner treuesten Gefährten saßen seit Wochen in Untersuchungshaft und so wie es momentan aussah, würden sie den Knast auch vorläufig nicht mehr verlassen. Das zu erwartende Strafmaß hatte sich für Nick außerdem erheblich dadurch verschärft, dass er die Nerven verloren und versucht hatte, sich seiner Verhaftung unter Zuhilfenahme eines Messers zu entziehen. Dabei hatte er es geschafft gleich zwei Polizeibeamte zu verletzen. Tja, blöd gelaufen. Das und die Tatsache, dass man in den zusätzlichen Verstecken, die Frank kannte und die er der Polizei genannt hatte, unter anderem Beute aus verschiedenen Raubzügen entdeckt hatte, von denen Frank noch nicht einmal etwas gewusst hatte, ließen Nicks aktuelle Zukunftsaussichten nicht gerade rosig aussehen. Den gestohlenen Umschlag mit den Spenden von der Weihnachtsfeier hatte man zusammen mit anderen Gegenständen in einem der Bahnhofsschließfächer gefunden und Schwester Maria wieder ausgehändigt. Natürlich hatten die Polizisten Franks Angaben überprüft um sicherzustellen, dass er tatsächlich nichts von den Raubüberfällen gewusst hatte – insbesondere, da Nick versucht hatte, ihn zu belasten. Glücklicherweise hatte er für zwei der Tattage hieb- und stichfeste Alibis vorweisen können, da er an beiden Tagen nachweislich im Altenheim Dienst im Rahmen seiner Sozialstunden getan hatte.

 

Die Verhandlung lief gut für ihn, sogar besser, als erwartet, denn aufgrund der Aussage von Schwester Karola, seiner eigenen Aussagen und seines Verhaltens während des Brandes wurde entschieden, dass sogar die Vorstrafe aus seiner Akte entfernt werden sollte. Hierzu trug im Übrigen auch Trixie bei, die, gemeinsam mit ihrer Mutter, angereist war und vor Gericht weitere für die Polizei sehr interessante Details über Nick und seine Bande aussagte. Nachdem endlich alles vorbei war, konnte Frank letztendlich das Gerichtsgebäude als freier Mann mit weißer Weste verlassen. Draußen verabschiedete er sich von Becker, Richter Dohmen, der im Publikum der Verhandlung beigewohnt hatte, und Barbara Schäfer, die ihm allesamt zu dem glimpflichen Ende gratulierten. Er nahm die Glückwünsche entgegen, bedankte sich für die Hilfe und blieb dann alleine vor dem Gebäude zurück, während er auf Trixie und ihre Mutter wartete. Als sie kamen, lud er die beiden ein, am Abend ebenfalls zu der Eröffnungsfeier zu kommen und die Einladung wurde erfreut angenommen.

 

„Okay, ich muss los, wir sehen uns ja dann heute Abend. Ich freu´ mich“, sagte Frank und umarmte Trixie zum Abschied herzlich. „Macht euch einen schönen Tag. – Du siehst übrigens prima aus.“

 

„Mir geht es soweit ganz auch gut“, strahlte Trixie, die in den letzten Wochen schon etwas zugenommen hatte und insgesamt kaum wiederzuerkennen war. „Ich habe die Schule gewechselt und mache eine Therapie – so langsam pendelt sich alles ein. Meine Mama will mich immer noch kaum aus den Augen lassen, aber das kriegen wir auch noch in den Griff. Wir arbeiten daran, nicht wahr?“ Das Mädchen war ihrer Mutter, die etwas seitlich stand ein schelmisches Grinsen zu. „Du siehst aber auch nicht schlecht aus“, neckte sie Frank dann im Gegenzug und knuffte ihren alten Freund leicht gegen die Schulter. „Entwickelst dich zum Traum alles Teenies hier, was?“

 

„Hey.“ Frank musste lachen. „Findest du? Na ja, wie auch immer. Ich bin nicht auf der Jagd.“ Gleich darauf bereute er seine Worte.

 

„Das hab´ ich mir schon gedacht.“ Trixie wurde ernst. „Wo steckt sie übrigens? Ich hab´ sie drinnen vermisst.“

 

„Wen?“

 

Trixie zog gekonnt die Augenbrauen hoch. „Blöde Frage. Wen wohl?“

 

„Schon gut, schon gut, sag nichts.“ Frank stockte und wich den Blicken seiner Freundin aus, doch die ließ ihm keine Chance.

 

„Also? Raus mit der Sprache – wo ist sie?“

 

„Keine Ahnung“, gestand Frank leise. „Wir … wir haben nichts mehr miteinander zu tun. Es war vorbei, bevor es überhaupt richtig angefangen hat. Wir hatten einen Riesenkrach.“

 

„Aber … Wieso? Was ist passiert? Ihr … ihr wart so toll zusammen. Da passte doch einfach alles.“

 

„Hm … dachte ich auch. Kurzfristig zumindest.“ Insgeheim ärgerte Frank sich, dass es immer noch wehtat. Und so wie er seine Gefühlswelt einschätzte, stand zu befürchten, dass dieser Schmerz ihn wohl noch eine ganze Weile begleiten würde. Resigniert zuckte er mit den Schultern. „Ich hab´s vermasselt“, gestand er dann resigniert.

 

„Oh, nein“, stöhnte Trixie auf. „Mama, geh´ doch schon mal zum Auto vor, ja? Ich komm´ dann gleich nach.“ Ihre Mutter nickte verständnisvoll und entfernte sich, nachdem sie Frank noch einmal kurz die Hand geschüttelt hatte. Kaum war sie außer Hörweite hakte Trixie nach. „Wie konntest du nur? Was hast du angestellt – doch bestimmt nichts, was sich nicht wieder einrenken lässt?“

 

Frank schüttelte den Kopf. „Nein, das kannst du vergessen, glaub mir. Wenn ich was mache, dann mach´ ich´s gründlich – kennst mich ja. Tja, ich schätze, man kann eben nicht alles haben.“

 

„Dann musst du eben um sie kämpfen“, verkündete Trixie kämpferisch. „Soll ich mal mit ihr reden?“

 

„Um Gottes Willen, nein! Nicht böse sein, aber ich denke, das würde alles nur noch schlimmer machen – falls das überhaupt noch geht. Ich hab´ alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Sie kann oder will mir einfach nicht verzeihen. Ist im Grunde ja auch egal. Fakt ist, dass sie es nicht tun wird.“

 

„Aber …“

 

„Trixie, bitte. Gib´s auf. Schluss damit, ich will nicht mehr darüber reden“, unterbrach Frank sie entschieden. „Heute ist ein Feiertag. Den will ich mir durch nichts vermiesen lassen.“

 

„Du bist ein Feigling!“

 

„Meinetwegen auch das“, resignierte Frank und versuchte den bösen Blick, mit dem seine Freundin ihn bedachte, an sich abprallen zu lassen.

 

„Heute Abend wird sie aber da sein, oder?“

 

„Nein“, antwortete Frank kurz. „Soweit ich weiß, nicht. – Du, ich muss jetzt wirklich los. Meine Eltern titschen im Dreieck und ich will ihnen noch etwas helfen. Heute Abend um sieben, okay? Wir sehen uns.“ Ohne auf eine weitere Antwort zu warten, ging Frank hocherhobenen Hauptes zu seinem Wagen. Niemand sollte sehen, wie schlecht er sich, trotz des positiven Urteilsspruches, immer noch fühlte.

 

58. Kapitel - Die Eröffnung der Piano-Bar

Bereits eine Stunde vor Konzertbeginn war die Piano-Bar proppenvoll. Das Publikum vertrieb sich die Zeit mit angeregten Unterhaltungen und Spekulationen, bevor Franks Vater schließlich pünktlich um sieben Uhr Herrn Schiffer an den edlen, auf Hochglanz polierten, schwarz glänzenden Steinway-Flügel schob. Das Instrument war in der Mitte des Raumes auf einem runden Podest positioniert, das sich sehr langsam drehte, so dass es mit bloßem Auge kaum erkennbar war. Als endgültig festgestanden hatte, wer hier künftig spielen würde, hatte der Architekt diesen raffinierten Kniff noch im Nachhinein umgesetzt. Das Podest drehte sich einmal komplett im Zeitraum einer Stunde. Es war gar nicht so einfach gewesen, die komplizierte Technik, die hierzu nötig gewesen war, noch rechtzeitig zu bekommen, und beinahe wäre es auch schiefgegangen, da nicht alle Teile direkt lieferbar gewesen waren, aber letztlich hatte es dann doch geklappt und nun hatten alle Besucher der Bar die Möglichkeit, den Star einmal aus bester Position zu bewundern. Sogar an den Bau einer behindertengerechten Rampe war gedacht worden. Schließlich sollte der Künstler zukünftig dazu in der Lage sein, seinen Arbeitsplatz selbstständig zu erreichen.

 

Herr Baumann sprach ein paar einleitende Worte zur Eröffnung und Begrüßung des Publikums, bevor er schließlich unter tobendem Applaus zurück an den großen Tisch ging, der den geladenen Ehrengästen vorbehalten war. Nachdem das Publikum sich endlich beruhigt hatte, bedankte sich Herr Schiffer lediglich kurz für die Vorschusslorbeeren, und begann zu spielen. Sobald die ersten Takte erklangen, herrschte beinahe augenblicklich andächtige Stille.

 

***************

 

Toni, die sich seitlich draußen vor dem Fenster die Nase an der großen Scheibe platt drückte, freute sich sehr, als sie registrierte, wie schnell es ihrem Vater trotz der langen Pause offensichtlich wieder gelang, das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Unruhig trat sie in der Kälte von einem Fuß auf den anderen. Zu gerne würde sie auch etwas hören, doch aufgrund der Sicherheitsverglasung war dies leider nicht möglich. Ob sie es wohl wagen konnte? Nach einer Viertelstunde hielt sie es schließlich nicht mehr aus. Es würde schon keinem auffallen, wenn sie sich leise hineinschlich und direkt neben dem einzigen Ein- und Ausgang bei den schweren Samtvorhängen an die Wand drückte. Alle starrten wie paralysiert auf das Podest und lauschten dem Spiel ihres Vaters. Der Türsteher, der die Eintrittskarten der Besucher kontrolliert hatte, war Gott sei Dank schon vor einer ganzen Weile verschwunden und bislang nicht wieder aufgetaucht. Vorsichtig öffnete Toni die Tür einen Spalt, gerade so weit, dass sie schnell in die Bar huschen und sich seitlich an die Wand drücken konnte. Ein paar der Gäste, die in der Nähe der Tür saßen und den kalten Luftzug spürten, drehten die Köpfe und funkelten Toni strafend an. Na und? Sollten sie doch. Sie legte einen Finger auf die Lippen, wies mit der anderen Hand auffordernd auf das Podest und hoffte, dass Niemand die Traute besaß, hier jetzt eine Welle zu schlagen. Und das Glück war auf ihrer Seite; die Leute beachteten sie nicht weiter, sondern konzentrierten sich lieber wieder auf ihren Vater. Toni gestattete es sich, kurz erleichtert aufzuatmen, bevor sie ebenfalls tief ergriffen mit Tränen der Rührung in den Augen, dem Spiel ihres Vaters lauschte.

 

***************

 

Frank, der klassischer Musik nach wie vor nicht allzu viel abgewinnen konnte, beobachtete unauffällig die geladenen Gäste am Ehrentisch. Alle schienen völlig fasziniert von dem, was ihnen auf dem Podest dargeboten wurde und ließen den Künstler keinen Moment lang aus den Augen. Nur Trixie schien sich, genauso wie er, etwas zu langweilen. Auf Franks Lippen stahl sich ein kleines Lächeln, als er registrierte, wie Trixies Blicke unruhig durch den Raum wanderten. Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und sie riss die Augen weit auf. Gleich darauf suchte sie, über den Tisch hinweg, seinen Blick. Frank wunderte sich, denn Trixie schien geradezu erleichtert, als sie bemerkte, dass er sie beobachtet hatte. Beinahe unmerklich nickte sie mit dem Kopf in Richtung Tür und bedeutete ihm gleichzeitig mit den Augen, dass er ihrer Bewegung folgen sollte. Okay, warum nicht. Was auch immer sie entdeckt hatte, er war für jede Ablenkung dankbar.

 

Als er Toni erkannte, zuckte er elektrisiert zusammen. Sie stand in normaler Straßenkleidung seitlich vom Eingang und verfolgte das Comeback ihres Vaters mit großen Augen. Hätte sie nicht den unvermeidlichen bunten Schal um den Hals gewickelt; sie wäre in der dunklen Ecke zwischen den Samtvorhängen fast nicht aufgefallen. Frank durchfuhr es wie ein Blitz. Das konnte, nein, verdammt, das durfte nicht sein! Toni gehörte hierher, an diesen Tisch. Sie sollte dort sein, wo sich ihre Familie und ihre Freunde befanden und nicht abseits dort hinten, einsam und allein in eine dunkle Ecke gedrückt, wie ein Dieb in der Nacht. Er atmete einmal tief durch. Nun wusste er, was Trixie von ihm gewollt hatte: Es lag einzig und allein an ihm, das zu ändern.

 

Leise, aber entschlossen schob Frank seinen Stuhl zurück, stand auf und machte sich, ohne sich durch die strafenden Blicke des Publikums irritieren zu lassen, auf den Weg zum Ein- und Ausgang. Er wusste, dass er sich jetzt nicht beirren lassen durfte, denn es war damit zu rechnen, dass Toni ihn bemerken und die Flucht ergreifen würde.

 

Genauso war es auch. Noch bevor Frank den Raum durchquert hatte, war Toni schon durch die Tür und als er endlich die Straße betrat, hatte die Dunkelheit sie schon fast verschluckt. Aber eben nur fast, dachte er grimmig, während er sich mit schnellen Schritten aufmachte, das Mädchen einzuholen. Als er sie erreicht hatte, versperrte er Toni, ohne groß darüber nachzudenken den Weg und sie blieb wider Erwarten mit hängenden Armen vor ihm stehen. Schweigend standen sie einen Moment lang nebeneinander auf dem Bürgersteig. In Franks Kopf überschlugen sich die Gedanken. Fieberhaft dachte er darüber nach, was er sagen sollte, denn er wollte Toni auf keinen Fall schon wieder gleich zu Beginn ihres Gespräches gegen sich aufbringen. Bitte, lieber Gott, dachte er, wenn es dich gibt, dann lass mich wenigstens einmal im Leben das Richtige sagen.

 

„Lass uns die Plätze tauschen“, sagte er endlich schlicht – das war es schließlich, worum es in diesem Augenblick ging.

 

„Was?“ Toni schaute ihn überrascht an.

 

„Du solltest dort drinnen sein und bei deinen Leute am Tisch sitzen“, erklärte Frank. „Toni, bitte, ich glaube, deinem Vater würde es sehr viel bedeuten, wenn du seinen Triumph miterlebst. Ich hab´ ja keine Ahnung von der Materie, aber ich glaube, er ist wirklich gut. Die Leute sind ja hin und weg.“

 

„Natürlich ist er gut – er ist sogar mehr als das“, antwortete Toni leise.

 

„Na also. Geh´ rein zu ihm. Ich werde verschwinden“, bot er schweren Herzens an.

 

„Das kann ich nicht von dir verlangen. Ich meine, die Bar gehört immerhin deinen Eltern.“

 

„Na und! Das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann. Bitte, lass mich wenigstens das tun“, bat Frank.

 

„Du bist mir nichts schuldig. Im Gegenteil, du hast so viel für uns – für unsere Familie – getan.“ Mit einer Kopfbewegung wies sie zurück in Richtung Piano-Bar.

 

Frank verzog verärgert das Gesicht. „Becker hat also doch noch gequatscht“, erkannte er. „Das sollte er nicht.“

 

„Du immer mit deiner Scheiß Geheimniskrämerei! Was soll das?“, begehrte Toni jetzt heftig auf. „Reicht es denn immer noch nicht? Hast du damit noch nicht genug angerichtet?“ Als Frank daraufhin schweigend zu Boden blickte, fügte sie wieder etwas leiser hinzu. „Trotzdem … wir sind dir alle sehr dankbar. Auch ich“, schloss sie nach einer kurzen Pause.

 

„Vergiss es.“ Frank machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es war schließlich ein Deal, von dem beide Seiten profitieren. Ein prima Geschäft, nichts weiter.“

 

„Ja.“ Toni nickte nachdenklich. „Wahrscheinlich. Nur, dass du absolut nichts davon hast.“

 

Frank zuckte mit den Schultern. „Du solltest jetzt wirklich zu deinem Vater gehen. Bevor das Spektakel vorbei ist.“ Er ging ein paar Schritte, stützte sich mit beiden Händen auf ein Drängelgitter und starrte bewegungslos in die Dunkelheit des angrenzenden Parks hinaus.

 

Toni folgte ihm schweigend und lehnte sich leicht mit der Hüfte gegen das Geländer. „Du frierst“, stellte sie schließlich nach einer unangenehmen Pause leise fest.

 

„Oh, bitte“, antwortete Frank und warf ihr einen Seitenblick zu. „Was erwartest du? Wir haben minus fünf Grad und ich steh´ hier lediglich in `nem dünnen Sakko. Nicht zu frieren wäre ein echtes Kunststück.“ Noch einmal atmete er tief ein, wobei die eisige Kälte im prompt die Nasenlöcher verklebte. Bloß jetzt nicht schniefen! „Was ist nun? Geh´ zu ihm“, forderte er Toni noch einmal auf – so schwer ihm das auch fiel.

 

„Du willst wirklich, dass ich gehe, nicht wahr?“

 

Täuschte er sich, oder hatte er da ein Zittern in ihrer Stimme gehört? Frank wagte nicht, noch einmal zu ihr rüberzusehen, da der eisige Wind ihm jetzt tatsächlich die Tränen in die Augen trieb und er nicht wollte, dass Toni das bemerkte. „Wenn du es nicht tust, wirst du es vermutlich dein Leben lang bereuen“, antwortete er schließlich rau. „Es ist euer Tag. Vermutlich der Tag, der euer ganzes Leben wieder dauerhaft verändern wird. Bis jetzt war doch alles nur Vorgeplänkel.“

 

„Und du?“

 

„Ich werde hier noch ein paar Minuten warten und etwas frische Luft schnappen. Du könntest meinen Eltern aber Bescheid sagen, dass ich später dann gleich rauf auf mein Zimmer gehe, okay?“

 

„Bist du sicher?“

 

Frank nickte entschlossen und spürte, wie Toni sich von dem Gitter abstieß. Bevor sie sich jedoch endgültig auf den Weg machte, berührte sie kurz mit der Hand seinen Arm und sagte schlicht: „Danke.“

 

Er nickte nur, starrte stur nach vorne und gab keine Antwort. Als er es sich nach einigen Sekunden endlich erlaubte, seinen Kopf wieder zu drehen, war Toni längst in der Dunkelheit verschwunden und Frank fragte sich, wieso sich etwas Richtiges gleichzeitig so verdammt falsch anfühlen konnte? Deprimiert fuhr er sich mit einem Ärmel über sein Gesicht. „Okay, das war´s dann also“, murmelte er vor sich hin, bevor er sich schließlich ebenfalls auf den Rückweg zum Hotel machte.

 

59. Kapitel - Epilog - Teil 1 - 4 Monate später

Franks Geburtstagsfeier fand aufgrund des seit Tagen sehr guten Frühsommerwetters am See statt. Er hatte eine Grillhütte gemietet, am Morgen der Feier gemeinsam mit Mike jede Menge Getränke und Lebensmittel aus dem Hotel an den See gekarrt und er hatte alle eingeladen, die ihm im Verlauf des letzten, für ihn so ereignisreichen Jahres unter die Arme gegriffen hatten – in welcher Form auch immer. Sogar Trixie war extra wieder angereist und hatte übers Wochenende ein Zimmer im Hotel seiner Eltern bezogen. Es hatte sie zwar einiges an Überredungskunst gekostet, aber letztlich hatte ihre Mutter sie sogar alleine reisen lassen. Nicht ohne Stolz hatte das Mädchen Frank von der erbittert geführten Diskussion mit ihrer Mutter berichtet.

 

Die Stimmung war gut und Frank beobachtete zufrieden, wie seine Gäste sich amüsierten. Ein wissendes Grinsen huschte über sein Gesicht, als sich Becker wie zufällig einmal mehr neben Barbara Schäfer stellte und sie in ein Gespräch verwickelte. Er hatte mitbekommen, dass die beiden sich neuerdings des Öfteren auch privat trafen und so wie es aussah, nahm das Ganze langsam aber sicher konkretere Formen an.

 

„Was ist los mit dir?“, ertönte hinter ihm Mikes Stimme. „Du bist so still. Alles in Ordnung?“

 

„Ja … ja, sicher, alles okay.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung Becker und Schäfer. „Ich beobachte nur gerade die zwei verliebten Gockel dort drüben. Ich finde, so langsam könnten sie ihren Zwischen- mal in einen Endspurt verwandeln und zu Potte kommen, findest du nicht?“

 

Mike folgte den Blicken seines Freundes und musste ebenfalls lächeln. „Nun lass sie doch – sie wollen es vermutlich vorsichtig angehen. Schließlich sind sie beide gebrannte Kinder.“

 

„Hm, ja, mag sein. Aber sie benehmen sich so, als würden sie allen Ernstes glauben, dass das niemand hier bemerkt. Halten die uns für blöd?“

 

„Nee, denke ich nicht. Übrigens: Ich kenne noch mehr von der Gattung `Ich-trage-meine-Gefühle-nicht-auf-dem-Präsentierteller-herum´“, antwortete Mike mit einem vielsagenden Grinsen.

 

Frank verzog das Gesicht. Er wusste sehr gut, worauf sein Freund anspielte. Vor einer halben Stunde war als Überraschung für Frank die Band aufgetreten – zunächst noch ohne Toni, was ihn nicht weiter gewundert hatte. Im Gegenteil, er war sogar froh darüber gewesen. Nach der Eröffnung der Piano-Bar waren sie sich tatsächlich nicht wieder begegnet und so hatte er mit der Zeit lernen können, mit der Situation umzugehen. Hatte er zumindest geglaubt. Bis zu dem Moment, als Toni während des dritten Liedes – einer alten irischen Volksweise – plötzlich die Bühne betreten und mit geschlossenen Augen leidenschaftlich ein geradezu wahnwitziges Geigensolo gespielt hatte. Ihm war vor Überraschung fast das Glas aus der Hand gerutscht und es war ihm nur mit einiger Anstrengung gelungen, wenigstens einigermaßen die Fassung zu bewahren. Völlig konsterniert hatte er nur stocksteif dastehen und auf die provisorisch aufgebaute Bühne starren können. In diesem Augenblick war ihm allerdings auch klar geworden, dass er sich wohl nur eingeredet hatte mit der Situation umgehen zu können. Gleichwohl war Toni unmittelbar nach dem Song verschwunden und bislang nicht wieder aufgetaucht. Mittlerweile ging Frank davon aus, dass sie sich nach dem Gig direkt wieder zurückgezogen hatte. Im Stillen dachte er, dass es besser gewesen wäre, wenn sie gar nicht erst aufgekreuzt wäre. Ihr kurzer Auftritt hatte mal wieder ein Gefühlschaos in ihm ausgelöst, auf das er an diesem Tag lieber verzichtet hätte.

 

„Hey …“ Mike wedelte mit einer Hand vor Franks Gesicht herum. „Erde an Frank – weilst du noch unter uns?“

 

„Sehr witzig. Mike, ich wär´ dir echt dankbar, wenn du nicht auch noch so penetrant drauf rum reiten würdest. Das eben, das war … ziemlich daneben.“

 

„Sorry, aber wir brauchen sie für dieses Stück – niemand anders kann das Solo so spielen.“

 

„Ach ja, und warum habt ihr es dann nicht einfach weggelassen?“, erkundigte Frank sich scharf.

 

„Weil Toni es unbedingt spielen wollte, verdammt noch mal! So, jetzt weißt du es! Bist du jetzt zufrieden?“

 

„Was?“ Franks Augen weiteten sich vor Überraschung. „Wollt ihr mich verarschen?“

 

„Nein! Hör zu, lass dir erklären …“

 

„Nein!“ Frank hob abwehrend eine Hand. „Nein! Ich will nichts hören … ich kann das jetzt nicht ertragen. Tust du mir einen Gefallen und passt auf den Grill auf – ich seil mich mal kurz ab.“

 

„Ja, klar.“ Mike musterte seinen Freund prüfend. „Alles okay? Ich meine, geht´s dir gut?“

 

„Sicher, ich … ich muss nur mal kurz alleine sein – das ist alles. Wenn was ist, ich bin gleich dort drüben am Ufer.“

 

„Alles klar, Mann. Ich krieg das schon hin. Sieh dich um, alle amüsieren sich prächtig. Wir kommen prima ohne dich klar.“

 

Frank grinste schief. „Wow, charmant wie eh und je.“ Er nickte und verschwand mit langen Schritten in Richtung Ufer, während er Mikes nachdenkliche Blicke in seinem Rücken spürte.

 

***************

 

„Hey, Mike. Wo ist er?“ Toni tauchte neben ihrem Bruder auf und blickte sich suchend um. Als Mike mit einem Nicken Richtung Ufer antwortete, folgte sie seiner Geste mit den Augen. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte sie Mike dann verwundert.

 

„Keine Ahnung. Er zieht sich in letzter Zeit häufiger mal zurück, aber er meinte, es ginge ihm gut.“ Mike zuckte mit den Achseln. „Er sagte, er wolle nur mal ein paar Minuten alleine sein, aber wenn du mich fragst …“

 

„Ich frage dich aber nicht, alles klar?“, warf Toni schnell ein. „Wenn ich jetzt zu ihm rüber gehe … könntest du bitte dafür sorgen, dass wir unter uns bleiben?“

 

„Hey, was glaubt ihr zwei, wer ich bin? Euer Butler?“ Als Mike den bittenden Blick seiner Schwester bemerkte, fügte er hinzu. „Schon gut, war nur ein Scherz. Du willst es also tatsächlich heute hinter dich bringen? Ich dachte schon, du machst wieder `nen Rückzieher. Aber okay, umso besser. Ich bitte dich nur um eins, vermassel es nicht, klar? Immerhin hat er heute Geburtstag.“

 

„Ich geb´ mir Mühe“, antwortete Toni, atmete einmal tief durch und machte sich auf den Weg. Über die Schulter schenkte sie ihrem Bruder noch ein leises `Danke´, woraufhin der eine Hand hob und ihr zeigte, dass er ihr die Daumen drückte.

 

***************

 

Als Toni Frank erreicht hatte, setzte sie sich wortlos neben ihn ins Gras, zog die Beine an und starrte sekundenlang regungslos aufs Wasser. „Hey“, sagte sie schließlich zögernd und wartete gespannt auf seine Reaktion.

 

Frank streifte sie mit einem schnellen Seitenblick, der nichts von seinem plötzlichen Gefühlsaufruhr erkennen ließ und antwortete ebenso unverbindlich: „Hey“, bevor er seinen Blick wieder aufs Wasser richtete.

 

Immerhin ein Anfang – fast mehr, als Toni erwartet hatte, denn sie war mit der Angst zu ihm herüber gekommen, dass er sie wütend zum Teufel jagen würde. Seine entsetzte Reaktion als sie vorhin die Bühne betreten hatte war ihr nicht entgangen – auch, wenn ihre Augen anscheinend geschlossen gewesen waren. Sie atmete erneut tief durch und schaute sich um. „Es ist wirklich schön hier – ist schon `ne Weile her, dass ich hier war.“

 

Seine Antwort bestand lediglich aus einem Schulterzucken und einem ironisch geknurrten „Im Winter hält sich die Schönheit hier auch sehr in Grenzen“. Okay, schließlich hatte sie nicht erwartet, dass er es ihr leicht machen würde, aber dieses sinnlose Geplänkel würde sie nicht weiter bringen. „Du schickst mich also nicht weg“, fragte sie schließlich mit klopfendem Herzen.

 

Wie könnte ich, dachte Frank. Offensichtlich entwickele ich schon leicht masochistische Züge. Laut sagte er: „Das ist ein freies Land.“

 

Toni schwieg – der Kloß in ihrem Hals wurde größer und sie stand schon kurz davor wieder zu gehen, als Frank plötzlich und unerwartet fragte: „Warum bist du gekommen – noch dazu ausgerechnet heute?“ Als er keine Antwort erhielt, hakte er eindringlich nach: „Was willst du hier, Toni?“

 

„Na ja, du hast Geburtstag, die Band hatte einen Auftritt …“

 

„Ach ja, genau. Unter anderem stand ja ein Song auf dem Programm, den unbedingt du dabei haben wolltest, nicht wahr? Übrigens: Toll gespielt. Aber wieso? Ich frage dich noch einmal: Was willst du hier?“

 

„Mich entschuldigen? Versuchen zu reparieren, was ich kaputtgemacht habe?“ Toni antwortete schnell und ohne lange nachzudenken.

 

Frank drehte den Kopf und blickte sie zum ersten Mal wieder direkt an. „Wow.“ Weder seine Augen, noch seine Gesichtszüge ließen erkennen, was er fühlte. Toni wurde zusehends unsicherer und wäre am liebsten fluchtartig davon gerannt – besonders als er nach einer Pause den Blick wieder abwandte und anscheinend emotionslos: „Lass es einfach“, hinzufügte.

 

Mit dem letzten Rest an Würde, den sie zusammenkratzen konnte, riss sie sich zusammen und fragte: „Warum?“ Sie konnte erkennen, dass Frank die Augenbrauen hochzog. Die erste erkennbare Gefühlsregung.

 

„Warum? Das fragst du noch? Du sagst, du willst dich entschuldigen? Nach über 4 Monaten? Findest du das nicht selber ein bisschen spät?“

 

„Du hast mal gesagt, es ist nie zu spät“, flüsterte Toni, was Frank ein bitteres Lachen entlockte.

 

„Du bist echt unglaublich, weißt du das?“

 

Fast hätte Toni ihm geantwortet, dass er das auch schon mal zu ihr gesagt hatte, doch im letzten Augenblick entschied sie sich, zu schweigen und wartete angespannt darauf, dass Frank weiter sprach.

 

„Ich meine, du kommst her, nach fast einem halben Jahr und nachdem ich dir monatelang wie blöde umsonst hinterher gerannt bin – Himmel, ich kam mir ja fast schon vor, wie ein gottverdammter Stalker! Dann kreuzt du plötzlich aus heiterem Himmel hier auf, entschuldigst dich und … ja, was und? Was zum Teufel versprichst du dir davon, Toni? Ehrlich, das würde ich wirklich zu gerne wissen.“

 

60. Kapitel - Epilog - Teil 2

Toni konnte den forschenden Blick aus Franks blauen Augen kaum mehr ertragen und wich aus, indem sie nun ihrerseits wieder die leise an die Uferböschung plätschernde Wasseroberfläche fixierte.

 

„Siehst du“, meinte Frank daraufhin resigniert. „Du weißt es ja selber nicht einmal. Vermutlich bist du nur hier, weil Mike, Roman und was weiß ich, wer noch, dir `gut zugeredet´ haben.“ Toni wollte ihm etwas entgegnen, doch Frank brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Nein, lass es gut sein. Mit mir machen sie ja seit Monaten das Gleiche und ehrlich, es nervt inzwischen total. – Dich etwa nicht?“

 

Sie zuckte schweigend mit den Achseln und Frank schmunzelte andeutungsweise: „Na, bitte.“ Wieder entstand eine etwas peinliche Pause, bevor Frank schließlich dem Gespräch eine überraschende Wendung gab, indem er mit „Jetzt hör´ mir mal gut zu, Antonia Schiffer …“ begann. Auf ihren überraschten Seitenblick hin reagierte er mit einem schiefen Grinsen. „Ja, ich weiß, ich werde gerade etwas förmlich, aber ich muss das, was ich dir jetzt sage, einfach mal los werden und da du offensichtlich nicht reden willst und ich mir ich nicht sicher sein kann, ob ich noch mal die Gelegenheit dazu bekomme mit dir zu reden …“ Als er bemerkte, dass Toni etwas sagen wollte, unterbrach er sie schon im Ansatz: „Nein, bitte. Lass mich ausreden. Ich bin nicht besonders gut in so was und irgendwie musste ich ja einen Anfang finden, okay? Na ja … es ist doch so: Ohne dich säße ich jetzt vermutlich nicht hier. Ich meine, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte, wer weiß, wo ich letztlich gelandet wäre. Aber nachdem ich …“ Er stockte und holte einmal tief Luft. „…nachdem ich damals realisierte, dass ich mich in dich verliebt hatte, hatte ich plötzlich wieder einen Anker – etwas, wofür sich der Kampf zu lohnen schien. Ich kann dir nicht genau sagen, wann es passiert ist, aber irgendwann musste ich es mir selber eingestehen. Von da an wollte ich dann unbedingt alles richtig machen UND vor dir gut dastehen. – Tja, was soll ich sagen: Diese Nummer war zu groß für mich; damit hab´ ich mich übernommen – ganz eindeutig. Ich weiß, ich habe vieles falsch gemacht … gerade, was dich und unsere Beziehung angeht ...“ Er schwieg einen Augenblick, bevor er dann fast trotzig hinzufügte: „Aber ich habe auch einiges richtig gemacht! Ich habe etwas erreicht und darauf bin ich verdammt noch mal stolz.“

 

„Natürlich“, warf Toni schnell ein. „Das kannst du ja auch sein.“

 

„Inzwischen habe ich aber eingesehen, dass man nicht alles haben kann“, sprach Frank weiter, als hätte er ihren Einwand gar nicht wahrgenommen. Er redete in einem Tonfall, als ginge ihn das Alles gar nichts an; als spräche er über jemand anderem, aber so locker, wie er sich gab, war er definitiv nicht. Nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hatte, sagte er: „Hey, ich bin wirklich froh, dass ich das mal loswerden konnte. Aber jetzt mal im Ernst: Was, Toni? Was erwartest du von mir? Willst du, dass ich vor dir zu Kreuze krieche? Ich bin der Meinung, dass ich das schon getan habe. Oft genug in den letzten Wochen und Monaten und leider immer ohne Erfolg. Weißt du, ich bin kein Masochist. Ich kann verdammt noch mal nicht ungeschehen machen, was passiert ist. Glaub´ mir, ich weiß sehr genau, was ich falsch gemacht habe und wenn ich könnte würde ich die Zeit zurückdrehen und einiges anders angehen, aber das kann ich leider nicht. Ich weiß, nach all´ den Lügen, die ich dir erzählt habe, ist es wahrscheinlich zu viel von dir verlangt, mir jetzt zu glauben, aber eins musst du mir einfach glauben. Ich wollte dir schon viel früher reinen Wein einschenken, aber nach einer Weile wusste ich einfach nicht mehr, wie ich das am besten anstellen sollte, ohne Gefahr zu laufen, dich zu verlieren. Du hast immer davon gesprochen, wie wichtig dir Ehrlichkeit ist und als du mir endlich vertraut hast, hatte ich mich schon so tief in meine dämliche Story verwickelt, dass … Meine Güte, Toni, ich hab´ mich geschämt. Ist das so schwer zu verstehen? Du … du hast soviel geleistet nach dem Tod deiner Mutter und ich dagegen schaff´ es einfach immer wieder nur, alles falsch zu machen. Meine einzige Rechtfertigung ist, dass ich damals unter den gegebenen Umständen mein Bestes gegeben habe, aber es war halt leider nicht genug. Wer weiß, wenn ich früher den Mund aufgemacht hätte, wäre vieles vielleicht gar nicht erst passiert.“

 

„Dann wären mit Sicherheit andere Dinge geschehen“, brachte Toni es schlicht auf den Punkt. „Welche werden wir wohl nie erfahren. Ist vielleicht auch besser so. Ich bin überzeugt davon, dass Nick keine Ruhe gegeben hätte. Niemals! Schau dich um: Am Ende hast du soviel Gutes geschafft. Du hast Trixie aus dem Sumpf geholt. Du hast Daniel geholfen, meinem Vater, und damit unserer ganzen Familie. Dass die Weihnachtsfeier so ein Erfolg war, ist auch hauptsächlich dir zu verdanken. Du hast den General aus dem Feuer gerettet und noch einiges mehr.“

 

„Ja, toll … ganz toll.“ Franks Stimme klang zynisch und er lächelte traurig. „Hört sich an, als wäre ich ein verdammter Held, aber das bin ich ganz sicher nicht. Hey, echte Helden kriegen am Ende immer das Mädchen. Aber ich … ich hab´ das Mädchen verloren, nicht wahr? So ist es doch!“

 

„Ich will nicht, dass du vor mir du Kreuze kriechst, wie du es ausdrückst“, antwortete Toni leise, ohne näher auf seine Bemerkung einzugehen. „Wie gesagt, ich bin gekommen, um mich bei dir zu entschuldigen. – Als wir uns damals zufällig begegnet sind und du mir all diese Dinge an den Kopf geworfen hast … wegen meiner Mutter und meinen Ängsten, da … da sind bei mir echt alle Sicherungen durchgeknallt.“

 

„Ja, sorry, es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen dürfen.“

 

„Doch, doch, schon in Ordnung, du hattest ja recht. Ich wollte die Wahrheit nur nicht hören, das war der Knackpunkt. Ich war wütend auf dich … stinkwütend und ziemlich hilflos in dem Moment. Deswegen hab´ ich dich so angefahren. Und du hattest auch recht damit, dass ich früher darauf hätte kommen müssen, dass mit deiner Geschichte was nicht stimmt – ich schätze, ich wollte es wohl nicht sehen.“

 

„Schön, dann hätten wir das ja jetzt auch geklärt“, sagte Frank nach einer erneuten nachdenklichen Pause. „Und jetzt …“ Er rückte sich in Position, so dass er Toni bei den Oberarmen packen und sie mit dem Oberkörper zu sich herum drehen konnte. „…würde ich mir wünschen, dass du mir endlich sagst, warum du tatsächlich heute hergekommen bist. Und komm mir jetzt bloß nicht wieder mit der Entschuldigung. Ich will den wahren Grund hören.“ Er versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, aber das war gar nicht so einfach. „Toni, bitte“, wiederholte er eindringlich. „Ich habe gerade so viel geredet, wie selten zuvor in meinem Leben und ganz ehrlich, ich bin gerade ziemlich neben der Spur, aber eins weiß ich genau: Ich will es von dir hören … nein, falsch, ich muss es von dir hören. Losgelöst von Allem, was die Anderen mir seit Wochen immer wieder vorbeten. Bitte, sag mir, warum du hier bist.“

 

Nach Franks Ansprache, versuchte Toni vehement, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken und ihre Stimme fest klingen zu lassen. Ihr heroischer Versuch misslang allerdings kläglich. „Ich … es ist … na ja, ich bin hier weil …“ Ihre Stimme versagte. Eine hilflose Handbewegung folgte.

 

„Weil …?“

 

Er denkt gar nicht daran, es mir leicht zu machen, schoss es ihr in einer plötzlichen Aufwallung von Wut durch den Kopf. Sie wollte gerade aufbegehren, da blickte sie in Franks Augen und sie erkannte ganz deutlich die darin stehende Mischung aus aufkeimender Hoffnung und Angst. In diesem Augenblick wurde Toni plötzlich klar, dass Frank sie in diesem Moment nicht ausnutzte und dass er sie auch nicht ärgern oder quälen wollte. Er hatte genauso viel Angst davor, ihre Antwort zu hören, wie sie, sie auszusprechen.

 

„Ich bin hier, weil ich dich einfach nicht vergessen kann“, platzte es aus ihr heraus. „Du fehlst mir so! Verdammt, ich kriege dich einfach nicht aus dem Kopf und da dachte ich … ich hatte gehofft … ich meine, es ist doch dein Geburtstag.“ Mist! Ihre Stimme brach schon wieder und sie spürte, wie ihr die lange unterdrückten Tränen in die Augen schossen. Weg! Sie musste weg von hier! Schnell! Doch als sie mit einer heftigen Bewegung seine Hände abschüttelte und aufstehen wollte, spürte sie seinen Widerstand.

 

Frank zog sie kurzerhand fest in seine Arme und Toni hörte seine Stimme dicht neben ihrem Ohr. „Nicht! Bitte nicht!“, raunte er. „Fang jetzt bitte nicht an zu weinen. Das wollte ich nicht.“ Genau in diesem Moment konnte sie einen Schluchzer nicht mehr unterdrücken. „Psst, hör auf. Bitte. – Du … du hast mir doch auch gefehlt. Jeden verdammten Tag. Ich hatte solche Angst vor dem, was du mir womöglich sagen würdest. Ich dachte wirklich, du kommst mir jetzt mit so einem bescheuerten Freundschaftsangebot – das hätte ich nicht ertragen.“

 

„Nicht?“, flüsterte sie an seiner Schulter.

 

„Nein!“, kam seine Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Es wäre mir einfach viel zu wenig gewesen.“

 

Toni fühlte, wie seine eine Hand sanft durch ihr Haar streichelte und hieß die wohlige Gänsehaut, die diese zärtlichen Gesten in ihr auslösten, willkommen. Sie lag in Franks Umarmung und es fühlte sich gut an – mehr noch, es fühlte sich absolut richtig an! Toni wagte kaum eine Bewegung, um den Zauber dieses Augenblicks nicht zu zerstören. So lange hatte sie sich gefragt, wie es wohl wäre, wenn er zärtlich würde und ihr nicht nur hier und da einen kurzen Kuss stahl. Jetzt endlich spüren zu dürfen, wie seine Finger sie sanft suchend streichelten und sein Atem sie warm und sachte streifte, war besser als jede Vorstellung, die sie sich in den vergangenen Monaten davon gestattet hatte.

 

Frank drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Locken und murmelte geistesabwesend: „Ich hab´s schon mal gesagt … daran könnte ich mich gewöhnen.“

 

„Hm …“

 

„Hm?“ Frank drückte sie zurück und hielt sie plötzlich wieder etwas auf Abstand: „Was soll das heißen, hm?“ Er versuchte, seine Stimme streng klingen zu lassen, doch die Erleichterung, die auf  seinen Zügen lag, sprach Bände.

 

Toni lächelte befreit und antwortete: „Das soll heißen, dass ich mich auch daran gewöhnen könnte. Ehrlich, ich hab´ dich so vermisst.“

 

Da! Da war es endlich! Franks unnachahmliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er leise antwortete: „Frag mich mal.“ Seine Hände legten sich sanft auf ihre Wangen und er zog ihren Kopf zu sich heran. Sein Blickte tauchten noch einmal tief in ihre ein, bevor sich endlich beider Lippen zu einem ersten intensiven Kuss trafen. Nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten, lächelte er erneut und gestand schließlich zögernd. „Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.“

 

„Ja, wir machen es uns nicht gerade einfach, nicht wahr?“ Tonis Lächeln wirkte in diesem Moment erfrischend schüchtern.

 

Frank nickte: „Jepp, ich denke, daran sollten wir unbedingt noch ein bisschen arbeiten. Aber bei Gott, du machst es einem wirklich nicht einfach. Du bist ein solcher Sturkopf. Weißt du eigentlich, was ich für eine Panik geschoben habe? Ich dachte wirklich schon, du … hättest mich endgültig in den Wind geschossen.“

 

„Ich bin halbe Irin“, antwortete Toni schlicht, als würde das alles erklären. „Meinst du, du wirst damit fertig?“

 

Ein sanfter Nasenstüber war die Antwort. „Und ob!“ Er lachte befreit auf. „Solange ich dich an meiner Seite weiß, werde ich mit allem fertig.“ Er legte den Arm um Tonis Schultern und zog sie dicht an seine Seite.

 

„Na dann …“ Sie kuschelte sich dicht an ihn und schwieg.

 

„Was ist los?“, erkundigte Frank sich, der ihr leichtes Zögern durchaus bemerkt hatte.

 

„Na ja, Mike hat mal angedeutet, dass du dich in anderen Städten beworben hast … wenn du weggehst dürfte es schwierig werden an deiner Seite zu bleiben.“

 

Frank zog Toni noch ein wenig näher an sich heran. „Ja, ich hab´ mit dem Gedanken gespielt wegzugehen“, gab er zu. Aber hey, Pläne kann man schließlich ändern. Ich weiß, es gibt Leute, die behaupten steif und fest, ich wäre ein Idiot, aber mal im Ernst: Wenn ich jetzt noch wegziehen würde, wäre ich doch komplett bescheuert, oder was meinst du?“

 

„Ich würde mich sehr freuen, wenn du es dir anders überlegst.“

 

„Schon geschehen. Ich bin sicher, wenn ich mir Mühe gebe, kann ich auch hier `ne Ausbildungsstelle finden.“ Er beugte den Kopf und küsste Toni zärtlich auf den Mund. „Hey, hast du nachher schon was vor?“, fragte er dann mit einem spitzbübischen Grinsen im Gesicht.

 

„Hm … was schlägst du vor?“, nuschelte Toni, weil sie ihn ebenso zärtlich zurückküsste.

 

„In meinem Zimmer warten noch ein paar Päckchen auf ihre neue Besitzerin – weißt schon … Weihnachten, Geburtstag. Ich dachte, du wärst vielleicht doch neugierig.“

 

„Oh, ich bin neugierig“, lächelte Toni. „Und wie! Aber weniger auf die Geschenke, als vielmehr auf dein Zimmer“, setzte sie vielsagend hinzu.

 

„Na dann …“ Frank grinste breit. „…würde ich sagen, wir haben nachher noch ein Date.“

 

***************

 

„Hey“, protestierte Mike, der gerade mit einem Riesensack Grillkohle kämpfte, der ihm – als ihn Romans überraschender Rippenstoß traf – fast kopfüber auf die Wiese gefallen wäre. „Spinnst du jetzt total, oder was? Pass doch auf!“

 

Roman wies breit grinsend mit einer Hand in Richtung Seeufer. „Mann, Alter, jetzt guck doch mal. Ist es das, was ich glaube, das es das ist, was es ist?“ Er strahlte über das ganze Gesicht und seine Stimme klang triumphierend.

 

„Na, das wurde aber auch verdammt noch mal Zeit“, lautete Mikes trockene Antwort und er nickte zufrieden lächelnd.

 

Sven, der vor ein einigen Wochen als Romans fester Freund zu der Gruppe gestoßen war, folgte den Blicken seiner Freunde und sagte dann: „Hey, ich wusste ja noch gar nicht, dass Frank eine Freundin hat.“

 

„Hatte er ja auch bis eben nicht.“

 

„Jetzt hat er anscheinend eine. Na und? Das Mädchen war doch eben mit auf der Bühne – sieht aus, als ließe er nichts anbrennen.“

 

Roman stöhnte gespielt theatralisch auf und küsste seinen Freund im Vorbeigehen flüchtig auf den Mund. „Sorry, mein Lieber, aber davon hast du keine Ahnung. Dieses Happy End war wirklich eine extrem schwierige Geburt.“

 

 

E N D E

 

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