Eine Katastrophe kommt selten allein

 Verträumt vor sich hinlächelnd ließ Susanne heißes Wasser in die Wanne nachlaufen. Wohlig räkelte sie sich in dem duftenden Schaum und ließ ihre Gedanken voller Vorfreude schweifen. Sie freute sich wie ein kleines Kind auf den vor ihr liegenden Abend mit Frank. Lange genug hatte sie ja auf seine Einladung warten müssen. Und nun…Gott, der Abend musste einfach perfekt werden. Das wünschte sie sich so sehr. Mehr noch, er würde sie für all die kleinen und großen Katastrophen entschädigen, die ihr in den letzten paar Tagen widerfahren waren. Im Augenblick schien bei ihr aber auch einfach alles schief zu laufen: Die Semesterarbeit hatte sie mit tödlicher Sicherheit in den Sand gesetzt. Und das, wo sie das letzte Semester noch als Zweibeste abgeschlossen hatte. Die leichten Brandspuren an der Wohnzimmerwand und -decke waren alles, was noch an ihren alten Fernseher erinnerte und als Sahnehäubchen obendrauf hatte sie heute auch noch ihren Job verloren, weil sie sich einmal mehr verspätet hatte. Ihr heißgeliebter alter Fiesta gab einfach keinen Laut mehr von sich, doch das hatte Susannes Chef im In-Bistro herzlich wenig interessiert. Nicht nur das regelmäßige Einkommen, dass ihr dieser Job eingebracht hatte, nein, auch das oftmals großzügige Trinkgeld würden ihr bitter fehlen. Und ihre Eltern wollte sie nicht schon wieder um eine Finanzspritze anhauen…

  Zu spät??? Susannes innere Alarmglocke schrillte mit einem Mal laut. Oh nein, nicht schon wieder! Susanne sprang mit einem Satz aus der Wanne, rutschte aus und stieß heftig mit dem Schienbein gegen die Kloschüssel.

  „Au, verdammt!“ Fluchend begutachtete Susanne ihr malträtiertes Bein. Das würde ein dicker Bluterguss werden, soviel stand fest. Aber weder ein blauer Fleck, noch dieses Mistwetter draußen konnten sie davon abhalten, sich in das raffinierte schwarze Minikleid zu schwingen, das sie sich am Tage vorher schweren Herzens geleistet hatte. Fast ihr ganzes restliches Monatsbudget war dafür draufgegangen. Runtergesetzt! Himmel, sie brauchte so schnell wie möglich einen neuen Job. Morgen, gleich morgen würde sie sich auf die Socken machen. Jetzt hatte sie erst mal einen supertollen Abend mit Frank vor sich. Und egal, was noch schiefging – sie würde sich nicht die gute Laune verderben lassen! Von Nichts und Niemand! In Windeseile machte Susanne sich ausgehfertig und sprintete aus ihrer Wohnung in Richtung Aufzug, der ausnahmsweise diesmal direkt in ihrem Stockwerk auf sie wartete. Na bitte, das Blatt schien sich bereits zu wenden. Dass ihr neuer Wohnungsnachbar in diesem Augenblick in den Hausflur trat und ihr noch etwas hinterrief bekam Susanne in ihrer Eile gar nicht mehr mit.

  Draußen goss es in Strömen und Susannes Schirm kapitulierte schon nach wenigen Metern vor dem stürmischen Wind. Auch das noch! Voller Wut pfefferte sie das völlig verbogene Wrack in den nächsten Papierkorb. Positiv denken, hämmerte sie sich selber ein, während sie klatschnass in die U-Bahn-Station stürmte - gerade noch rechtzeitig um einen Blick auf die Rücklichter ihrer Linie erhaschen zu können. Oh, Scheiße! Was nun? Frank war nicht der Typ Mann, der lange wartete, dessen war sie sich sicher. Soweit sie wusste, war er von Hause aus ziemlich verwöhnt. Ein Taxi! War zwar eigentlich nicht mehr drin nach dem Kleid, aber hatte sie eine Wahl?  Nein! Also wieder hoch die Treppen und zwar zackig. Susanne stolperte, brach sich einen Absatz ab und schlug sich an der Kante der Betontreppe übel das Knie auf. Himmel noch mal! Mit Tränen in den Augen rappelte sie sich auf, ignorierte den Schmerz und stand kurz darauf wieder mitten im Wolkenbruch. Suchend schaute sie sich um. Und tatsächlich: Das Wunder geschah. Direkt neben ihr hielt ein vorbeifahrendes Taxi. Ein freies Taxi!

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  Eine halbe Stunde zu spät erreichte Susanne endlich ihr Ziel. Während der Fahrt hatte sie versucht, ihr lädiertes Äußeres wieder einigermaßen zu richten. Immerhin hatte Frank sie in ein Nobelrestaurant eingeladen und sie wollte ihn und sich schließlich nicht blamieren. Susanne ließ den Wagen an der Ecke halten, zahlte schweren Herzens die geforderte Zeche und verließ dann mit klopfendem Herzen den Wagen. Schon von weitem sah sie Frank vor dem Eingang warten – allerdings schien er nicht alleine zu sein. Diese aufgedonnerte Franziska aus ihrem Semester stand sehr vertraut und dicht neben ihm – zu dicht für Susannes Geschmack. Schließlich standen sie unter einer Markise und brauchten den Regen nicht zu fürchten. Was zum Teufel hatte denn das nun wieder zu bedeuten? Humpelnd huschte Susanne hinter eine Litfasssäule So fiel sie erst einmal nicht auf, war aber nahe genug dran, um jedes Wort der beiden verstehen zu können.

  „So `ne Pleite!“ Frank schien verärgert. „Die kommt bestimmt nicht mehr.“     

  „Na toll!“, giftete Franziska. „Und dafür bin ich bei dem Mistwetter raus? Was soll denn das? Du hast doch gesagt, dass sie uns helfen wird.“

  „Mensch Schatz, das wollte ich doch erstmal mit ihr klären. Sie weiß doch noch gar nicht, dass sie uns helfen soll. Außerdem…ich hab´ dir gesagt, dass ich es nicht sehr clever finde, dass du ...“

  Susanne hatte genug gehört. Sie konnte es nicht fassen. Das war also der wahre Grund für Franks Einladung gewesen. Und sie dumme Kuh hatte tatsächlich geglaubt ... Gott, sie war aber auch wirklich zu naiv! Nichts wie weg hier! Langsam und mechanisch – fast wie ein Roboter – drehte Susanne sich um und setzte tränenblind einen Fuß vor den anderen. Hinkend und zutiefst frustriert machte sie sich zu Fuß auf den Rückweg nach Hause. Den beißenden Wind und die Regentropfen, die sie wie Nadelspitzen unaufhörlich  traktierten, spürte sie kaum mehr.

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  Schniefend suchte sie eine Stunde später vor ihrer Wohnungstür verzweifelt nach ihrem Wohnungsschlüssel. Bitte nicht, flehte sie innerlich, während sie mit klammen Fingern in ihrer Handtasche rumwühlte. Es reicht! Ich kann nicht mehr!

  „Was ist denn mit Ihnen passiert?“ Die Tür zur Nachbarwohnung hatte sich geöffnet und der neue Nachbar starrte Susanne entsetzt an. „Du meine Güte – kommen Sie erstmal mit rüber.“

  Ihr Nachbar kam auf sie zu, packte sie sachte am Arm und Susanne ließ sich widerstandslos in die Wohnung des Fremden führen und dort auf einen Stuhl verfrachten. Im Augenblick war ihr tatsächlich alles egal.

  „Lassen Sie mal sehen.“ Der junge Mann mit der dunklen, beruhigenden Stimme kniete sich vor sie hin und tastete wie selbstverständlich an ihrem Knie herum. „Keine Angst“, verkündete er dann und blickte Susanne aus warmen braunen Augen freundlich an. „Das haben wir gleich. – Hören Sie, ist sonst alles in Ordnung mit Ihnen?“ Seine Stimme klang ehrlich besorgt. „Sie sehen furchtbar aus. – Entschuldigung, aber ich meinte nur…hat man Sie vielleicht ...“ Er hielt inne und ruderte ein wenig hilflos mit den Händen in der Luft herum. „Sie wissen schon…“

  „Nein, nein, schon okay, es geht mir gut. Ich bin nur ...“ Susanne stockte. „ ...etwas nassgeworden“, schloss sie dann lahm. Ihr Kummer ging den Mann schließlich nichts an. Sie riss sich zusammen. „Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Susanne Thaler“, stellte sie sich vor.          

  „Ich weiß“, lautete die schlichte Antwort. „Steht an Ihrer Tür. – Ich bin Jan. Jan Berger. Übrigens: Ich habe etwas für Sie.“ Er ließ Susannes Schlüsselbund vor ihren Augen schaukeln. „Den haben Sie vorhin aus ihrer Manteltasche verloren. Ich wollte Sie noch aufhalten, aber Sie hatte es anscheinend sehr eilig. Als ich den Schlüssel an mich nehmen wollte, hörte ich dieses merkwürdige Geräusch aus Ihrer Wohnung. Na ja, langer Rede kurzer Sinn, ich bin also rein und habe ...“

  „Was? Sie waren in meiner Wohnung?!“ Susanne war entsetzt. „Was fällt Ihnen ein?“

  „Nur ganz kurz. Ehrenwort.“ Jan kreuzte zwei Finger und grinste breit, was zur Folge hatte, dass sich auf seiner linken Wange ein niedliches Grübchen zeigte. „Ich hab´ nur das Wasser abgedreht und ein wenig den Boden gewischt – das war´s auch schon, ehrlich.“

  „Oh mein Gott! Das Badewasser!“ Susanne fielen alle Sünden ein. „Das darf doch alles nicht wahr sein.“ Verzweifelt vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und presste undeutlich ein „Danke“ zwischen den Fingern hervor.

  „Hey, schon gut, ist doch nichts weiter passiert.“ Jan grinste immer noch und strich sich eine widerspenstige dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. „Buchen Sie es einfach unter Nachbarschaftshilfe. Alles okay?“

  „Ja, schon, aber ich ... ich weiß gar nicht, wie ich ... Oh Mann, Sie müssen mich ja echt für total bescheuert halten“, brach es da plötzlich aus Susanne heraus.

  Jan´s Grinsen machte einem amüsierten Schmunzeln Platz. „Oh, nein, so schlimm ist es nicht. Im Grunde bin ich sogar ganz froh über Ihr kleines Missgeschick.“

  „Wie bitte?“ Susanne guckte perplex hoch. „Was ist so toll daran, wenn anderer Leute Badewannen überlaufen?“

  „Na ja, auf die Art und Weise lernen wir uns endlich mal persönlich kennen. Schließlich sind wir seit fast 2 Monaten Nachbarn – und Nachbarn sollten doch ein freundschaftliches Verhältnis pflegen. Aber Sie…Sie sind irgendwie immer in Eile. Jetzt scheinen Sie aber Zeit zu haben. Das will ich ausnutzen. Was halten Sie also davon, wenn wir etwas essen gehen? Dabei könnten wir das Ganze noch ein wenig vertiefen. Das nachbarschaftliche Verhältnis meine ich.“

  „Essen?“

  „Ja, essen – oder essen Sie etwa nicht?“ Jan lächelte. „Kommen Sie, geben Sie sich `nen Ruck und sagen Sie ja. Sie sind mir was schuldig“, erinnerte er dann verschmitzt. „In einem Märchen hätte ich jetzt sogar 3 Wünsche frei. Da ist ein Essen nicht zuviel verlangt, oder?“

  Susanne zögerte nur kurz. Dieser Jan wirkte sympathisch, sah gut aus und schien obendrein aufrichtig zu sein. Außerdem hatte er wirklich wunderschöne braune Augen, die sie im Moment fragend musterten und sie damit sogar etwas aus der Fassung brachten. Kaum zu glauben, nachdem was sie heute alles erlebt hatte.

  „Was ist nun?“

  „Holen Sie mich in einer Stunde ab, okay? Ich muss mich erst trockenlegen. Ist das in Ordnung?“

  „Sicher“, antwortete Jan schlicht. „Ich werde da sein. Bis gleich dann.“

  Er stand auf und reichte Susanne eine Hand. Ein Angebot, dass diese jedoch ausschlug. Sie nickte lediglich leicht verlegen, stand etwas mühsam auf und humpelte an Jan vorbei zur Tür. Bevor sie das Appartement verließ, fiel ihr allerdings noch etwas ein und mit einem kleinen Lächeln drehte sie sich noch einmal zu ihrem neuen Nachbarn um: „Aber vergessen Sie ja nicht ihren Schlüssel.“

Jan lachte und hob abwehrend beide Hände: „Ich doch nicht.“


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